Die Wahrheit über die falsche Mona Lisa im Louvre

Deborah Dixon: Der Mona Lisa Schwindel
Deborah Dixon: Der Mona Lisa Schwindel

Dass die Mona Lisa nicht echt ist, wurde ja schon in vielen Büchern behauptet. Die kamen aber dann meist mit Verschwörungstheorien daher, die einem wie mir die Haare zu Berge stehen ließen. Denn viel plausibler als komplexe Verschwörungstheorien ist ja meist das banale Leben. Deborah Dixon hat bis kurz vor ihren Tod mit 85 Jahren ein Buch geschrieben, das vor allem ein Panorama sehr plausibler, ganz menschlicher Aspekte zu einem packenden Buch voller zeitgeschichtlichem und kunstgeschichtlichem Wissen formt.

Da íst dieser Eduarado de Valfierno, der in Marseille anfangs des 20. Jahrhunderts einen Maler kennenlernt, der Bilder von berühmten alten Meistern von der Farbenherstellung bis zum einzelnen Pinselstrich nachahmen kann, so dass sich daraus für beide ein lukratives Geschäftsmodell entwickelt. Valfierno hat vor allem reiche Amerikaner als Kunden im Visier, die ihr Vermögen in Kunst der alten Welt anlegen wollen, um damit den Anschluss an Kultur und Geschichte zu finden.

Der große Coup wird 1911 durchgeführt. Da klaut Valfiereno die Mona Lisa aus dem Louvre. Zuvor hat er vier Käufern das Gemälde verkauft – um es vor den Deutschen zu retten. Drei der falschen Mona Lisas versinken dann 1912 mit der Titanic. Nur eine verbleibt in Europa. All das ist unglaublich. Aber es beruht auf Fakten. Denn Deborah Dixon war mit der späteren Frau Valfiernos sehr eng befreundet. Von ihr bekam sie dessen Tagebücher mit der Bitte, diese zehn Jahre nach ihrem Tod zu veröffentlichen. Doch das alleine wäre Dixon zu wenig gewesen. Deshalb ordnet sie alles in ein erstaunlich dichtes Zeitpanorama ein.

Dixon erzählt, wie die Stimmung im Frankreich kurz vor dem ersten Weltkrieg war. Die Kunsthistorikerin, die weiß um die Filmszene Hollywoods, in der Valfiernos Frau Karriere machte. Und sie kannte viele der beschriebenen Figuren von Hemingway über Budd Schulberg oder Malene Dietrich persönlich. All diese Menschen sind im letzten Viertel des Buches präsent. Und obwohl sie das wunderbar schreibt, handelt es sich dabei um die schwächsten Passagen des Buches. Das allein zeigt, wie großartig der Rest ist!

Dieses Buch, das erzählt, weshalb die Mona Lisa, die jährlich von sechs Millionen Menschen im Louvre angeschaut wird, eine Fälschung ist. Denn das Original wurde ja geklaut – und kam nie wieder zurück! Staunen, Wundern, Lernen und Genießen. Das sind die Erregungszustände, in die Deborah Dixons „Der Mona Lisa Schwindel“ den Leser versetzt. Und das ohne alle Thriller-Verschwörungstheorien. Es war alles viel banaler – und doch so sagenhaft aufregend.

Von der eigenen Beschränktheit

„Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du
kennst – aber vom Zufall des Gelesenen
hängt es ab, was du bist.“ (Elias Canetti)

 „Da war ich einmal fünf und einmal acht Monate im Knast. Und in Bautzen dann noch zwei Jahre.“ Direkt hinter mir im Zug sagt ein Mann diesen Satz. Ich kann mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Meine Ohren wachsen und versuchen jedes Wort von hinten nach vorne in mein Hirn zu ziehen. Es gelingt ihnen.  Ich fühle mich wie im Kino. Die Worte lassen mich gruseln. Der Verbrecher ist  keinen Meter von mir entfernt! Nur die Lehne meines gepolsterten Sitzes trennt mich von ihm! Aber es gibt diese Lehne! Und diese Polstersitze, die genauso blau und fast so bequem wie die im Kino sind. Die Distanz verhindert echte Angst. Nur dieser wohlige Schauer wie bei einem guten Krimi überkommt mich. Und wie im Kino sind die Nerven ganz auf das Geschehen hinter mir konzentriert.

