Kerstin Schoor entdeckt deutsch-jüdische Literatur

In Bad Saarow (Oder-Spree) hat die Literaturwissenschaftlerin Kerstin Schoor neue Spuren entdeckt. Hier lebte ein jüdischer Autor während des Dritten Reiches. Das Haus, in dem Gustav Hochstetter wohnte, steht noch. Die Eigentümerin hat die Professorin der Viadrina in Frankfurt (Oder) darauf aufmerksam gemacht. Denn bei der Antrittsvorlesung von Kerstin Schoor war sie dabei.

Die Axel Springer-Stiftungsprofessur für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration hat Kerstin Schoor seit April inne. Ihr Schwerpunkt war bisher die Erforschung des literarischen Lebens von Juden in Berlin nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Mehr als 1000 deutsch-jüdische Autoren publizierten bis 1938 in Berlin, auch der Mann aus Radinkendorf. Diese erstaunliche – und selbst in der Fachwelt eher unbekannte – Geschichte recherchierte die Literaturwissenschaftlerin.

Im Antenne Gespräch spricht sie über die Schwierigkeit, Tagebücher von Menschen zu lesen, die später ermordet wurden. Sie erzählt von der Bereicherung ihres Lebens, wenn sie mit Überlebenden sprechen konnte. Und sie schildert, wie sie Brandenburg und Berlin sowohl literarisch als auch wissenschaftlich interessiert.

Der Link zum Antenne Gespräch als Audio…

Jonathan Littell erschüttert mit seinen Notizen aus Homs

Jonathan Littell: Notizen aus Homs
Jonathan Littell: Notizen aus Homs

Mitten in Homs genießt Jonathan Littell am 27. Januar einige Stunden Ruhe ohne Beschuss. Selbst ein Spaziergang war ihm und dem Fotografen Read möglich: „Das Licht verändert sich pausenlos, während die Wolken vorbeiziehen. In den Pfützen spiegeln sich der Himmel und die Fassaden der Häuser.“ Ein Moment der Idylle verschafft ihm und dem Leser Ruhe zum Durchatmen. Aber der Spaziergang öffnet auch den Blick für die Gewaltbereitschaft des Assad-Regimes in Syrien: „Durch die Treppenhausöffnungen sieht man die Zitadelle, ganz nah, keine 200 Meter entfernt.“ 200 Meter. Für die Scharfschützen der syrischen Armee ist das keine Entfernung. Und deshalb nehmen sie ständig dieses Viertel mit Rebellen in Homs unter Beschuss.

Jonathan Littell war vom 16. Januar bis zum 2. Februar in Homs. Während ich einem jungen Mann lauschte, der aus dem Tagebuch einer jungen Frau aus den 20er-Jahren vorlas, hielt er sich da auf, wo Menschen auf ein Leben ohne Diktatur hofften. Während ich wohlig in einem hippen Neuköllner Raum zusammen mit zwei Freundinnen anläßlich eines Geburtstages lauschte, wie eine junge Frau ihre erste Liebe in ihrem Tagebuch diskutierte, war Littell da, wo Frauen und Kinder, wo Männer, die sich gegen Assad auflehnen –  und mit dem Leben bezahlen. Während wir Geburtstag feierten, wurden in Homs von Heckenschützen ermordeten beedigt. Für sie gibt es keine Geburtstage mehr. Littell besuchte die Untergrund-Hospitale, diskutierte die vergebliche Hoffnung auf Hilfe aus dem Westen, ertrug den Anblick von toten Männern, die von der Armee des eigenen Landes hingeschlachtet wurden.

