Emilia Smechowski entdeckt den Strebermigranten in sich

Gnadenlos offen ist Emilia Smechowski in ihrem Buch „Wir Strebermigranten“. Sie erzählt ihre eigene Geschichte ohne sich und vor allem ihre Eltern zu schonen. Denn bei der Beantwortung der Frage, warum ausgerechnet die Polen in Deutschland Streber in der Anpassung sind, spürt sie der Motivlage ihrer Eltern nach.

Die Polen haben sich so angepasst, dass sie kaum oder gar nicht auffallen. Deshalb wissen viele Deutsche nicht, dass die zweitgrößte Gruppe der Einwanderer nach Deutschland Polen sind. Millionen von ihnen leben in Deutschland. Ohne sie würden viele Krankenhäuser nicht mehr funktionieren. Aber dennoch sind sie meist nicht sichtbar. Polen sind die zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland. Aber sie haben sich so angepasst, dass sie nicht auffallen.

Karl Schlögel zieht Lektionen aus dem Ukraine-Krieg

Karl Schlögel: Entscheidung in KiewDer Krieg Russlands in der Ukraine hat Europa viel nachhaltiger verändert, als es den meisten politischen Beobachtern und der Öffentlichkeit bewusst ist. Davon ist Karl Schlögel überzeugt. Der Osteuropa-Historiker, der bis zu seiner Emeritierung an der Viadrina in Frankfurt (Oder) lehrte, hat in seinem neuen Buch nicht nur eine Einordnung der russischen Aggression vorgelegt, sondern auch eine persönliche Überprüfung des eigenen Denkens über die ukrainische Geschichte. Dazu hat er sich vor allem seiner wichtigsten Methode bedient, der Städteporträts, bei denen er die historischen Schichten der Stadtgeschichte freilegt.

Doch die ersten knapp 100 Seiten seiner „ukrainischen Lektionen“ – so der Untertitel des Buches – sind ein Essay, in dem er fragt, warum die Ukraine nach wie vor nicht als selbständiges Subjekt im Westen wahrgenommen wird. Schlögel schildert, wie auch er Kiew und die anderen Städte der Ukraine immer aus der Sicht des russischen, beziehungsweise sowjetischen Imperiums wahrgenommen hat. Als Orte in der Peripherie wurden sie immer auf Moskau und das Reich bezogen. Ihre Eigenständigkeit ist dabei vergessen worden. Und doch ist die Ukraine ein Land mit einer lange historischen Tradition, mit einer Sprache, die kein russischer Bauerndialekt ist, sondern eigenständig ist. Wer das vergisst und immer nur den Blickwinkel der imperialistischen Herrscher in Moskau einnimmt, denkt die Ukraine zwangsläufig als Teil Russlands – und wird damit einem der größten europäischen Länder nicht gerecht.

Ein weiteres Problem ist nach Schlögels Sicht die Gleichsetzung von Russland und der Sowjetunion, wenn es um den 2. Weltkrieg geht. Schlögel wählt deshalb des Begriff „Sowjetmensch“, wenn er von den Opfern in generalisierter Form spricht. Denn die deutsche Wehrmacht und die SS haben auf dem Gebiet der Sowjetunion vor allem in Weißrussland und der Ukraine ihren brutalen Krieg geführt. Millionen sowjetischer Zwangsarbeiter waren Ukrainer – mehr als Russen. Und bei Rückzug fielen der „verbrannten Erde“ tausende ukrainische Dörfer und Städte zum Opfer. Schlögel wirbt dafür, sich das bewusst zu machen, um die Ukrainer besser verstehen zu können.

In seinen Städteporträts der wichtigsten ukrainischen Städte legt er die historischen Schichten frei, die in ihn zu entdecken sind. Und dabei ist er wiederum sehr genau in den Benennungen. Sowjetische, russische, ukrainische Einflüsse werden als solche benannt, genauso wie jüdische, griechische, polnische oder deutsche. Wer sich mit Schlögel auf den geistigen Stadtrundgang durch Kiew macht, erlebt die enorme Vielfalt der Stadt, sieht die Narben, die deutsche und  sowjetische Diktatoren und ihre Schergen hinterlassen haben, lernt wo welcher Opfer gedacht wird – und wie enorm der Blutzoll im Krieg war – und in der Ära Stalins. Schlögel zeigt aber auch die Schönheit und die positiven Hinterlassenschaften. Er enthält sich eines Urteils. Und wird den Städten so gerecht.

Das gilt auch und gerade für Donezk, der inzwischen teilweise zerstörten Stadt des angeblichen Bürgerkriegs, der de facto das Ergebnis russischer Aggression mit russischen Soldaten und russischen Waffen ist. Schlögel war erst in diesem Jahr wieder in der Stadt. Er erzählt von den Menschen, die geflohen sind, von ganzen universitären Lehrkörpern, die ihre Tätigkeit in andere ukrainische Städte verlegt haben. Gerade am Beispiel Donezk macht er deutlich, wie nachhaltig die Veränderungen durch die russische Aggression für ganz Europa sind.

