Journalistisches Handwerk in Zeiten der Flüchtlings-Hysterie

Engen uns unsere handwerklichen Grundregeln und Leitplanken ein? Das ist eine für Journalisten sehr typische Frage. Eine Frage, wie sie alle paar Jahre, manchmal auch nur alle paar Monate neu gestellt wird. Ich erinnere mich an einen großen Seite-3-Atrikel von Herbert Riehl-Heyse aus den frühen 1990er-Jahren. In ihm ging es anlässlich der damaligen Asyldiskussion auch um Presseethik und Pressekodex. Er schrieb damals, dass es keinen Berufsstand gebe, der sich so oft in Frage stelle, wie der Journalismus. Und um das zu verdeutlichen fragte er: Könne sich irgendjemand vorstellen, dass etwa die Landesinnung der Metzger jedes Jahr bei der Jahreshauptversammlung aufs Neue die Frage nach der Moral des eigenen Handelns stelle? 

Neue Grenzen in Medien-Europa

Diskussionen über Grenzen in Europa haben oft etwas veraltetes. In Zeiten einer multinationalen Währung, der Abschaffung von Grenzkontrollen im Schengen Raum und der stetigen Vereinheitlichung des Rechts verliert die Grenzfrage an Bedeutung. Auch wenn Staatsgrenzen oft gleichbedeutend mit Sprach- und Kulturgrenzen sind. Natürlich gibt es auch weiterhin Grenzen, die historische Räume trennen. Grenzen, die Schmugglern und anderen Kriminellen das Einkommen garantieren. Grenzen, die für jene, die sie überwinden wollen, sogar tödlich sein können. Ganz sicher ist die Außengrenze der Europäischen Union eine solche Grenze – und die des Schengen Raumes erst recht.

Aber wenn man über Grenzen und Journalismus diskutiert, dann drängen sich neue Fragen auf. Verlieren Grenzen nicht auch an Bedeutung, weil soziale Medien neue Formen der Gemeinschaft ermöglichen, die auch tatsächlich gebildet werden? Sind es nicht gerade die neuen Formen von Kommunikation, die viel eher eine Grenzüberschreitung im Alltag zulassen? Und zwar inhaltlich, sozial und vor allem so selbstverständlich. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Korrespondenten vor Ort und private Brief- und Telefonkontakte über Grenzen hinweg das Bild vom anderen Land bestimmten. Heute erfahren wir oft über Facebook-Kontaktt, Twitter und Youtube-Videos mehr voneinander als über die klassischen Medien, denen in Krisnezeiten wie jetzt in Syrien sogar der Zugang zum Land verwehrt werden kann. Die Grenze der sozial-medialen Kompetenz ist heute also oft schon wichtiger, um wissen zu können, was in einem anderen Land passiert. Wer sich weigert, sie zu überqueren, wird von der Welt ausgeschlossen.

Verstärkt wird das alles noch durch eine weitere Grenze: die der Finanzierung von Journalismus. Der Kampf der Verleger, aber auch der privaten TV-Anbieter gegen die Medienkrise sorgt dafür, dass die Zahl der kompetenten Korrespondenten selbst bei renomierten überregionalen Titeln schrumpft. Der Kostendruck sorgt oftmals zudem dafür, dass schlicht nicht mehr genug Platz im Blatt ist, um Hintergrund-Geschichten vom Journalisten-Experten vor Ort schrieben oder produzieren zu lassen. Für die von der Gesamtauflage her wichtigsten Medien überhaupt, die Regionalzeitungen, stimmt dies erst recht. Während also in den sozialen Medien die Fülle der Informationen stetig wächst, nimmt die in den Medien stets ab. Die Finanzierungsgrenze ist so für Texte, Bilder, Filme und Hörfunk-Beiträge von Auslandsjournalisten immer schwerer zu überwinden. Denn das Geschäftsmodell zur Finanzierung von Journalismus rechnet sich oft nicht mehr.

Bei unserer Podiumsdiskussion auf dem n-ost-Kongress in Lemberg haben wir diese Grenzverschiebungen etwas diskutiert. Wir, das waren Ronny Patz, Eric Maurice, Oleg Khomenok, Taras Voznyak und ich. Bezeichnend an der Runde war, dass niemand von uns sein Geld in privatwirtschaftlich finanzierten Medien verdient. Eric Maurice leitet Presseurop.eu. Die Webseite ist ein Versuch, eine grenzüberschreitende europäische Öffentlichkeit herzustellen, indem Texte aus Zeitungen vieler Länder in die Sprachen vieler anderer Länder übersetzt und so publiziert werden. Das ermöglicht tatsächlich eine Debatte über die unterschiedlichen Blickwinkel auf Europa. Obwohl die Pageimpressions ganz erklecklich sind, gibt es aber auch für diese Seite kein funktionierendes Geschäftsmodell. Das Projekt wird von der Europäischen Kommission finanziert, die so einen Beitrag zu einer europäischen Öffentlichkeit leistet oder auch nur leisten will.