Diese Diskrepanz macht den ruhigen und sachlichen Text Littells immer wieder unerträglich. Und doch muss er gelesen werden. Littells Buch ist ein Dokument, das zeigt, wie wir alle in Syrien versagt haben. Littell war vor dem großen Bombenangriff Assads auf Homs in der Stadt. Viele seiner Gesprächspartner leben nicht mehr – sie sind einige Tage nach Littells Ausreise von Assads Armee ermordet worden. Und das nur, weil sie Freiheit wollten, weil sie nicht mehr einem Diktator dienen wollten. Zu diesem Zeitpunkt hatten Islamisten kaum Einfluss auf Littells Gesprächspartner. Aber je länger der Westen zuschaut, wie Tausende, Zehntausende Syrer sterben, umso leichter wird die tatkräftige Hilfe von radikalen Islamisten angenommen. Denn es geht um das Überleben. Und in dieser Situation ist die tatsächliche Hilfe wichtig –  und nicht absurde Beschwörungen eines Friedens mit dem Diktator, den es nicht geben kann.

Littells Buch „Notizen aus Homs“ ist ein erschütternd starkes Buch. Am 29. Januar, an meinem eigenen Geburtstag, hat Littell von einem ehemaligen Gefängnisarzt geschildert bekommen, wie Ärzte Folter dulden oder gar selbst foltern. Zur gleichen Zeit, als ich in der Märchenhütte in Berlin Mitte ein hinreißend lustiges Märchenthaeterstück sah, erlebte Littell, wie Opfer von Scharfschützen nur mit Mühe gerettet werden können – und ein anderer Mann an seinen Verletzungen stirbt. Und während ich mit meiner Familie beim Türken Köstlichkeiten aß, die Littell auch in Syrien bekam, wird ihm ein Handy gezeigt, das eine Projektil ablenkte. Dieses Handy hat einem Mann das Leben gerettet. Es hat die Kugel so abgelenkt und gebremst dass sie einige Zentimeter vor dem Herzen stoppte. An das Geburtstagsessen zu denken, während ich das Buch lese, ist irre. So wie diese Welt, in der wir immer viel zu wenig helfen, den Wahnsinn zu beenden.

Jonathan Litell: Notizen aus Homs, Hanser Berlin.

Erneut gelesen: Meine Nummer Eins – Teufelsreiter in Turkestan

Alim Hekmat: Teufelsreiter in Turkestan
Alim Hekmat: Teufelsreiter in Turkestan

Ein Zettel hinten im Buch verrät eine kleine Geschichte. Auf ihm steht der Titel „Teufelsreiter in Turkestan“ und eine Zahl, die Eins. Das sollte damals wohl der erste Versuch sein, meine Bücher zu katalogisieren. Viele können es noch nicht gewesen sein. Aber dass das Buch von Alim Hekmat die Nummer Eins trägt, ist berechtigt. Denn der Roman über einen jungen Stallburschen und ein rassiges Pferd ist auch heute noch spannend.

Es spielt im Norden Afghanistans. In Städten wie Kundus, Maza-i-Sharif und Baglan. Heute sind uns die bekannt. Die Bundeswehr ist dort stationiert, Anschläge werden verübt, Menschen sterben. Anders in diesem Buch, das ich mit zehn Jahren las – und jetzt als Vorleser wieder. Hier geht es um eine Freundschaft zwischen Uros, einem Waisenkind und Stallknecht und dem rassigen Hengst Rostam, der sich von seinem Herrn nicht reiten lässt, aber von Uros.

Alim Hekmat hat es wohl damals geschafft, in mir eine leichte Sehnsucht nach dem Orient zu entfachen. Seine Schilderung vom Leben, von den Sitten und dem Essen sind noch immer lesenswert. Das Jugendbuch hat sogar Fußnoten, um Begriffe und Bräuche zu erklären. Die Geschichte ist gut und packend erzählt. Selbst wenn man mit Pferden nichts am Hut hat, fasziniert die Freundschaft in dieser fremden Welt, die angesichts der Demütigungen und der später geglückten Versöhnung mit dem Herrn der Region alle Gefühle bedient, die Kinder durchleben, um erwachsen zu werden.