Offensichtlich waren Drogen und Schlägereien die Gründe für die Haftstrafen. Sein Begleiter kann nicht mit Knast-Erfahrung aufwarten. Er steuert drei Jahre Therapie bei. Auch bei ihm müssen es Drogen gewesen sein, die zur Behandlung führten. Gescheiterte Existenzen also. Zum Wohlfühl-Gruseln kommt nun noch die Überlegenheit des Wissenden hinzu.

Als der Therapierte dann aber davon spricht, dass er seiner Freundin den Fernseher abkaufen will, um ihn auf den Müll zu schmeißen, stutze ich. Als sich beide über die Dauerverblödung durch die Glotze auslassen noch viel mehr.  Gesteigert wird das nur noch durch die Sorge der Männer, dass die Tochter der Freundin gar keine Chance habe, als ebenfalls zu verblöden. Mein schnelles Weltbild wankt. Was ist das denn? Kulturpessimismus in Proletenslang? Meinen die das ernst?

„Der Ronny war doch auch Nazi.“ „War der nicht schwul? Der hat doch die anderen Nazis abgeknutscht, wenn die alle besoffen waren, oder?“ Der Knacki hat einen Erinnerungsreigen eröffnet. Jetzt geht es um Mitschüler. Und darum, wann die Polizei wie oft in die Schule musste, weil man sich geprügelt hat. Und wo die Bullen wen aufgegriffen haben.  Die beiden haben viel zu lachen. Es klingt wie früher, wenn Opa mit alten Kameraden vom Krieg erzählte.

Und dann wieder so etwas: „Ich kann ja Bibliotheken nur empfehlen. Da bekommst Du alles und musst Dir die Bücher nicht kaufen.“ „Nee. Ich will die Bücher haben, die ich gelesen habe.“ „Warum das denn? Die liest man ja doch nur einmal. Oder hast Du schon mal eines zweimal gelesen“ „Quatsch. Wenn ich mit einem durch bin, will ich doch das nächste lesen. Es gibt doch so viele Bücher, die ich noch lesen will. Aber vielleicht will ich ja mal was nachschauen.“ „Hm. Eins hab ich zweimal gelesen. Das war mit der Sprache beim ersten Mal so schwer. Aber dann war es echt gut.“ „Was denn?“ „Steppenwolf von Herrmann Hesse. Das war echt schwer. Aber dann einfach super. Kann ich nur empfehlen.“

Ich bin platt. Die reden über Bücher! Und wollen Fernseher auf den Müll schmeißen! Die waren im Knast oder in Drogentherapie! Und jetzt sprechen sie von der Lust am lesen? Das gibt es doch nicht! Doch. Der eine hat in Bautzen angefangen und kann seit dem nicht mehr von Büchern lassen. Den anderen infizierten die Therapeuten. Was die Schule nicht schaffte, haben sie selbst geschafft. „Jeder hat sein Leben. Und jeder muss schauen, was er daraus macht!“ Das sagte der Knacki. Und der Therapierte: „Aber die Kleine kann das doch nicht allein. Deshalb muss der Fernseher auch raus!“

Und ich? Ich fühle mich wie ein Depp. Beim Aussteigen wage ich einen Blick auf die beiden. Zwei Kerle um die 30 sitzen da. Sie lachen, erzählen, leben. Innerlich kann ich nur mitlachen. Über mich und meine Beschränktheit.

Als Erbe Caesars lebt es sich gut – Rom sei Dank!

Weeber: Rom sei dank!
Weeber: Rom sei dank!

Warum nur ist man als Schüler lieber faul als schlau? Und weshalb haben Lehrer einen so großen Einfluss auf die Lust am Fach? Fragen, die sich aufdrängen, wenn man dieses schöne Buch über den nachhaltigen Einfluss der Römer und ihrer Sprache auf unser Leben und unsere Kultur liest. Karl-Wilhelm Weeber ist kein Bildungshuber, sondern ein Gebildeter im besten Sinne des Wortes. Einer, der sein Wissen und vor allem sein Verständnis gerne teilt, ohne sich über all jene zu erheben, die sein Wissen (noch) nicht haben. „Warum wir alle Caesars Erben sind“ – der Untertitel des Buches „Rom sei Dank!“ – steht für dieses Mitnehmen des Lesers.

