Er heißt nur der Krutzler. Niemand spricht anders von dem Mann, der die Wiener Unterwelt zusammen mit seinen Freunden in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg beherrscht. Der Krutzler ist der, um den sich alles dreht. Er selbst hat so schwere Knochen, dass Leichtigkeit gar nicht zu ihm passt. Deshalb ist er auch im Zentrum – und seine Freunde, seine Geschäfte, seine Opfer drehen sich alle um ihn. Der Krutzler hat zwar Menschen auf dem Gewissen, aber vom Mordvorwurf wird er immer frei gesprochen. Denn er handelt nur aus Notwehr – selbst wenn die Notwehr gar keine ist.
David Schalko hat mit dem Krutzler und seinen Freunden eine Gruppe von Personen geschaffen, die es ihm erlauben, die Geschichte Österreichs nach dem 2. Weltkrieg aus einer sehr spannenden Perspektive zu erzählen. Der Krutzler und seine Freunde machen schon als Schüler mit Betrügereien auf sich aufmerksam. Sie sind gerissen und originell. Deshalb lässt sie die „Galerie“, also all jene älteren Kriminellen, die sich selbst nicht mehr die Finger schmutzig machen, auch gewähren. Als „Erdberger Spedition“ wollen sie die Kontrolle über die Stadt übernehmen. Das funktioniert auch ganz gut, bis zum 11. März 1938. Das ist der Tag, als die Nazis in Österreich einmarschieren und dafür von der großen Mehrheit gefeiert werden.
Der Krutzler wird denunziert, verhaftet und ins KZ nach Dachau gebracht. Nur einer der vier entgeht der Verhaftung. Als Krimineller hat der Krutzler eine andere Stellung im KZ. Er wird zum Kapo und sorgt für die Wachmannschaft für Ordnung im Lager. Auch nach der Verlegung ins heutige Polen kann er seine Stellung halten. Hier lernt er auch einen jüdischen und einen politischen KZ-Insassen kennen: Der erste ist nach dem Krieg in Wien ein wichtiger Helfer und Akteur. Der andere wird ein wichtiger Polizist. Da sie eine gemeinsame Geschichte haben, hält er die Hand überm Krutzler. Der sorgt im Gegenzug dafür, dass die Unterwelt in geordneten Bahnen arbeitet und der Polizei und der Bevölkerung nicht zu viel Arbeit beziehungsweise Unheil bereitet.
David Schalko ist als Drehbuchautor für großartige und bitterböse österreichische TV-Serien bekannt. Er hat einen Blick auf die Gesellschaft, der in Kleinigkeiten die Abgründe des Zwischenmenschlichen beleuchtet. Und das mit einem so treffenden und bösen Humor, wie es ihn nur in Wien gibt. In seinem Roman „Schwere Knochen“ blitzt das auch immer wieder auf. Aber das Buch ist noch gründlicher. Die Charaktere dürfen sich viel länger entwickeln. Das Ergebnis ist ein erschütternder, erschreckender, skurriler und humorvoller Roman, den ich nur empfehlen kann. Denn für Schalko sind sämtliche Bestandteile der Geschichte Österreichs zwischen 1930 und 1960 nicht nur Kulisse. Selbst in den schrecklichen Szenen im KZ trifft er einen Ton, der nichts ins Lächerliche zieht. Schalko gibt und lässt allen Figuren ihre Würde. Beim Lesen schnürt einem das manchmal fast die Kehle zu. Und ein andermal kann man beherzt lachen.
David Schalko: Schwere Knochen; Kiepenheuer & Witsch, 576 Seiten, 19.99 Euro.