Norbert Gstrein sucht den Anfang des Gerüchts

Norbert Gstrein: Eine Ahnung vom AnfangAm Anfang ist nur ein Gerücht. Und doch kann dieses Gerücht das ganze Leben des Lehrers, aus dessen Perspektive Norbert Gstreins „Eine Ahnung vom Anfang“ geschrieben ist, in Frage stellen. Tatsächlich wird auf dem Bahnhof der österreichischen Provinzstadt eine Bombe gefunden. Aber wer sie deponiert hat, ist keinesfalls bekannt. Nur Erinnerungen an einen ehemaligen Schüler, der anders war als die anderen Schüler. Genau deshalb trauen ihm viele im Ort die Tat – die letztlich nicht ausgeführt wird – zu.

Eine Einschulung, die nichts Gutes verspricht

Ausrichtung in Reih und Glied mit der Garantie zum Verbiegen
So wie dieser Fahrradständer im Schulhof schön in Reih und Glied ausgerichtet ist, so sollen auch die Schüler vor allem zu zappelfreien und ordentlichen Schülern werden. Dabei garantiert der Fahrradständer verbogene Vorderräder. Wie wohl die Kinder verbogen werden?

Jetzt liegt der erste Schultag schon einige Tage zurück. In den tiefen Südosten Brandenburgs sind wir gefahren, um die Tochter von Freunden beim Gang mit der Schultüte zu begleiten. Und dieser Gang hatte es in sich: Nicht nur, dass hier in der Lausitz die Schülerinnen und Schüler mit Pauken und Trompeten von Lehrern, Eltern, Freunden und Verwandten in loser Marschordnung in die Schule gebracht werden. In Sichtweite der Dampfwolken von Schwarze Pumpe stimmt die kleine Kapelle das Steigerlied an, als es auf den Schulhof geht. Ganz so, als würden heute noch zukünftige Braunkohlekumpel gebraucht.

Und dann in der „Astrid-Lindgren-Grundschule“ mit dem integrierten kommunalen „Max-und-Moritz-Hort“. Nach dem Marsch in die Schule folgt die Einnordung der Rektorin: „Liebe Schulanfänger, liebe Eltern, verehrte Pädagogen.“ So fängt sie an. Sie macht in einem schlimmen Babysprech in ihrer Rede an die ABC-Schützen sofort klar, wer hier in diesen Räumen zu verehren ist – und wer allenfalls lieb sein kann. Denn um lieb zu sein, muss man auch gehorchen – und darf auf gar keinen Fall zappeln. Zwar könnten weder die Pippi Langstrumpf noch Max und Moritz ruhig sitzen, aber „wenn Du morgen schon nicht mehr zappelst, dann kriegst Du ein Lob.“ Ja diese Rektorin weiß, worauf es ankommt.

Nicht auf Kreativität, wie sie Pippi Langstrumpf hat, nicht auf das unkonventionelle Denken und die Phantasie der Namenspatronen. Nein, ruhiges Sitzen ist die Herausforderung, mit der sie die Schulanfänger ködert. Ihr Babysprech vermeidet jedes wirklich motivierende Wort, denn bedeutend ist die Anpassung an das, was die zu verehrenden Pädagogen verlangen.

Das macht sie auch den Eltern klar. Denn nach den sechs Jahren in der Fürsorge der Eltern kämen die Kinder jetzt in die Fürsorge dieser Frauen (auch wenn die männliche Form Männer als Lehrkräfte suggeriert, sind nur weibliche zu sehen – wenn auch mit wunderbar regionaler Haarmode in zwei Farben oder auch gern in grellem Rot). Aber ob das die Eltern beruhigt, dass die Kinder nicht den Raum bekommen sollen, um sich zu selbständigen, starken Persönlichkeiten entwickeln zu können? Sondern zu künftigen Fürsorge-Empfängern? Denn das meint der Begriff Fürsorge der Definition zu Folge ja: „Fürsorge bezeichnet die Sorge, auf die Menschen unter bestimmten Umständen ein Recht haben, und bezeichnet ebenfalls das aus der Ethik der Barmherzigkeit bzw. der Almosenpraxis erwachsene System der Fürsorge, Obsorge, Sozialhilfe oder Sozialen Sicherheit.“

Ich glaube nicht, dass die Frau wusste, was ihre Worte wirklich bedeuten. Aber ich bin ganz sicher dass sie das, was sie sagte, aus tiefster Überzeugung sagte. Und dass sie damit unter den Lehrerinnen und Lehrern Brandenburgs bei weitem nicht alleine steht.

P.S. Für unsere Schulanfängerin war es dennoch ein schöner Tag. Sie wurde schön gefeiert. Und freut sich auf die Schule – hoffentlich noch ganz lange.

Wer Klassen vergleicht, deckt Lehrer-Mängel auf

Es gibt ja schöne Neuerungen in der Bildungspolitik. Eine davon ist die interne Vergleichsarbeit. Die funktioniert so: In der Schule legt die Fachkonferenz eine Arbeit fest, die in allen Klassen einer Jahrgangsstufe geschrieben wird. Sehr sinnvoll ist das vor allem dann, wenn am Ende eines Schuljahres eine allgemeine Prüfung für alle Schüler ansteht. Eine Vergleichsarbeit könnte im Vorfeld Schwächen aufdecken, an denen gearbeitet werden kann.