Eigene Kinderbücher wieder zu lesen, kam mir lange nicht in den Sinn. Die Nummer Eins hat sich gelohnt – und sie wird jetzt nicht mehr in eine Kellerkiste zurückgelegt. Nein, diese Nummer Eins bekommt einen schönen Platz zwischen all den anderen, die zu katalogisieren nie geklappt hat. Denn neue zu lesen war immer wichtiger, als gelesene zu erfassen.

Die Unsichtbare bekommt von Christoph Ransmayr eine Stimme

Christoph Ransmayr: Die Unsichtbare
Christoph Ransmayr: Die Unsichtbare

Sie ist unsichtbar. Sie war Bibliothekarin, verschwunden in Büchern. Jetzt ist sie Souffleuse in einem Theater. Ans Licht kommt sie nur selten. Und dann entlädt sich all die aufgestaute Wut, der Ärger, der sich im Dunkeln aufgestaut hat. In Christoph Ransmayrs „Die Unsichtbare“ bekommt sie eine Stimme, eine leise, eine laute, eine suchende und eine verfluchende – eine menschliche, sehr menschliche.

Ransmayrs Bühnenstück lebt vom Erleben dieser einen Frau, die von einem Beleuchter zum Theater gebracht wird. Er, der die Schauspieler leuchten lässt, bringt auch sie zum Strahlen. Seine Aufmerksamkeit weckt ihre Gefühle. Seine Wärme erfüllt sie. Sie beginnt ihn zu lieben – und folgt ihm ins Theater. Aber der Beleuchter ist kein steter Wärmespender, Ins-Licht-Rücker. Wechselhaft wie das Aufscheinen seines Verfolgers ist auch sein männliches Interesse an der Bibliothekarin, die jetzt in dunklen Kisten stockenden Schauspielern über die Klippen der Vergesslichkeit hinweghilft.

In drei Akten erzählt die Frau ihre Geschichte. Ihre Tirade ist eine Abrechnung mit dem Leben am Beispiel des Theaters. Ransmayr packt die Verzweiflung, das Böse, die verblassende Freude und die erloschene Liebe in sprachlich ungeheuer komprimierte Bilder aus dem Theaterleben. Die Prosa hat einen treibenden Rhythmus, fast so, als wäre der Text in Versen geschrieben. Das hat Kraft und liest sich in einem Aufzug. So sehr drückt und fesselt die Tirade der Unsichtbaren. Etwa wenn sie darüber philosophiert, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden:

„Ein Liebender, der verlassen wird, ist einsamer als der letzte Mensch, drängt doch alles in ihm dem Verlorenen nach und läßt ihn nicht los, reißt an ihm, raubt ihm den Schlaf, alle Lebenslust. Selbst ein Schiffbrüchiger auf seinem Floß und noch der einzige Überlebende in der Wüste weiß wenigstens, worum er kämpft und worauf er hofft; auf einen Weg zu den Menschen. Aber den Verlassenen schlägt nur die Gewißheit, daß ihn auch am Ende eines Wegs durch die Wüste nichts mehr erwartet als die Einsamkeit. Umdrängt von Menschen und dennoch allein.“

Mehr über Christoph Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Wolfsjäger 
Atlas eines ängstlichen Mannes

Richard Swartz seziert Notlügen für die Untreue

Richard Swartz: Notlügen
Richard Swartz: Notlügen

„Notlügen“ kennen wir alle. So heilig, so moralisch aseptisch kann kein Mensch sein, um nicht auch mal auf eine Notlüge zurückgreifen zu müssen – oder besser zu wollen? Richard Swartz hat in seinem aktuellen Buch aber keine kleinen Notlügen seziert, sondern die großen, die die Voraussetzung zum Fremdgehen sind.

Seine sechs Erzählungen sind eine Steigerung des Lügens. Geht es in der ersten Geschichte um einen Mann, der einen Fehltritt macht, so geht es in der letzten, um einen Ehemann, der ein Verhältnis mit einer anderen Ehefrau so weit treibt, dass er mit ihr in Anwesenheit der Partner im gleichen Opernhaus in einer Loge während der Aufführung mit ihr schläft. Der Kick wird immer größer, die Maßlosigkeit des eigenen Wollens immer drängender – und damit die Verletzung der Partnerin.

