Gnadenlos offen ist Emilia Smechowski in ihrem Buch „Wir Strebermigranten“. Sie erzählt ihre eigene Geschichte ohne sich und vor allem ihre Eltern zu schonen. Denn bei der Beantwortung der Frage, warum ausgerechnet die Polen in Deutschland Streber in der Anpassung sind, spürt sie der Motivlage ihrer Eltern nach.
Die Polen haben sich so angepasst, dass sie kaum oder gar nicht auffallen. Deshalb wissen viele Deutsche nicht, dass die zweitgrößte Gruppe der Einwanderer nach Deutschland Polen sind. Millionen von ihnen leben in Deutschland. Ohne sie würden viele Krankenhäuser nicht mehr funktionieren. Aber dennoch sind sie meist nicht sichtbar. Polen sind die zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland. Aber sie haben sich so angepasst, dass sie nicht auffallen.
Alexander Gauland, der Spitzenkandidat der AfD in Brandenburg, will nur aussprechen, was wahr ist. Deshalb meint er bei einer Wahlkampfveranstaltung in Frankfurt (Oder), Deutschland müsse bei der Einwanderung und bei der Zuwanderung genau schauen, welche Menschen mit uns leben wollen. Das ist simpel und niemand wird diesem Satz widersprechen. Aber Herr Gauland sagt auch, Deutschland nehme die falschen Menschen auf. Wer diese falschen Menschen konkret sind, sagt er aber nicht. Diese Lücke darf jeder füllen, wie er mag.
Alexander Gauland hat Beispiele von Situationen, die ihm nicht gefallen. Etwa, wenn sich Jesiden und Muslime in einer deutschen Innenstadt prügeln. Dem wird im ersten Moment auch niemand widersprechen. Aber vielleicht im zweiten? Wenn man darüber nachdenkt, dass Islamisten auf die Jesiden losgegangen sind, also Extremisten, die den Islam zur Ideologie pervertieren – und keine normalen Muslime. Alexander Gauland hat ein weiteres Beispiel: muslimische Antisemiten. Auch dem wird niemand widersprechen wollen. Noch dazu, wenn Gauland deutschen und ausländischen Antisemitismus gleichermaßen ablehnt.
Aber Alexander Gauland weigert sich zu beantworten, welche Migranten Deutschland denn aufnehmen sollte, wenn genauer darauf geachtet würde. Er wisse nur, wen wir nicht aufnehmen sollen. Nämlich Menschen, die in Parellelgesellschaften leben wollten. Und dort gegebenenfalls kriminell würden. Gauland sagt nicht, dass Menschen in Parallelgesellschaften kriminell sind. Aber er stellt den Zusammenhang her, der jeden dazu einlädt, genau diesen Gedanken zu denken. Denn Alexander Gauland sagt auch, dass vornehmlich Menschen aus dem Nahen Osten Probleme machten. Und die sind ja Muslime, kann sich jetzt jeder denken. Und Muslime sind ja gerne Antisemiten. Und Muslime sind gewaltbereit. Ließe sich die Kette der Beispiele Gaulands zu Ende denken.
All das lässt Alexander Gauland zu. Auch wenn 1,8 Millionen Muslime Deutsche sind. Und weitere zwei bis drei Millionen Muslime ohne deutschen Pass hier leben. Von denen nur die allerwenigsten kriminell sind. Oder gewaltbereit. Von denen allein die türkischstämmigen Muslime ca. 500.000 Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen haben und weitere Zehntausende Kleinunternehmer sind. Gauland sagt nichts explizit ausländerfeindliches. Aber er thematisiert nur problematisches. Und so lässt er jedem Islam-Hasser, jedem Fremdenfeind, die Möglichkeit zu denken, dass er bei ihm und seiner AfD gut aufgehoben sei. Für mich ist das Fischen im trüben, braunen Teich in der Hoffnung auf Wählerstimmen.
Ihr „r“ rollt so schön. Und ihre Betonung der zweiten statt der ersten Silbe erzeugt einen ganz eigenen Lesefluss. Olga Grjasnowa hat sich gut auf ihre gut einstündige Lesung vorbereitet. Sie liest nicht eine Passage am Stück, sondern hat etliche kleinere Szenen aus ihrem gesamten Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, die den Handlungsstrang erkennen lassen.
