Burkhard Müller kommt aus Unterfranken. Er ist in einer Region aufgewachsen, in der es bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mehr Grenzen gab, als wahrscheinlich im gesamten heutigen Deutschland zusammen. Reichsunmittelbare Ritterschaften, freie Reichsstädte, Kloster-Besitz, das Bistum Würzburg, das Bistum Fulda und so weiter. Sein Kollege Thomas Steinfeld ist im Teutoburger Wald groß geworden, in Sennestadt. In dieser Stadt-Neugründung sollte eine ideale moderne Stadt realisiert werden. Deshalb war er schon früh mit der Grenze zwischen neu und alt, Alteingesessenen in den Nachbarkommunen und Vertriebenen in der Neugründung in Kontakt. Jetzt haben beide zusammen ein Buch geschrieben, in dem sie die deutschen Grenzen erkunden.
Dabei handelt es sich nicht nur um die derzeitigen Staatsgrenzen. Sie besuchten die Grenzen, die Deutschland heute noch prägen. Da sind die historischen wie der Limes oder die Marken, was ja nichts anderes heißt als Grenzländer. Die beiden untersuchen, was die Grenzen einst ausmachten und wie sie sich in Landschaften, Religionszugehörigkeiten oder kulturellen Prägungen noch heute niederschlagen. Müller erzählt die Geschichte vom kleinen evangelischen Ermershausen und dem größeren katholischen Marlodsweisach, die von der CSU-Staatsregierung zu einer gemeinsamen Gemeinde fusioniert werden sollten. Und er erfreut sich und die Leser daran, wie intelligenter Widerstand erfolgreich sein kann. Nämlich indem man geschlossen in die CSU eintritt und die Machtverhältnisse im Landkreis zum Beben bringt.
Ähnlich wie bei der Kreisgebietsreform in Bayern Anfang der 1970er-Jahre. Die Debatten von damals erinnern sehr an die in Brandenburg bis zum Abblasen des fragwürdigen Reformeifers durch eine demoralisierte SPD. Damals wie heute ging es auf der einen Seite um Identität und auf der anderen um die kalte Logik von Verwaltungsgrößen. Müller erzählt vom Widerstand des Altlandkreises Lohr am Main. Erst als es neues, neutrales Kennzeichen gab, legte sich die verhaltene Rebellion. Woraus er schließt, dass bei der vierzehnten oder fünfzehnten Reform und dem Entstehen des Super-Kreises Riesengebirge-Harz-Ostsee alles glatt geht, wenn nur jeder weiterhin seinen Zwergenkreis als dem Kennzeichen behalten darf.
Zusammen haben die beiden auch die Grenzen besucht, die in der ersten Strophe des „Liedes der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben besungen wurden. Sie erkunden die Sprach- und Kulturgenzen an der Etsch in Südtirol, die Bedeutung der Maas als Grenzfluss und Ort der Schlachten des 1. Weltkrieges, den Belt als Symbol der deutschen und dänischen Grenzverschiebungen und -streitigkeiten sowie zu guter Letzt die Memel. Wo heute Litauen, Polen und Russland aneinandergrenzen war einst Ostpreußen, der östlichste Bastion Preußens und Deutschlands. Noch immer bestimmt vor allem Landschaft die Region.
Müller und Steinfeld erzählen von Geschichte und Identität, von Sprache und Heimat. Sie überzeugen mit ihrer erstaunlichen Beobachtungsgabe, mit viel Humor und ganz viel stilistischer Meisterschaft. „Deutsche Grenzen“ ist genau der richtige Debattenbeitrag in dieser aufgewühlten Zeit, in der eine in Bundestag sitzende Partei Blödsinn als Deutschsein verkauft, weil sie von Geschichte und von Menschlichkeit keinen Schimmer hat.
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