Oleg Khomenok arbeitet für Scoop, eine Plattform, die investigativen Journalismus über Ländergrenzen hinweg ermöglicht. Hier arbeiten Journalisten unterschiedlicher Länder Osteuropas projektbezogen miteinander, um zu recherchieren, wie Firmen international verbunden sind, wie internationale Korruption funktioniert oder welche Macht Oligarchen haben. Für Khomenok, der inzwischen mit Einreiseverbote nach Russland und nach Belaruß belegt ist, bieten solche Formen von Kooperation einen der wenigen zukunftsversprechenden Wege für Journalismus, weil sie akzeptieren, dass es immer weniger Geld für guten Journalismus gibt. Das lässt sich seiner Sicht nach nur kompensieren, wenn mehrere Journalisten zusammen, über Grenzen hinweg, an Themen arbeiten und so die Kosten senken. Das Internet ist in seinen Augen auch keine böse Konkurrenz, sondern mit den Möglichkeiten des Datenjournalismus ein unglaublicher Beschleuniger bei komplexen Recherchen – und ein Kostensenker. Finanziert wird Scoop maßgeblich vom dänischen und schwedischen Außenministerium.

Taras Voznyak gibt die Vierteljahres-Zeitschrift Ji heraus. Sowohl die Print- als auch die Onlineversion des kulturwissenschaftlichen Magazins tragen ihre Kosten nicht. Die hintergründigen Texte – oftmals über Grenzen, Räume, Kulturen und ihre Verschränkungen – können nur erscheinen, weil sie unter anderem über die Heinrich-Böll-Stiftung finanziert werden. Und Ronny Patz befasst sich mit der Europäischen Union und den damit verbundenen Grenzfragen als Blogger, als Euroblogger. Eigener Antrieb ohne die Hoffnung, durch das Schreiben die Existenz sichern zu können, hat ihn angetrieben. Seinen Wunsch, einen Beitrag zu einer europäischen Öffentlichkeit zu leisten, die über die Grenzen hinweg Gehör findet, hat er über das Internet realisiert. Inzwischen arbeitet er bei Transperency International, schreibt nicht mehr so regelmäßig. Aber er vertraut auf die Kraft der Öffentlichkeit durch Twitter, Facebook und Co. Weil vor allem die mobilen Eliten stark vernetzt sind, weil sie international aufgestellt sind, schaffen sie es seiner Ansicht nach auf diesen Weg mehr zu einer europäischen Öffentlichkeit beizutragen als viele klassische Medien.

All das sind natürlich keine Antworten darauf, wie sich ein finanzierbares, grenzüberschreitendes Mediensystem, in dem Journalismus noch eine wichtige Rolle spielt, entwickeln lässt. Aber da die Finanzierung vor allem über öffentliche Quellen und über Stiftungen funktioniert, sollte bei der nächsten n-ost-Konferenz vielleicht über das Selbstverständnis der Journalisten und der sie beschäftigenden Institutionen diskutiert werden. Der Weg, Journalismus über Stiftungen zu finanzieren, ist zudem einer, der angesichts der desaströsen Entwicklungen im deutschen Regionalzeitungsmarkt eine echte Option auch hierzulande werden könnte.

Mehr dazu:
Politische Kommunikation (5) – Veränderte Rolle der Tageszeitungen

Jonathan Littell erschüttert mit seinen Notizen aus Homs

Jonathan Littell: Notizen aus Homs
Jonathan Littell: Notizen aus Homs

Mitten in Homs genießt Jonathan Littell am 27. Januar einige Stunden Ruhe ohne Beschuss. Selbst ein Spaziergang war ihm und dem Fotografen Read möglich: „Das Licht verändert sich pausenlos, während die Wolken vorbeiziehen. In den Pfützen spiegeln sich der Himmel und die Fassaden der Häuser.“ Ein Moment der Idylle verschafft ihm und dem Leser Ruhe zum Durchatmen. Aber der Spaziergang öffnet auch den Blick für die Gewaltbereitschaft des Assad-Regimes in Syrien: „Durch die Treppenhausöffnungen sieht man die Zitadelle, ganz nah, keine 200 Meter entfernt.“ 200 Meter. Für die Scharfschützen der syrischen Armee ist das keine Entfernung. Und deshalb nehmen sie ständig dieses Viertel mit Rebellen in Homs unter Beschuss.