Swartz erzählt das ohne jede moralische Empörung. Er schildert, was das Fremdgehen, das Hintergehen mit den Männern macht. Er verurteilt das Verhalten auch nicht. Sein distanziertes Schreiben – er verwendet keine Namen, sondern spricht immer nur von „Mann“ und „Frau“ – ist gerade deshalb emotional packend. Das Archetypische, das Nachvollziehbare löst gerade die Verwirrung und das Ertapptfühlen beim Lesen aus. Die Distanz schafft die emotionale Nähe. Und die Sprache, die auf jedes überflüssige Wort verzichtet. Wie bei einer guten Notlüge. Die funktioniert ja auch nur, wenn sie sich nicht in zu vielen Worten verstricken kann.

Ransmayr und Pollack intonieren drei polnische Duette

Christoph Ransmayr / Martin Pollack: Der Wolfsjäger
Christoph Ransmayr / Martin Pollack: Der Wolfsjäger

Christoph Ransmayr probiert die Möglichkeiten der Literatur aus. Neben seinen großen Romanen wie „Die letzte Welt“ schreibt er auch die kleinen Formen als lose Folge unter dem Titel „Spielformen des Erzählens“. „Die Unsichtbare“ ist ein Theaterstück, „Die dritte Luft“ eine Rede oder „Damen &  Herren unter Wasser“ eine Bildergeschichte. Zusammen mit Martin Pollack hat er „Die Wolfsjäger“ geschrieben.

„Drei polnische Duette“ hat der schmale Band als Untertitel. Das ist irreführend, denn es handelt sich bei den drei Texten nicht um Gedichte. Vielmehr haben die beiden drei Erzählungen zusammen geschrieben. Ort der Handlungen ist die polnische Grenzregion zur Ukraine und zur Slowakei. Ein Landstrich, in dem der zweite Weltkrieg länger dauerte als anderswo. Hier kämpfte eine ukrainische Untergrundarmee noch einige Jahre gegen die Grenzverschiebungen und den Stalinismus.

Nachdem die Nazis schon ganze Dörfer ausgerottet hatten, kam es so zu einer weiteren Welle der Gewalt, der Vertreibung und der Auslöschung ganzer Dörfer. Martin Pollack hat die Gegend in seinem Buch „Warum wurden die Stanislaws erschossen“ beschrieben. Mit Christoph Ransmayr war er später dann auf Wanderschaft in den polnischen Karparten. Der war neugierig auf diese so nahe, mitteleuropäische Region, die uns doch weiter weg erscheint als die Türkei oder die Tauchreviere im Roten Meer.

Entstanden sind drei dichte Texte darüber, wie die Wunden der Vergangenheit nur oberflächlich heilen. Texte, in denen die Natur genauso wie die Geschichte dominanter ins Leben des Einzelnen eingreifen als die Moderne. Es entstehen Szenen, die an die mythologische Dimension von „Die letzte Welt“ und an die kompakten Reportagen Pollacks erinnern, ja aus einem Geflecht dieser Komponenten einen Text weben, in dem beide Stimmen ihre Solo-Kraft verlieren, um wahrlich ein großes Duett zu erzeugen.

Mehr von Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Unsichtbare
Atlas eines ängstlichen Mannes

Der Nachlass von W.G. Sebald entführt auf den Campo Santo in Korsika

W.G. Sebald: Campo Santo
W.G. Sebald: Campo Santo

W.G. Sebalds (1944 – 2001) letztes Buch handelt von einem Besuch auf Korsika. Er beobachtet die Totenverehrung der Korsen, den Napoleon-Kult in Ajacco und die ökologischen Veränderungen durch die Rodungen des Hochwalds. Vier Kapitel dieses Buches sind in „Campo Santo“ abgedruckt. Mehr konnten es leider nicht werden. Denn mitten in der Arbeit an diesem Buch ist W.G. Sebald 2001 bei einem Autounfall gestorben.