Da sagt ein Altphilologe voller Vergnügen zum Leser: Wir alle, auch Du, gehörst dazu. Da wird nicht ausgegrenzt, sondern an ganz vielen Beispielen bildhaft geschildert, was wir den Römern zu verdanken haben. Das macht Weeber auch mit viel Humor. Und so wird die Baugeschichte genauso behandelt wie der Einfluss der griechischen Kultur auf die Römer oder der in solchen Büchern unvermeidliche Straßenbau und natürlich Latein.

Aber all diese Themen werden wissend mit Witz vermittelt. Wer sich darauf einlässt wird immer wieder mit erstaunlichen Informationen gefüttert und erfreut sich schon sehr bald am Wachsen des eigenen Wissens. Also nur Mut: Auch solche Bücher können viel Vergnügen bereiten. Zwar sind die Fragen vom Anfang dann noch immer nicht beantwortet, aber das eine oder andere Versäumnis der Jugend wird so doch geheilt.

Fundstück im Antiquariat (2): Ludwig Börnes Verhaftung

Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820
Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820

Dieses Stück Papier ist eine fast 200 Jahre alte Zeitung. Ich habe sie heute gefunden und musste sie kaufen. Die wenigen Euro wären es schon wert gewesen, nur um so eine alte Zeitung zu besitzen. Richtig spannend ist aber, dass in ihr von der Verhaftung und Entlassung Ludwig Börnes berichtet wird. Der war 1820 im ständigen Kampf mit der Zensur. Nach Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse 1819 machte sich auch in Frankfurt/Main die Zensur wieder breit. Seine Zeitung „Die Waage“ fiel dem Zensor zum Opfer. Er selbst arbeitete danach als Redakteur der „Zeitung der Freien Stadt Frankfurt“. Das erregte die Behörden allerdings so sehr, dass der Liberale entlassen werden musste. Im März 1820 war Börne dann in Paris, wo er später bis zu seinem Tod genauso wie Heinrich Heine im Exil bleiben sollte. Ein Student wurde mit verbotenen Flugblättern aufgegriffen. Als Hersteller gab es Börne an. Das tat er, weil er den Schriftsteller und Journalisten noch in Frankreich wähnte. Doch er war schon wieder daheim. Und so sperrten ihn Polizei und Zensor ein. Es dauerte einige Tage, bis er verhört wurde und sich alles aufklärte.

Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820
Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820

Für Börne war die Verhaftung ein Einschnitt in sein Leben. Von da an orientierte er sich endgültig weg aus Frankfurt, wo er in der furchtbaren Judengasse geboren und aufgewachsen war und nach seinem Studium, das für den Juden nur dank der Besatzung durch Napoleon möglich war, als Journalist arbeitete. Es ist heute wirklich nicht mehr vorstellbar, was Deutsche einst auf sich nehmen mussten, nur weil sie eine eigene Meinung hatten. Besonders absurd war es, dass sich die DDR auf Börne als liberalen Vorläufer der kommunistischen Denker auch auf ihn bezog. Wie es überhaupt seltsam ist, dass sich eine  auf Exilanten bezieht. Auf Menschen also, die für den aufrechten Gang und ihre Überzeugung lieber die Heimat hinter sich ließen als in Demut vor der Obrigkeit zu buckeln. Insofern ist dieses Stück altes Papier ein kleines Lehrstück für die Wirrnisse des Lebens. Und eine Mahnung, dass wir uns immer gegen die engagieren, die uns den Mund verbieten wollen. Denn Demokratie und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Ein Blick in die Bücher und Schriften Börnes lohnt sich auch deshalb immer. Er hat über den Vorfall auch eine herrliche Satire geschrieben. Außerdem sind seine Reportagen und Feuilletons stilistisch ein Genuss.

Weitere Fundstücke im Antiquariat:
Walter Mehrings Autograph
Ludwig Börnes Verhaftung
Kostbarkeiten bei Alfred Polgar
Ein Theaterzettel von 1931
Die Verlustanzeige von Karl Frucht
Andreas Oppermann erinnert 1860 an Palermo

 


Zappas Werk ganz groß

Dieses Buch grenzt an Wahnsinn. Frank Wonneberg hat nichts Geringeres gemacht, als sämtliche Platten von Frank Zappa in allen ihren Ausgaben zu sammeln, zu katalogisieren und zu beschreiben. Für alle, die mit Zappa nicht sonderlich viel anfangen können, mag das nach Archivstaub klingen. Doch Wonneberg schreibt anhand der einzelnen Platten eine Biografie, eine Geschichte der Rockmusik und eine Geschichte der Musiktechnologie von der E-Gitarre über das Synclavier bis hin zur digitalen Studiotechnik.