Jonathan Littell war vom 16. Januar bis zum 2. Februar in Homs. Während ich einem jungen Mann lauschte, der aus dem Tagebuch einer jungen Frau aus den 20er-Jahren vorlas, hielt er sich da auf, wo Menschen auf ein Leben ohne Diktatur hofften. Während ich wohlig in einem hippen Neuköllner Raum zusammen mit zwei Freundinnen anläßlich eines Geburtstages lauschte, wie eine junge Frau ihre erste Liebe in ihrem Tagebuch diskutierte, war Littell da, wo Frauen und Kinder, wo Männer, die sich gegen Assad auflehnen –  und mit dem Leben bezahlen. Während wir Geburtstag feierten, wurden in Homs von Heckenschützen ermordeten beedigt. Für sie gibt es keine Geburtstage mehr. Littell besuchte die Untergrund-Hospitale, diskutierte die vergebliche Hoffnung auf Hilfe aus dem Westen, ertrug den Anblick von toten Männern, die von der Armee des eigenen Landes hingeschlachtet wurden.

Diese Diskrepanz macht den ruhigen und sachlichen Text Littells immer wieder unerträglich. Und doch muss er gelesen werden. Littells Buch ist ein Dokument, das zeigt, wie wir alle in Syrien versagt haben. Littell war vor dem großen Bombenangriff Assads auf Homs in der Stadt. Viele seiner Gesprächspartner leben nicht mehr – sie sind einige Tage nach Littells Ausreise von Assads Armee ermordet worden. Und das nur, weil sie Freiheit wollten, weil sie nicht mehr einem Diktator dienen wollten. Zu diesem Zeitpunkt hatten Islamisten kaum Einfluss auf Littells Gesprächspartner. Aber je länger der Westen zuschaut, wie Tausende, Zehntausende Syrer sterben, umso leichter wird die tatkräftige Hilfe von radikalen Islamisten angenommen. Denn es geht um das Überleben. Und in dieser Situation ist die tatsächliche Hilfe wichtig –  und nicht absurde Beschwörungen eines Friedens mit dem Diktator, den es nicht geben kann.

Littells Buch „Notizen aus Homs“ ist ein erschütternd starkes Buch. Am 29. Januar, an meinem eigenen Geburtstag, hat Littell von einem ehemaligen Gefängnisarzt geschildert bekommen, wie Ärzte Folter dulden oder gar selbst foltern. Zur gleichen Zeit, als ich in der Märchenhütte in Berlin Mitte ein hinreißend lustiges Märchenthaeterstück sah, erlebte Littell, wie Opfer von Scharfschützen nur mit Mühe gerettet werden können – und ein anderer Mann an seinen Verletzungen stirbt. Und während ich mit meiner Familie beim Türken Köstlichkeiten aß, die Littell auch in Syrien bekam, wird ihm ein Handy gezeigt, das eine Projektil ablenkte. Dieses Handy hat einem Mann das Leben gerettet. Es hat die Kugel so abgelenkt und gebremst dass sie einige Zentimeter vor dem Herzen stoppte. An das Geburtstagsessen zu denken, während ich das Buch lese, ist irre. So wie diese Welt, in der wir immer viel zu wenig helfen, den Wahnsinn zu beenden.

Jonathan Litell: Notizen aus Homs, Hanser Berlin.

Politische Kommunikation (7) – Wie lässt sich regionale Öffentlichkeit denoch herstellen?

Politische Kommunikation – oder Wie sage ich es den Bürgern?

Zusammenfassung meines Vortrags bei einem Workshop vom „Bündnis für Demokratie und Toleranz“ und „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ am 24. September 2011 in Kassel.

Politische Kommunikation (1) – Einführung
Politische Kommunikation (2) – Kommunikations-Versagen: Stuttgart 21
Politische Kommunikation (3) – Kommunikations-Versagen: Flughafen Schönefeld
Politische Kommunikation (4) – Kommunikations-Versagen bei den Stromtrassen
Politische Kommunikation (5) – Veränderte Rolle der Tageszeitungen
Politische Kommunikation (6) – Gefährdete Öffentlichkeit in Mecklenburg-Vorpommern

Wie lässt sich bürgerliche Öffentlichkeit dennoch herstellen?