Zwei Jahre später hat der Fischer-Verlag diese vier Kapitel veröffentlicht. Sie sind nach wie vor wunderbar. Sie sind für alle, die noch nichts von ihm gelesen haben, ein guter Einstieg. Denn die Vermischung persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse in der Vergangenheit mit Beobachtungen in der Gegenwart ist schon außerordentlich. Aber wenn Sebald daraus auch noch ein enges Geflecht von Bezügen baut, in der nicht mehr klar ist, was Literatur, was Wahrheit ist, aber der Leser immer berührt wird, immer stärker in den Bann einer Wirklichkeit gezogen wird, die ihre eigene Realität erzeugt, aus der man sich nicht zurückziehen kann, dann ist das in dieser Art nach wie vor einmalig.

Leider sind die vier Kapitel nur ein Fragment. Sebalds Tod hat verhindert, dass all dies in einem Roman zur Vollendung gebracht werden konnte. Und der Verlag hat dann nicht den Mut gehabt, dieses Fragment für sich stehen zu lassen. Deshalb wurde das Buch mit Essay und Rezensionen ergänzt, die sich mit Literaturwissenschaft von Kafka bis Weiss befassen.  Das iat auch alles lesenswert. Aber nicht im Kontext mit den Kapiteln über Korsika. Die aber sollte jeder mal in die Hand nehmen – und danach die Romane!

Jonas Jonassons Schelmenroman unterhält mit viel Witz

Jonas Jonasson: Der Hundertjhrige der aus dem Fenster stieg und verschwand
Jonas Jonasson: Der Hundertjhrige der aus dem Fenster stieg und verschwand

So ein Leben, auf das dieser Allen Karlsson zurückblicken kann. Er hat Franco das Leben gerettet, mit Truman Tequila gesoffen, Stalin verärgert, Nordkoreas Kim getroffen, von Mao eine kräftige Apanage kassiert und mit Churchill Auto gefahren. Ach ja: Allen Karlsson hat den Amerikanern und den Russen den Schlüssel zum Bau der Atombombe geliefert.

Das ist alles unglaublich. Aber damit nicht genug: Karlsson flieht an seinem 100. Geburtstag aus dem Altenheim und legt sich mit Drogenganoven an. Dabei lernt er neue Freunde kennen, mit denen er die Beute fröhlich teilt – und das Leben wieder genießt.

Jonas Jonasson hat wirklich einen erstaunlichen Roman geschrieben. Der Schelm Allan fällt von Abenteuer in Abenteuer und nimmt den Leser auf seinem Lebensweg mit. Mit großer Naivität stolpert er durch sein Leben. Weil er nicht zu viel nachdenkt, übersteht er alle seine Abenteuer – auch wenn mal einige Jahre GULAG in Sibirien dazu gehören. Jonasson hat den amüsanten Plot zu einem stringenten Roman gefügt, der immer wieder neue Überraschungen enthält. Das Lesen wird zu einer fröhlichen Lust, die sich durch Schmunzeln und Lachen zeigt.

Anfangs dachte ich, das ist doch alles ziemlich dick aufgetragen. Aber das ist beim  Simplizissimus auch der Fall. Oder bei Oskar Matzerath. Allen Karlsson gehört in die Reihe dieser Schelme, die ein Zeitpanorama schaffen. Und den Leser dabei herrlich unterhalten.

Endlich gibt es eine umfassende und plausible Grimmelshausen-Biografie

Boehncke / Sarkowicz: Grimmelshausen
Boehncke / Sarkowicz: Grimmelshausen

Sämtliche Geheimnisse um Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen können auch Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz nicht lüften. Aber was die beiden in ihrer Biografie über den Verfasser des Simplizissimus alles zusammentragen konnten, das ist wirklich erstaunlich. Denn etliches ist tatsächlich neu – und das andere hervorragend arrangiert und zu einem Lebensroman des Soldaten, Dorfschulzen, Regimentsschreiber und erstaunlichsten deutschen Schriftstellers zusammengefügt.