„Grand Zappa – Internationale Frank Zappa Discology“ ist also vielmehr als eine absurde Aneinanderreihung der unterschiedlichen Label und der gleichen Schallplatte oder CD. Obwohl auch dies schon ein spannendes Thema ist. Wonneberg erschließt damit nämlich nicht nur die offiziellen Platten Zappas, sondern auch die Bootlegs, also inoffizielle Kopien und vor allem Konzertmitschnitte, die niemals autorisiert wurden. Diese Bootlegs aber spielten in den späten 1960er- und in den 1970er-Jahren eine große Rolle bei Fans. Bestimmte Bootlegs sind noch heute bei Sammlern sehr viel wert. Und das nicht nur bei Zappa, sondern vor allem auch bei Jimi Hendrix, den Doors, Bob Dylan und Velvet Underground.

Zum Fan-Sein hat diese Sammelwut immer dazugehört. In Zeiten digitaler Download-Plattformen ist diese Liebe zu den Details der Tonträger kaum noch nachzuvollziehen. Umso schöner ist es, dass sich der Sammler und Fan Wonneberg so akribisch bei Frank Zappa auf die Suche gemacht hat. Damit legt er auch ein kleines Stück Kulturgeschichte frei. Am oben abgebildeten Album „We’re only in it for the money“ lässt sich die Arbeit Wonnebergs gut darstellen. Ursprünglich war die Platte als direkte Reaktion auf „Sgt. Pepper’s“ von den Beatles konzipiert. Das lässt sich sehr gut am Cover oben rechts erkennen. Doch gab es wohl Probleme mit den Rechten an der Collage. Deshalb ist die erste Ausgabe in den USA mit einem Wendecover erschienen (das zweite von oben rechts). Die folgenden beiden Cover sind für CDs in den Jahren 2005 und 2008 entstanden, also lange nach Frank Zappas Tod.

Wonneberg erzählt die Geschichte des Covers ebenso knapp wie entscheidende Details zur Musik und zur Aufnahmetechnik. Insofern liefert er zu jeder Platte Zappas eine fundierte Kurzkritik, die angesichts der technischen Details auch eine Technikgeschichte der Rockmusik ergeben. Denn Frank Zappa war neuen technischen Möglichkeiten immer aufgeschlossen. Eigentlich hätte er am liebsten alles selbst gemacht, um seinen Perfektionismus ausleben zu können. Musiker mit eigenen Ideen und eigenen Interpretationen seiner Musik waren für ihn oft störend. Deshalb mischte Zappa die Mastertapes auch möglichst selbst. Und später bearbeitete er sie erneut, wenn es um neue Auflagen oder ab den 1980er-Jahren um die Veröffentlichung von CDs ging.

Angesichts der komplexen Musik, die ja nie einfache Rockmusik war, sondern sich immer an den Formen und Ausdrucksmöglichkeiten der Neuen Musik von Edgar Varese, Arnold Schönberg und anderen orientierte, ist dieser Drang zur Durchsetzung des eigenen Klangs sogar verständlich. Auch wenn er es vielen Musikern unmöglich machte, länger mit Zappa zusammenzuarbeiten. Wonneberg hat zu jeder der 45 offiziellen Zappa-Alben kuriose Informationen gesammelt. Beim Beispiel oben etwa die Hinweise, weshalb die Zensur an einigen Texten Anstoß nahm. In der Fülle der Texte entsteht so eine kleine Sittengeschichte vor allem der USA. Denn Zappa, der sich ja als Bürgerschreck inszenierte, setzte seine Texte immer wieder bewusst ein, um die Zensur auf den Plan zu rufen. Schließlich gibt es für Platten und Bücher kaum eine bessere Öffentlichkeitsarbeit als den Hinweis auf die Zensur. Im prüden Amerika war das für den Provokateur auch nicht schwer.

