Europa ist in einem Ausmaß verworren, das der Einzelne oft kaum durchblicken kann. Zwar wird in allen Ländern so getan, als sei Nation und Land, als sei Bürger und Nationalität eine geradezu heilige Einheit. Aber wer sich etwas mehr Mühe gibt, wird in der Geschichte vieler Familien kreuz und quer über den Kontinent Zusammenhänge finden, die genau diese Einheit in Frage stellen – und damit auch das, was wir so leichthin Identität nennen. Brygida Helbig, eine Polin aus Stettin, die schon lange in Berlin lebt, hat das anhand ihrer Familiengeschichte getan. „Kleine Himmel“ ist die literarische Verarbeitung dieser verwirrenden Familiengeschichte aus Mitteleuropa, die in Galizien, Polen, Deutschland, der Ukraine und Kasachstan spielt.
Schlagwort: Literatur
Zum 65. Geburtstag streunt Karl-Markus Gauß durch sein Zimmer
Karl-Markus Gauß wird heute 65 Jahre alt. Kurz zuvor ist sein neues Buch erschienen. In einem Alter, in dem die meisten Menschen zum Rentner werden, blickt auch er zurück. Aber er macht das nicht in einer autobiografischen Erzählung, in der aus Ereignissen die passende vergangene Zukunft konstruiert wird. Gauß schaut sich vielmehr in seiner Wohnung um und destilliert aus Gegenständen eine Vergangenheit, die ihn selbst und seine Familie vor allem in einen europäischen Kontext stellt. Was sich jetzt vielleicht etwas konstruiert und anstrengend liest, ist aber ein fröhlicher Genuss. Denn Gauß entführt den Leser Seite um Seite in (Gedanken-) Welten, die anregend und vor allem den eigenen Blick erweiternd sind.
Der wunderbare Roman von Karen Duve über die junge Droste-Hülshoff
Die erste Liebe einer jungen Frau und die ersten Verletzungen durch Männer beschreibt Karen Duve in ihrem neuen Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“. Diese Nette ist die Schiftstellerin und Komponistin Annette von Droste Hülshoff. Im 19. Jahrhundert schafft sie es, als erste Frau in Deutschland als Autorin anerkannt zu werden. Aber der Weg dahin war schwer.
Hans Joachim Schädlich folgt Felix und Felka Nussbaum durchs Exil
In den Nachrichten berichten sie von Schiffen voller Flüchtlingen, denen die Einfahrt in italienische Häfen verweigert wird. In der Hand liegt ein Buch, das davon erzählt, was Menschen passiert, die trotz Flucht und Exil statt in einem sicheren Hafen in einem Zug nach Auschwitz landen. „Felix und Felka“ von Hans Joachim Schädlich komprimiert die Fluchtgeschichte von Felix Nussbaum und seiner Frau Felka Platek. Die 192 Seiten machen traurig. Und nach dem Lesen bin ich fassungslos, weil in den Nachrichten gesagt wird, dass im vergangenen Monat 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind.
David Schalko zeigt Österreich in den Verstrickungen des 20. Jahrhunderts
Er heißt nur der Krutzler. Niemand spricht anders von dem Mann, der die Wiener Unterwelt zusammen mit seinen Freunden in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg beherrscht. Der Krutzler ist der, um den sich alles dreht. Er selbst hat so schwere Knochen, dass Leichtigkeit gar nicht zu ihm passt. Deshalb ist er auch im Zentrum – und seine Freunde, seine Geschäfte, seine Opfer drehen sich alle um ihn. Der Krutzler hat zwar Menschen auf dem Gewissen, aber vom Mordvorwurf wird er immer frei gesprochen. Denn er handelt nur aus Notwehr – selbst wenn die Notwehr gar keine ist.
Burkhard Müller und Thomas Steinfeld entdecken Deutschlands erstaunliche Grenzen
Burkhard Müller kommt aus Unterfranken. Er ist in einer Region aufgewachsen, in der es bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mehr Grenzen gab, als wahrscheinlich im gesamten heutigen Deutschland zusammen. Reichsunmittelbare Ritterschaften, freie Reichsstädte, Kloster-Besitz, das Bistum Würzburg, das Bistum Fulda und so weiter. Sein Kollege Thomas Steinfeld ist im Teutoburger Wald groß geworden, in Sennestadt. In dieser Stadt-Neugründung sollte eine ideale moderne Stadt realisiert werden. Deshalb war er schon früh mit der Grenze zwischen neu und alt, Alteingesessenen in den Nachbarkommunen und Vertriebenen in der Neugründung in Kontakt. Jetzt haben beide zusammen ein Buch geschrieben, in dem sie die deutschen Grenzen erkunden.
„Das Blaue Buch“ von Erich Kästner dokumentiert das Dasein im Dritten Reich
Im Mai 1933 hat Erich Kästner verfolgt, wie Nationalsozialisten seine Bücher verbrannten. Die meisten anderen verbrannten Autoren waren da schon geflohen. Auch ihm wurde geraten Deutschland zu verlassen. Aber Erich Kästner blieb. Trotz Veröffentlichungsverbot, trotz der steten Gefahr verhaftet zu werden, ist er in Berlin geblieben. Er fasste den Vorsatz, den Roman über das Dritte Reich aus eigener Anschauung im Land Hitlers zu schreiben. Als Vorbereitung dafür führte er sein Tagebuch, das jetzt in Teilen als „Das Blaue Buch“ veröffentlicht wurde.
Julia Schoch analysiert Träume und Enttäuschungen der Wendegeneration
16 Schülerinnen und Schüler eines Potsdamer Elitegymnasiums erzählen uns zwischen 1989 und 1991, was sie erlebt haben, was sie träumen, auf wen sie neidisch sind und in wen sie sich verlieben. Es sind nie mehr als vier Seiten, auf denen uns die vielen Ich-Erzähler einen Einblick in ihre Gefühls- und Lebenslage gewähren. Anfangs spielen die Zwänge der SED noch eine Rolle. Dann zerfallen diese und unterschiedliche Schulleiter kommen und gehen. Aber trotz aller Veränderung durch den Fall der Mauer interessieren sich die pubertierenden Gymnasiasten vor allem für sich.
Manette Salomon – ein Künstlerroman der Brüder Goncourt
Der Preis Goncourt ist den meisten Literatur-Freunden bekannt. Die wichtigste Auszeichnung für französische Literatur ist ein Gradmesser für Trends und Qualität. In Deutschland sind die Namensgeber dieses Preises dagegen kaum noch bekannt. Andere französische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts haben sie hierzulande verdrängt. Dass es sich dennoch lohnt, Romane der Brüder Edmond und Jules de Goncourt zu lesen, beweist die Andere Bibliothek mit „Manette Salomon“.
Angelika Klüssendorf beendet mit „Jahre später“ die Trilogie über April
Die literarische Aufarbeitung ihres Lebens geht weiter. Mit „Jahre später“ nimmt Angelika Klüssendorf die Schilderung der Lebensgeschichte Aprils wieder auf. Nach Kindheit, Jugend und dem Erwachsen-Werden ist jetzt das Leben als Frau, Mutter und Ehefrau im Blick. Wie schon in „Das Mädchen“ und dem namensgebenden zweiten Roman „April“ geht es um die Schwierigkeiten dieser Frau, das Leben zu meistern und Halt zu finden. „Jahre später“ beendet eine Trilogie, in der Klüssendorf mit radikaler Reduktion der Worte die maximale Ausdruckskraft findet, um von seelischen Qualen zu erzählen.