Die sich auflösende Funktion der Regionalzeitung kann bislang von keinem anderen Medium kompensiert werden. Das liegt vor allem an der unzureichenden Ertragssituation im Lesermarkt und im Anzeigenmarkt. Allenfalls die über Gebühren finanzierten Öffentlich-Rechtlichen Sender können es sich leisten, unabhängig vom Markt ihre publizistische Aufgabe wahrzunehmen. Aber diese Sender sind nicht lokal gebunden. Sie berichten nur punktuell und oft auch nur bei sogenannten „Aufreger-Themen“. Kontinuität im Lokalen und Regionalen wird von ihnen nicht gewährleistet. Aber genau diese Funktion muss erfüllt werden, um Demokratie überall in Deutschland am Leben zu halten. Das Internet bietet alle Voraussetzungen, die publizistische Lücke zu schließen.

Allerdings ist der wirtschaftliche Betrieb eines anspruchsvollen publizistischen Portals mit starker lokaler Ausrichtung vor allem in Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern auf absehbare Zeit nicht möglich. Doch für das Funktionieren der Demokratie vor Ort, für bürgerschaftliches Engagement und die Vernetzung von Akteuren ist schon jetzt ein solches publizistisches Angebot notwendig. Es muss mit gut qualifizierten Journalisten nicht nur die Chronistenpflicht abdecken, sondern vor allem erläutern, welche Verantwortlichkeiten in der Gemeinde, dem Kreis, dem Land, dem Bund und der Europäischen Union für Entscheidungen zuständig sind. Es muss zudem sicherstellen, dass es als seriöse Plattform für die öffentliche Debatte angenommen wird. Und es muss durch Vernetzung und öffentliche Veranstaltungen die Bildung von solchen regionalen Netzwerken unterstützen, die die Aushandlung demokratischer Prozesse befördern und nachvollziehbar machen.

Konkret bedeutet dies, dass ein Medium benötigt wird, das nicht aus eigenen wirtschaftlichen Interessen notwendige Kooperationen mit anderen Webseiten verhindert. Vielmehr ist es nötig, gute redaktionelle Inhalte auch anderen Seiten über Kooperationen zur Verfügung zustellen bzw. andere lokale und regionale Akteure für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Dadurch wächst die Wahrnehmung und Akzeptanz als neues lokales Mediums demokratischer Kultur und Öffentlichkeit. Das A und O für das Gelingen eines solchen Projekts ist und bleibt aber die Qualität des Inhalts.

Für diese gibt es zwei Voraussetzungen: Der Input von motivierten und qualifizierten Bürgern, die auf der lokalen Ebene Informationen, Meinungen und Beobachtungen sammeln. Und die redaktionelle Bearbeitung ihrer Texte durch gut ausgebildete und entsprechend bezahlte Journalisten auf regionaler Ebene. Nur durch die aktive Beteiligung von Bürgern wird es zukünftig möglich sein, auch in peripheren sowie besonders kleinen Orten die Abdeckung mit lokalen Informationen sicher zu stellen. Deshalb ist würde ein wichtiger Bestandteil des Projekts in der Aus- und Weiterbildung lokaler Akteure liegen.

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Politische Kommunikation (8) – Piraten als Ausdruck veränderter Kommunikation

Politische Kommunikation (9) – Bürgerengagement im Netz

Angezogen von Krisen und Kriegen

Lutz Kleveman © Kleveman, Lutz
Lutz Kleveman © Kleveman, Lutz

Gute Journalisten haben Neugier, Empathie und Leidenschaft. Bei Kriegsreportern kommt noch Abenteuerlust hinzu. Das zumindest meint Lutz Kleveman, der zehn Jahre aus allen Krisengebieten der Welt berichtete. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch gebündelt.

Lutz Kleveman ist Mitte 20, als er sich entschließt, etwas erleben zu wollen. Nach dem Studium in Frankreich und England fängt er beim „Daily Telegraf“ als freier Journalist an. Um Geschichten verkaufen zu können, geht er in Länder, in denen die Redaktion keine Korrespondenten hat. Das sind vor allem Krisen- und Kriegsgebiete.

Im Spiegelsaal von „Clairchens Ballhaus“ in Berlin-Mitte berichtet Kleveman von seinem Weg. Inzwischen ist er 37 und „Herbergsvater“, wie er selbst sagt. Das elterliche Gut im Landkreis Cuxhaven hat er von der Landwirtschaft auf Tagungen und Seminare umgestellt. Auf dem ersten Blick ist vom Kriegsreporter nicht viel geblieben.