Die Texte Wonnebergs zeichnet bei einer großen Liebe zum Detail und zum Respekt des Fans vor dem verehrten Künstler dennoch eine gewisse Distanz aus. Der Autor liegt seinem Objekt der Begierde und Beschreibung nicht aus Demut zu Füßen. Im Gegenteil: Wonneberg hat eine ähnliche Ironie wie der Meister. Und so finden sich in den Texten auch etliche kleine Spitzen, die das Buch insgesamt lesenswert machen. Die Gestaltung des prachtvollen Bandes im Format von 36,5 mal 30 Zentimeter ist großartig. Die Fülle der grafischen Objekte wird klar und erkenntnisgewinnend präsentiert. Auch das hat Frank Wonneberg selbst übernommen, mit einem feinen Gespür für Typografie und Layout. Für Zappa-Fans ist das Buch sicherlich ein Muss. Aber angesichts der Freude am Detail ist der Band auch eine Freude für jeden Bücher- und Musikfreund.

Frank Wonneberg: „Grand Zappa“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin, 69,95 Euro MOZ-Rezension…

Martin Prinz erwandert sich die bäuerliche Kultur der Alpen

2500 Kilometer quer durch die Alpen. Auf den Weg von Triest in Italien nach Monaco hat sich der österreichische Journalist Martin Prinz gemacht. Zu Fuß wollte er nicht nur seine körperlichen Grenzen kennenlernen, sondern vor allem auch die unserer Lebensweise. Der Alpenraum ist eine von Menschen belebte und geformte Kulturlandschaft. Das betrifft natürlich nicht die Gipfel und Gletscher.

Aber die Bergwiesen und Almen, die jeder Tourist mit den Alpen in Verbindung bringt, gibt es nur, weil Menschen seit Jahrhunderten Landwirtschaft betreiben. Der Rückgang der bäuerlichen Kultur birgt die Gefahr, dass sich die Alpen insgesamt verändern. Insofern war die Wanderung in 161 Tagen mehr als eine Suche nach dem eigenen ich. Für Prinz war der lange Weg vor allem eine Recherchereise, bei der die Langsamkeit der Fortbewegung erste die Erkenntnis beförderte.

Denn egal ob in Italien, Slowenien, Österreich, Deutschland, der Schweiz oder Frankreich, überall entdeckte Prinz eine ähnliche Struktur der einstigen bäuerlichen Landwirtschaft – und dieselben Folgen deren Rückgangs. Denn da, wo heute Städter die ehemaligen Bauernhöfe als Wochenendhaus nutzen, werden aus ehemaligen Weiden wieder Wälder. Damit verändert sich nicht nur das Landschaftsbild, es verschiebt sich die gesamte ökologische Struktur. Und mit dem Rückgang der bäuerlichen Eingriffe wachsen auch die Gefahren von Lawinen und Muren. Denn die Bauern sichern das Land nicht mehr. Eine Aufgabe, die von den Wochenendpendlern auch nicht übernommen wird. Martin Prinz gelingt es in seinem Buch diese Zusammenhänge sehr anschaulich darzustellen. Wesentliches Stilmittel dabei sind seine Schilderungen des Laufens, Kletterns und Ausruhens.

Er nimmt den Leser auf die Wanderung mit, lässt ihn die Strapazen und Gefahren erleben. Dadurch werden die Eindrücke unmittelbarer und die Schlussfolgerungen zum Thema Natur und Mensch plausibler. Lediglich der dritte Erzählstrang ist mitunter nervig. Die Trennung von der Mutter seines Kindes und das Finden einer neuen Liebe mag für Prinz ein bedeutender Teil der langen reise sein. Für den Leser ist das aber unerheblich. Dieser lange Weg zu ihm selbst nimmt dutzende Seiten ein, die gern hätten gestrichen werden können. Sie blähen das ansonsten gut und informativ geschriebene Buch auf und schmälern gleichzeitig die Leselust.

MOZ-Rezension…

Hubert von Goiserns Erkundung der Donau

Hubert von Goisern, der vor 20 Jahren damit begonnen hat, die traditionelle Musik der Alpen als Quelle für inspirierende Rockmusik zu nutzen, hat 2008 eine Konzertreise auf der Donau von Regensburg bis ins Schwarze Meer unternommen. Unterwegs legte er mit seinem Bühnenschiff an, um mit einheimischen Musikern Konzerte zu geben. 2009 fuhr er dann Donau, Main-Donau-Kanal, Main, Rhein, Necker und Maas entlang, um den westlichen Teil Europas von der Wasserstraße musikalisch zu erkunden.

