Angelika Klüssendorf beendet mit „Jahre später“ die Trilogie über April

Angelika Klüssendorf: Angelika KlüssendorfDie literarische Aufarbeitung ihres Lebens geht weiter. Mit „Jahre später“ nimmt Angelika Klüssendorf die Schilderung der Lebensgeschichte Aprils wieder auf. Nach Kindheit, Jugend und dem Erwachsen-Werden ist jetzt das Leben als Frau, Mutter und Ehefrau im Blick. Wie schon in „Das Mädchen“ und dem namensgebenden zweiten Roman „April“ geht es um die Schwierigkeiten dieser Frau, das Leben zu meistern und Halt zu finden. „Jahre später“ beendet eine Trilogie, in der Klüssendorf mit radikaler Reduktion der Worte die maximale Ausdruckskraft findet, um von seelischen Qualen zu erzählen.

Frank Witzel phantastische Reise in den Kopf eines depressiven Teenagers

Frank Witzel: Die Erfindung der RAF...Der Roman ist 800 Seiten dick – und das auch noch in einer kleinen Schrift. Wer sich auf „Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ einlässt, muss also viel Zeit investieren. Da stellt sich schnell die Frage, ob sich das lohnt? Für all jene, die sich auf barocke Vielfalt bei Inhalt und Form einlassen können unbedingt. Und für all jene, denen Lesen mehr als ein netter Zeitvertreib ist, wird dieses Buch eine schier unglaubliche Fülle an Entdeckungen bereithalten.

Gabriele Riedle blickt in einem Tunnel auf eine depressive Generation

„In ihrer Nutzlosigkeit sind schließlich alle
Menschen wieder gleich. So wie sie es ganz
früher in ihrer Nacktheit waren, am
sechsten Tag der Schöpfung.“

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen
Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen

Von „Überflüssigen Menschen“ erzählt Gabriele Riedle in ihrem neuen Roman. Vor allem von Natalie, einer Übersetzerin aus dem Russischen, die sich einst von der schwäbischen Kleinstadt in die Großstadt Berlin aufmachte und jetzt ein Theaterstück von Tschechow für das Ulmer Theater neu in Deutsche bringen soll. Doch statt des neuen Textes entsteht ein innerer Monolog, der sich vor allem an die drei Schwestern des Stückes richtet. Und damit mehr als ein ganzes Jahrhundert Geschichte auf eine ganz spezielle Art in den Blick nimmt.

Dieser Blick ist ein Tunnelblick, den Natalie leidet an einer Erbkrankheit, die ihr das Augenlicht nimmt. Und sie leidet an einer Depression. Denn alles, was sie da aufschreibt ist eine hoffnungslose Gesamtschau auf die Menschheit, auf die eigene (Nachkriegs-) Generation und auf sie selbst. Unfähig zu arbeiten, unfähig zu genießen, unfähig Beziehungen einzugehen und zu leben, unfähig Freude aus dem Leben zu ziehen, igelt sich Natalie ein, denkt nur über den Mann, eine frühere Jugendliebe, der ihr den Übersetzungsauftrag erteilt hat, nach – ohne sich aufzuraffen ihr auch zu treffen. Und somit auch echt zu leben – und nicht nur in ihrem gedanklichen Tunnelblick.

Gabriele Riedle schildert eine Frau, die es geschafft hat, aus der Enge der schwäbischen Provinz, aus der Familie mit SA- und SS-Angehörigen auszubrechen. Natalie ist eines dieser Nachkriegskinder, denen es die Bildungsoffensive der SPD in den 70er-Jahren ermöglicht hat zu studieren und so die Welt für sich selbst zu erobern. Natalie studiert Russisch, sie sympathisiert mit der RAF, sie erliegt auf ihre Art der Faszination der Gewalt, die ihr Großvater in der SA und später auf seinem Marsch nach Moskau auslebte.

All das bündelt Riedle in knappe 34 Kapitel, die in einem Strudel aus Widerholungen von Gedanken, die allerdings immer wieder in neue Zusammenhänge gestellt werden, einen ganz eigenen Sprachrhythmus erzeugen. So werden ganz kleine, persönliche Erlebnisse in den großen Gesamtkontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts gestellt. Und auch in den unseres ersten Jahrzehnts. In dem in der Finanzkrise Banker aus Fenstern springen, weil sie überflüssig sind. So wie sich Natalie fühlt, die aber nicht springt, sondern sich in ihren Gedanken vergräbt.  Und den Leser so verwirrt, und dennoch fesselt.

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen. Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, 32 Euro.