Brygida Helbig sucht ihre Heimat und entdeckt deutsch-polnische Schicksale

Europa ist in einem Ausmaß verworren, das der Einzelne oft kaum durchblicken kann. Zwar wird in allen Ländern so getan, als sei Nation und Land, als sei Bürger und Nationalität eine geradezu heilige Einheit. Aber wer sich etwas mehr Mühe gibt, wird in der Geschichte vieler Familien kreuz und quer über den Kontinent Zusammenhänge finden, die genau diese Einheit in Frage stellen – und damit auch das, was wir so leichthin Identität nennen. Brygida Helbig, eine Polin aus Stettin, die schon lange in Berlin lebt, hat das anhand ihrer Familiengeschichte getan. „Kleine Himmel“ ist die literarische Verarbeitung dieser verwirrenden Familiengeschichte aus Mitteleuropa, die in Galizien, Polen, Deutschland, der Ukraine und Kasachstan spielt.

Steinfels ist ein Dorf, das es nicht mehr gibt. Nur in Erinnerungen ist es bewahrt. Einst ließen sich dort deutsche Siedler aus der Pfalz nieder, wo schon Ukrainer, Juden und Polen im Nachbarort lebten. Weil es in den Karpaten Galiziens und nah an der Grenze lag, wechselte es mehrmals die Zugehörigkeit. Es gehörte mal zu Österreich, dann zu Polen, im Zweiten Weltkrieg als Teil der Grenzziehung im Hitler-Stalin-Pakt zur Sowjetunion, dann zum Deutschen Reich, dann wieder zur Sowjetunion und schließlich 1951 wieder zu Polen. Aber da war das Dorf schon ausgelöscht. Die deutschen Bewohner lebten da meist schon in der Bundesrepublik. Aber es gab auch Ausnahmen. Großvater Willy hatte sich in Waldek verwandelt und lebte als Pole in Stettin.

Brygida Helbig lässt die Erzählerin Zuzanna die Familiengeschichte erkunden. Zuzanna ist ein Alter Ego Helbigs. Die Erzählerinnenfigur erlaubt es der Autorin, Abstand aufzubauen zur eigenen Geschichte. Sie kann Zuzanna über die Familiengeschichte nachdenken lassen und schützt sich selbst dadurch, da sie die eigenen Verletzungen so nicht direkt. Aber dieses literarische Verfahren hat auch seine Nachteile. Weil ihr die Distanz wichtig ist, entsteht so manche Länge im Text, die ein härteres Lektorat hätte beseitigen können. Aber das ist im Verhältnis zum gesamten Text eine lässliche Sünde.

Viel wichtiger ist die ungeheuerliche Geschichte, die Helbig uns vorstellt. Der junge Hitlerjunge, der auf der Flucht bei Kriegsende von Großpolen in Richtung Westen seine Identität wechselt und Pole wird, der später polnischer Offizier und dann Städtebauer in Stettin ist, heiratet ein Polin, die selbst vertriebene war. Sie wurde von Stalins Sowjetunion als Teil der polnischen Minderheit nach Kasachstan deportiert, um dann in ein weit nach Westen verschobenes Polen zu kommen. Auch sie hat die alte Heimat verloren. Denn der Teil Polens, in dem sie aufwuchs, wurde Weißrußland als Teil der Sowjetunion zugeschlagen. Heimisch werden die beiden Vertriebenen dann in Stettin, das von der rein deutschen Bevölkerung gesäubert worden war. Das alles ist unglaublich. Dass Helbig das aufgeschrieben hat, ist eine verdienstvolle und trotz kleinerer Mängel literarische Leistung. Wer diesen Roman liest, dem wird immer wieder der Mund offen stehen angesichts der Geschichte Zentraleuropas und der Schicksale der Menschen.

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