Lange Zeit war über das Leben Grimmelshausens nur wenig bekannt. Viele Literaturwissenschaftler versuchten aus dem Lebenslauf des Simplizissimus den von dessen Autor zu rekonstruieren. Doch das stößt schnell an Grenzen. Die Boehncke und Sarkowicz tun das zwar auch, doch sie haben sich auch die Mühe gemacht, nach neuen Quellen zu suchen. Außerdem klopfen sie die neueste Forschung genau ab. Daraus entwickeln sie einen schillernden, außergewöhnlich abwechslungsreichen und immer wieder verblüffenden Werdegang eines Gelnhausener Bäckerjungen, der im Dreißigjährigen Krieg beim Sturm der Stadt wohl die Eltern verliert, zum Onkel nach Hanau flieht und von dort mit anderen Kindern von Soldaten entführt wird.

Dann wird dieser Grimmelshausen, der wohl in Gelnhausen die Lateinschule besuchte, Regimentsschreiber und später über diese Station dann Schaffner (Amtsvorsteher) und Schultheiß (Verwalter). Nebenbei und zwischendurch ist Grimmelshausen auch Wirt. Ach ja – der vielfache Vater ist natürlich auch noch Leser und Autor. Und das, ohne in einer der literarischen Gesellschaften seiner Zeit Mitglied zu sein. Denn die war Autodidakten und Nicht-Akademikern versagt. Umso erstaunlicher ist es, was Grimmelshausen geleistet hat.

Dieser Lebenslauf ist so ungewöhnlich und die Rekonstruktion durch die beiden Autoren so kurzweilig, dass sich die 500 Seiten gut lesen lassen. Je mehr Grimmelshausen man gelesen hat, umso erhellender sind die Zusammenhänge. Aber auch für jene, die sich noch nicht an den Simplizissimus, die Courage, den Springinsfeld oder die den Musquetier und den Kaufmann des „wunderbarlichen Vogelsnests“ gewagt haben, ist das Buch ein großer Gewinn.

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Fridericiana (II): Wo steht das Erbstück richtig?

Friedrich II als Erbstück
Friedrich II als Erbstück

Der Großvater hat sich seinen Friedrich einst gekauft. Das politische Testament des Preußenkönigs war ihm sein wichtigstes Buch. Der Berliner, preußische Polizist, deutsche Soldat verehrte den ersten Diener seines Staates. Nur einmal las er mir aus einem Buch vor. Es war aus diesem Buch des Königs.

Friedrich II als Erbstück
Friedrich II als Erbstück

Jetzt ist die kleine Messing-Statue bei mir. Ich suche den richtigen Platz für ihn. Ein Regal mit Geschichtsbüchern scheint mir der richtige Ort. Doch vor welchen Büchern? Und auf welcher Höhe?

Friedrich II als Erbstück
Friedrich II als Erbstück

Ich habe kein vergleichbar inniges Verhältnis zum Preußen. Zwar habe ich meinen Zugang zur Geschichte auch über die Heyne-Biografie Friedrichs gefunden, so wie über viele andere dieser Reihe. Aber dieses Leben ohne echten Genuss war mir schön damals nicht ganz geheuer.

Friedrich II als Erbstück
Friedrich II als Erbstück

Aber wo ist jetzt der rechte Platz für ihn? Direkt vor seiner Biografie? Vor der Antike, die ihm so wichtig war? Oder vor Verwerfungen unserer jüngsten Geschichte, die alles Preußische lange vollständig vergessen wollte? Oder doch eher vor der Epoche, die direkt nach seinem aufgeklärten Absolutismus kam und ihn deshalb vor Michelets Revolutionsgeschichte erst recht wie ein Relikt aus der Vergangenheit aussehen lässt?

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