„Nullnummer“ von Umberto Eco ist ein Ärgernis

Umberto Eco: NullnummerBislang habe ich mich auf jeden Roman von Umberto Eco gefreut. Als ich von „Nullnummer“ hörte, war ich neugierig und voller erfreuter Anspannung. Aber jetzt, nachdem ich den Roman gelesen habe, bin ich richtig enttäuscht. Zum einen ist das Buch mit seinem Plot nicht wirklich gut. Vor allem aber ist die Botschaft des Textes ein echtes Ärgernis. Umberto Eco liefert eine Anleitung, mit der alle Pegidisten und sonstigen Demokratiefeinde ihre „Lügenpresse“-Rufe begründen können. Denn im Kern sind Zeitungen ein Mittel, um mit Lügen politische, ökonomische oder kulturelle Akteure erpressen zu können. Wahrheit oder kritischer Dialog in einer pluralistischen Öffentlichkeit spielen dabei keine Rolle.

Umberto Eco erzählt die Geschichte einer Zeitungsredaktion, die ein Jahr Zeit hat, um an Nullnummern zu arbeiten. Diese will der Eigentümer verwenden, um auf Verantwortliche in Politik und Verwaltung Druck aufzubauen. Denen will er mit den Nullnummern zeigen, was er bewirken könnte, wenn er eine Zeitung hätte. Und deshalb ist die Zeitung darauf aus, mehr zu erzählen, als in den Abendnachrichten schon bekannt war. Das lässt sich mit Nullnummern natürlich gut machen. Vor allem, wenn diese nicht aktuell produziert werden, sondern nachträglich. Aber die Methoden dafür sind dennoch nicht redlich. Ziel des Chefredakteurs ist es, Menschen bloß zu stellen und das Vertrauen in sie zu erschüttern. Mit den Mitteln des Boulevards ist das kein Problem. Das alles wäre als Plot ganz nett, wenn nicht der Eindruck erweckt würde, letztendlich arbeiten alle Zeitungen so. Ganz so, wie es sich die rechten Demokratiefeinde mit ihren Rufen von der „Lügenpresse“ zu meinen glauben.

Die zweite Geschichte, die Umberto Eco erzählt, ist die des Fortlebens faschistischer Strukturen in Italien nach dem 2. Weltkrieg. Es geht dabei um die Loge P2 und die Geheimdienstaktionen von Gladio. Eco behandelt die Frage, ob Mussolini doch überlebt hat und mit Hilfe der Kirche nach Argentinien entkommen konnte. Das alles ist nichts Neues. Alles hat er schon in seinen Kolumnen behandelt. Und andere italienische Schriftsteller haben den Stoff der Nachkriegs-Verstrickungen auch schon behandelt. Insofern findet sich in „Nullnummer“ auch nicht Überraschendes.

Vielleicht mag all das für den heimischen, italienischen Lesemarkt von Interesse sein. Da verfangen auch die Analogien zum Presseimperium Silvio Berlusconis. Aber – und das ist wirklich ärgerlich – Umberto Eco entwirft ein ganz und gar miserables Bild von Medien, Gesellschaft und Politik. Nur im privaten Glück zweier am Projekt Nullnummer beteiligten Journalisten scheint etwas Positives auf. Zweisamkeit also als Ausflucht aus einer vollständig korrumpierten Welt, in der es nicht den Hauch einer funktionierenden Presse, eines gesellschaftlich sinnvollen politischen Engagements gibt. Das ist allerdings arg wenig. Die recht logische Konstruktion des Buches, in dem mit Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünften gespielt wird, wiegt das Ärgernis über Second-Hand-Verarbeitung des Nachkriegsstoffes und die grundsätzlich fatalistische Gesamtaussage nicht auf – auch wenn Burkhart Kroeber einen guten deutschen Text erzeugt hat.

 

Norbert Gstrein sucht den Anfang des Gerüchts

Norbert Gstrein: Eine Ahnung vom AnfangAm Anfang ist nur ein Gerücht. Und doch kann dieses Gerücht das ganze Leben des Lehrers, aus dessen Perspektive Norbert Gstreins „Eine Ahnung vom Anfang“ geschrieben ist, in Frage stellen. Tatsächlich wird auf dem Bahnhof der österreichischen Provinzstadt eine Bombe gefunden. Aber wer sie deponiert hat, ist keinesfalls bekannt. Nur Erinnerungen an einen ehemaligen Schüler, der anders war als die anderen Schüler. Genau deshalb trauen ihm viele im Ort die Tat – die letztlich nicht ausgeführt wird – zu.

Olga Grjasnowa ist vom eigenen Stoff überwältigt

Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer EheSchreiben kann sie. Ideen hat sie. Geschichten, die erzählt werden wollen, hat sie ebenfalls. Und doch ist der zweite Roman von Olga Grjasnowa nicht wirklich überzeugend. Zu konstruiert wirkt die Geschichte. Und zu ambitioniert.