„Stromlinien“ ist ein Logbuch, das aus dem Reise begleitenden Blog entstanden ist. Ergänzt hat Goisern das Buch um längere Texte über die Vorbereitung der kostspieligen Reisen, deren erste im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Linz zustande kam. Goisern nimmt den Leser mit auf seine Reise, die er als eines der letzten Abenteuer in Europa beschreibt. Die Vielfalt der Erfahrungen, die Überraschungen, Enttäuschungen und Jubelmomente wirken alle authentisch. Da wo Europa am wildesten und unberechenbarsten von ihm – und dem Leser – erwartet wird, funktioniert es am unkompliziertesten; etwa in Serbien und Bulgarien. Und da, wo Europa schon seit Jahrzehnten auch ein politischer Raum ist, ist die Skepsis am größten, etwa in Deutschland und Holland.

Hubert von Goisern öffnet aber vor allem den Blick auf die Schönheit der Donau und der Flusslandschaften. Ausgewählte Fotos runden das schöne Buch ab. Es lädt dazu ein, sich selbst auf den Weg zu machen, um Europa zu erkunden, zu Land, zu Wasser und in der Luft.

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Karl-Markus Gauß findet den Wald in den Metropolen

Die Vielfalt Europas ist schon lange das Thema von Karl-Markus Gauß. Sein aktuelles Buch, „Im Wald der Metropolen“ wurde von der Darmstädter Jury jetzt zum Buch des Monats Oktober gewählt. Zu recht. Denn Gauß gelingt es mit seinem Buch über seine Reisen den Blick für das Besondere in Europa zu öffnen.

Robert Seethaler erfindet einen bizarr-realen Bildungsroman

Diese Geschichte ist eigentlich ganz banal. Da wächst ein Bub in der Provinz auf, versucht sich und die Welt zu begreifen und scheitert an ihr. Bis er das Theater für sich entdeckt und mit ihm seine Rolle in der Welt.

Was sich wie eine knappe Inhaltsangabe von Goethes „Wilhelm Meister“ liest, fasst das neue Buch von Robert Seethaler zusammen. „Jetzt wirds ernst“ ist sein dritter Roman. Vor allem der Vorgänger „Die weiteren Aussichten“ war ein Erfolg. Genauso wie der darauf basierende Fernsehfilm „Die andere Frau“, für den Seethaler mit Dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde.

Seethaler ist ein Meister lakonischer Sätze, die nicht sofort ihre Wirkung entfalten. Die Summe der simplen Beobachtungen erzeugen eine Stimmung, die jeder in seiner Pubertät erlebt hat. Denn davon handelt der Roman vor allem. Er schildert, wie aus einem Baby, das bei einer Sturzgeburt das Licht der Welt erblickte, ein Junge wird, der die Schule seltsam findet und in der Pubertät langsam zu sich selbst findet. Insofern ist der Vergleich zu Wilhelm Meister ein guter. Nur dass Seethalers Bildungsroman viel humorvoller und direkter ist.

Der Titel „Jetzt wird ernst“ beschreibt eigentlich das Ende des Buches. Bis dahin ist für den Jungen natürlich auch alles ernst. Der Tod der Mutter, die Mitarbeit im väterlichen Friseursalon, die erste unglückliche Liebe oder die Versagensangst vor dem ersten Auftritt auf der Theaterbühne. Doch richtig ernst wird es halt erst, wenn man erwachsen ist und sich der Welt richtig stellen kann.

Robert Seethaler gelingt es, alle seine Figuren mit echter Zuneigung zu schildern. Selbst unangenehme Personen wirken nicht abstoßend. Sie sind ein Teil des Lebens und schon deshalb auch gut. Seinen eigentlichen Helden, aus dessen Ich-Perspektive der Roman geschrieben ist, begleitet er mit Herzlichkeit und Frische. Angesichts der vielen Fettnäpfchen, die das langsame Erwachsenwerden so mit sich bringt, ist das gar nicht so einfach. Genau diese Spannung trägt den Roman und macht ihn zu einem großen Lesegenuss.

Robert Seethaler: Jetzt wird’s ernst. 303 Seiten, Kein & Aber, 19,90 Euro

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