Blöd ist es nur, wenn in allen Klassen von den verschiedenen Lehrern unterschiedliche Ergebnisse erwartet werden, weil sie selbst die Aufgabe der eigenen Fachkonferenz, in der sie alle Mitglied sind, falsch lösen. Dann kann ein cleverer Schüler zwar die Lösung liefern, doch hilft das auch nichts, wenn die Lehrer nicht an ihrem Fehler arbeiten. Sondern die Aufgabe einfach komplett aus der Wertung streichen. Das freut vielleicht die Schüler kuzfristig. Führt den Sinn von vergleichsarbeiten aber ad absurdum. Denn die ist ja eigentlich da, um festzustellen, welche Lehrer den Stoff gut und welche ihn schlecht vermitteln.

Obwohl: Wenn alle Lehrer ihre eigenen Aufgaben nicht rechnen können, dann hat der Vergleich zumindest erbracht, dass sie alle an sich arbeiten müssen, um sinnvoll mit Schülern arbeiten können.

Brandenburger Vergleichsarbeiten als Drohkulisse

Die Grundschulgutachten sind da. Die Kinder der sechsten Klassen in Brandenburg wissen, welchen Bildungsgang ihre Lehrer ihnen zutrauen. Für diejenigen, die eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen haben und den Notenschnitt erfüllen, ist alles klar. Andere können beim Probeunterricht im April ihr Ziel noch erreichen. Was auf den ersten Blick ganz sinnvoll wirkt, ist aber vor allem bei der Gymnasialempfehlung oft eine Farce. Denn viele Lehrer bewerten nicht die Fähigkeiten der Schüler. Sie machen sich nicht die Mühe, die Kreativität, das soziale Engagement, die Familiensituation zu beurteilen, um daraus abzuleiten, ob ein Kind das Gymnasium bestehen dürfte.

Nein, sie schauen einfach auf die Note. Wer eine Zwei hat, bekommt die Empfehlung, wer schlechter ist, bekommt sie nicht. In der Regel tun sich diejenigen Lehrer am schwersten mit dieser Unterscheidung, die auf Auswendiglernen gesteigerten Wert legen, und für die Sekundärtugenden wie Sauberkeit und Ordnung das Maß ihrer Vorstellung von Bildung sind. Für die Kinder – und um die sollte es bei all diesen Fragen ja vor allem gehen – ist dies alles der reinste Wahnsinn. Auf sie wurde im letzten halben Jahr ein irrsinniger Druck ausgeübt. Schon kurz nach Schuljahresbeginn wurde mit den Vergleichsarbeiten eine Drohkulisse aufgebaut. Auch diese bildungspolitische Neuerung in Brandenburg zeigt, wie radikal der Wunsch nach Auslese in der Mark ist. Vergleichsarbeiten sind eigentlich dazu da, um zu testen, ob Lehrer in der Lage sind, den Stoff an ihre Schüler zu vermitteln. Eine Idee, die zu begrüßen ist.

Doch was hat die rot-schwarze Koalition in Potsdam daraus gemacht? Einen zentralen Test, um den Übergang aufs Gymnasium zu erschweren. In Mathematik und Deutsch wurden die Kinder getestet und benotet. Und zwar so massiv, dass Schüler durch eine schlechte Arbeit daran scheitern konnten, die oben erwähnte Quersumme zu erreichen. In Mathe schafften die Kinder gerade mal einen Schnitt von 3,4 landesweit. Es gab auch Klassen, die deutlich besser waren. Deren Schüler hatten offensichtlich Glück. Doch es wird auch Klassen geben, in denen das schlechte Testergebnis für die Lehrkräfte zum unüberwindbaren Hindernis für Schüler wurde, um sich auf den Weg zum Abitur machen zu können. Verbunden war das mit Druck. I

mmer wieder wurde den Kindern erzählt, wie wichtig diese Vergleichsarbeiten sind. Die Unsicherheit der Lehrkräfte, die ja selbst nicht wussten, was auf sie zu- kommt, wurde an die Kinder weitergegeben. Statt die Lehrer erst einmal zu testen, dann die Ergebnisse auszuwerten und dann eventuell zentrale Tests einzuführen, entschied sich die Brandenburger Politik für die brutalste Variante: ungebremster Druck auf die gesamte Schulgemeinschaft.

Denn die Eltern mussten sich ja auch noch mit dieser Unsicherheit beschäftigen. Und ihre Kinder immer wieder aufbauen. Und jede Menge Nachhilfe organisieren. Zwar will Minister Rupprecht die Gewichtung der Vergleichsarbeiten im kommenden Jahr reduzieren. Dennoch sind sie zusammen mit den Grundschulgutachten eine unschlagbare Kombination, um die Zahl der potenziellen Abiturienten bloß nicht zu vergrößern. Und das in einer Zeit, in der uns die Akademiker ausgehen – vor allem in Brandenburg.

Der Text ist im Tagesspiegel erschienen.