Robert Seethaler fasziniert ein ganzes Leben

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben

Seine ersten beiden Bücher überraschten mit einem wunderbaren absurden Humor. In seinem dritten, „Der Trafikant„, macht sich Robert Seethaler erneut auf die Suche nach den Verwirrungen des Erwachsenwerdens. Diesmal aber im historischen Wien kurz vor und nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich. Und jetzt in seinem aktuellen Roman „Ein ganzes Leben“ begleitet Seethaler tatsächlich ein ganzes Leben, das Leben des Seilbahnarbeiters Andreas Egger. und so, wie sein Schreiben schon im vorherigen Buch erwachsener, reifer wurde, so ist es jetzt noch überzeugender und ganzheitlicher.

Ilija Trojanow erzählt von der Gegend, in der Orpheus begraben liegt

Ilija Trojanow: Wo Orpheus begraben liegt
Ilija Trojanow: Wo Orpheus begraben liegt

Wenn bei „Quizduell“ oder Günther Jauch nach dem Rhodopengebirge gefragt würde, dann müssten wir fast alle passen. Wer kennt diese Landschaft Europas schon? Und wer hat sie schon besucht? Obwohl das Gebirge nicht weit weg vom nördlichen Rand der Ägäis liegt, kommt dort kaum einer hin. Es liegt in Bulgarien – und damit trotz EU-Mitgliedschaft vollständig außerhalb der Welt Europas.

Alex Capus reist durch die Geisterstädte des Wilden Westens

Alex Capus: Skidoo - Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens
Alex Capus: Skidoo – Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens

Alex Capus schreibt ja immer auf der Grenze von Realität und Fiktion. Wobei die Realität bei ihm immer die Überhand behält. In dem schmalen Band „Skidoo – Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens“ dominiert die Wirklichkeit ganz deutlich. Aber auch die kurzen Texte über teils verlassene, teils völlig untergegangene Städte in Nevada und anderen Bundesstaaten des Westens der USA changieren in einem (halb-)dokumentarischen Stil. Denn Alex Capus beschreibt tatsächlich, was er erlebt hat. Aber eben nicht nur das.

Alex Capus verbindet drei separate Leben zu einem seltsamen Roman

Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer
Alex Capus: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer

Drei Biografien bündelt Alex Capus in seinem neuesten Roman zusammen. Drei Leben, die es wirklich gab, die vom Autor aber in gewohnt eleganter Form verfremdet werden. Das wäre soweit ganz gut, wenn diese drei Leben auch etwas miteinander zu tun hätten. Haben sie aber nicht. Nur in einem einzigen Moment hätten sich die drei in Zürich treffen können. Oder eben auch nicht. Capus entscheidet sich dazu, dass sie sich nicht begegnen, dass es keinen Kontakt gibt – und die so unterschiedlichen Leben nur über die verflochtenen Erzählstränge zu einem Buch werden.

Orhan Pamuk erzählt von seinem Weg zum Romancier

Orhan Pamuk: Der naive und der sentimentalische Romancier
Orhan Pamuk: Der naive und der sentimentalische Romancier

Es gibt kein Buch von Orhan Pamuk, das ohne autobiografische Motive auskäme. Aber neben „Istanbul“ ist dieses ganz besonders davon geprägt. Denn in seiner Poetik-Vorlesung an der Universität Harvard erzählt er davon, wie er die Welt mit den Romanen der Weltliteratur entdeckte. „Der naive und der sentimentalische Romancier“ ist der etwas sperrige Titel des Buches, das aus der Vorlesungsreihe entstanden ist. Er spielt auf einen Essai Friedrich Schillers an.

Orhan Pamuk schafft es in diesem Buch die Waage zwischen Theorie und den eigenen Lebens- und Leseerfahrungen zu halten. Dadurch erläutert es nicht nur seinen Weg, den er als Autor genommen hat, sondern er öffnet dem Leser auch die Augen für die Wirkungsweise von Literatur. Und die ist überraschend naiv. Denn Pamuk ist zutiefst davon überzeugt, dass gute Romane ein Abbild des Lebens liefern, ja einen tieferen Sinn der Zusammenhänge des Lebens darstellen. Nach Dekonstruktivismus und Postmoderne wirkt das zutiefst naiv. Für Orhan Pamuk wäre dies aber keine Kritik, die er ablehnen würde. Im Gegenteil, ganz im Sinne Schillers will er naiv sein, auch und gerade nach allen literarischen Experimenten, die er selbst in seinen 35 Jahren als Romancier zu Papier brachte.

Orhan Pamuks Stärke ist es, dass er trotz der Kenntnis aller Romantheorien vor allem die Lust am Lesen und am Schreiben in den Vordergrund stellt. Und so den Leser mitnimmt bei der Betrachtung der Möglichkeiten von Literatur. Dabei öffnet er uns die Augen. Und macht uns so Spaß darauf, beim Lesen noch genauer auf das zu achten, was das Gelesene mit uns macht. Irgendwie ist dieses Buch ein kleiner Roman über das Romanschreiben mit einem Ich-Erzähler, der weiß, was es heißt, zu schreiben, zu lesen, zu begeistern.