Aber wenn er beginnt zu erzählen, wie unverwundbar er sich fühlte, weil der Journalist Kleveman mit Warlords und einfachen Menschen sprechen konnte, dann wird klar, dass noch immer diese Leidenschaft in ihm brennt. „Wenn ich jetzt als Tourist reise, merke ich doch, dass ich mit niemandem mehr ins Gespräch komme. Das war schon geil als Journalist“, resümiert er seine aktive Zeit. In seinem Buch „Kriegsgefangen“ hat er diese zu Papier gebracht.

In ihm schildert er seinen Weg durch die Krisen und Kriege in Ex-Jugoslawien, Liberia und die Elfenbeinküste, Tschetschenien, den Irak, Afghanistan, Kolumbien, Nordkorea und Burma, Laos und Vietnam. Aber er reiht seine Erlebnisse nicht nur aneinander. Vielmehr verknüpft er sie mit der Frage, warum es ausgerechnet ihn, der als vierter Sohn weder Zivildienst noch Wehrdienst leisten musste, in den Krieg zog.

Dabei blickt Kleveman in die Familiengeschichte. Er begibt sich auf seine „Deutsche Spurensuche“, als er sich mit den Briefen seines Großvater aus der russischen Kriegsgefangenenschaft im 1. Weltkrieg beschäftigt. Dessen Bruder wiederum war der erste Verwundete 1914. Der zweite Bruder ist als Generalstäbler gefallen. Und der Großvater hat im 2. Weltkrieg entschieden, welcher Bauernsohn der Umgebung unabkömmlich war und wer an die Front musste – auch noch als ihm längst klar war, dass der Krieg verloren ist.Das Militärische ist also überall. So wie im Traditionszimmer des Gutes, in dem Waffen, Uniformen und Büsten von Soldaten aufbewahrt waren.

Lutz Kleveman: Kriegsgefangen
Lutz Kleveman: Kriegsgefangen

Zwar wird bei der Buchvorstellung in „Clairchens Ballhaus“ nicht vollständig klar, weshalb es den nachgeborenen Enkel in die Kriegsgebiete zog. Aber es wird deutlich, dass ihn die Gewalt faszinierte. „Wir sprechen immer von sinnloser Gewalt. Aber das stimmt nicht. Gewalt ist ein Weg, Dinge durchzusetzen,“ sagt Kleveman. Vor allem da, wo die staatliche Ordnung zusammengebrochen ist, müsse man immer bedenken, dass Gewalt für diese Menschen sinnvoll sei.

Solange er selbst keine Gewalt am eigenen Körper erlebte, machte sie ihn nur neugierig: „Egal ob Dealer oder Soldaten, die Jungs waren in meinem Alter. Ich fand es interessant, sie zu beobachten und zu beschreiben.“ Und dabei ein so ganz anderes Leben zu entdecken, als es in Deutschland gelebt wird.

Der Schatten des Großvaters, der Klevemans ältere Brüder noch für Klimmzüge wie in einer privaten Kadettenanstalt in den Garten befohlen hatte, ist übermächtig. Davor flieht er. Wie überhaupt vor Deutschland. Beim „Daily Telegraf“ schaffte er es monatelang, seine Herkunft zu verleugnen. Dass er für die totale Abgrenzung von der eigenen Familiengeschichte ausgerechnet in die kriegerischen Fußstapfen des Großvaters tappte, ist ihm erst in Afghanistan klar geworden.

Als er dann in Vietnam durch Verbrecher das erste Mal selbst verletzt wird, ist ihm klar, dass das Dasein als Kriegsreporter enden muss. So wie er es seiner Mutter versprochen hatte. Die letzte Reise wird die auf den Spuren des Großvaters an die Stationen der Gefangenschaft. Es wird dadurch auch eine Reise zu ihm selbst, auf der er Frieden mit der Familie und den Deutschen schließt.

„Kriegsgefangen“ beschreibt die Gefangenschaft des Großvaters. Viel mehr aber schildert es die Last, die Kleveman stellvertretend für viele Nachgeborene erforscht. Es geht um den Krieg, der noch immer nachwirkt, der Familien noch immer gefangen nimmt – im speziellen Fall natürlich auch anhand von zehn Jahren Erlebnissen zwischen Kindersoldaten, Drogendealern und Warlords.

Lutz Kleveman: Kriesgefangen. Siedler Verlag, 22,99 Euro

Der Text ist am 11. September 2011 in der Märkischen Oderzeitung erschienen…