Leicht aufgeregt wird die Anspannung der Autorin durch mehrere Mikrophon-Aussetzer noch verstärkt. Dann wird ihr Deutsch mit dem schönen leichten Akzent leider etwas monoton. Die Konzentration des Zuhörers darf sich dann nicht von den Bücher- und CD-Regalen der der schönen Buchhandlung „Moby Dick“ in Prenzlauer Berg ablenken lassen. Denn dann wird es schwer zu folgen.
Deutlich wird das vor allem am Ende. Sie habe Mascha, die Protagonistin, ursprünglich noch böser angelegt, als sie dann im Roman wurde, meint Olga Grjasnowa auf eine Frage der Buchhändlerin. Doch Mascha kam bei der Lesung als überhaupt nicht böse an. Eher als Opfer, die einen Todesfall zu beklagen hat und bei der Einreise nach Israel bei der Kontrolle so sehr schikaniert wird, dass sogar der Laptop zerstört wird. Als eine Frau mit bösen Neigungen, wird Mascha nicht greifbar. Im Gegenteil: Die Lesung sorgt für viel Sympathie mit ihr.
Die Buchhandlung ist übrigens fast schon überfüllt. Viele Zuhörer sind um die 30. Sie fühlen sich angesprochen von dieser Geschichte, die im multikulturellen Milieu der gut ausgebildeten, mehrere Sprachen sprechenden Deutschen mit den Migrationshintergrund spielt. Und in der damit verbundenen Bindungslosigkeit, die bis zu zwischenzeitlichen Aufenthalten in der Psychiatrie reicht. Das ist alles auch sehr verwirrend. Und wahrscheinlich ein Grund, weshalb man den Roman doch lesen sollte. Neben der nach wie vor offenen Frage, warum Russen, Birken lieben. Und dieser Titel über einem Text steht, der eine Frau in den Mittelpunkt rückt, die aus Aserbaidschan stammt. Und: rollen die dort das „r“ auch so schön?
Ünal Yüksel kennt beide Seiten. Er ist in Berlin geboren, in Istanbul aufgewachsen und in Berlin erfolgreich geworden. Für den Musikproduzenten ist das Leben als Türke in Deutschland ganz selbstverständlich. Die türkische Tageszeitung Hürriyet hat ihn jetzt zu einem der 50 wichtigsten Türken in Deutschland gewählt. 1969 ist Ünal Yüksel in Berlin geboren. Seine Eltern sind türkische Gastarbeiter, wie das damals noch hieß. Der Vater ist Tischler und Zimmermann. Den Beruf hat er nach der 5. Klasse bei seinem älteren Bruder gelernt. Die Mutter arbeitet in Berlin bei den Deutschen Telefonwerken und lötet Platinen. Beide haben die Chance ergriffen, in einem fremden Land zu größerem Wohlstand zu kommen. Doch ganz trennen wollten sie sich damals von ihrer Heimat noch nicht. Das hat Sohn Ünal, der älteste von drei Söhnen, leidvoll erfahren. Seine Eltern haben ihn in Istanbul eingeschult. Sie wollten in die Türkei zurück. Und da dachten sie, dass es für den Sohn das Beste sei, wenn er von Anfang an in eine türkische Schule geht. „Ich bin da ins Internat gekommen und konnte kein Wort Türkisch,“ erinnert sich Ünal Yüksel. In Berlin hatte er Deutsch gesprochen. Für seine Mitschüler war er deshalb eher Deutscher als Türke. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert. Aus dem ursprünglich einem Jahr Internat wurden schnell zwei, vier und schließlich gar acht.
Jedes Jahr hieß es: Bleib noch eines, dann kommen wir nach. Doch irgendwann wollte Ünal das nicht mehr hören. Er wollte sein Leben nicht in einem Internat verbringen, sondern bei der Familie. Deshalb hat er seine Rückkehr nach Berlin durchgesetzt. „Endlich wieder Familie,“ freut sich Ünal Yüksel im Rückblick noch immer. Aber die Sicherheit der Familie war nicht alles. Denn jetzt wurde er mit dem gleichen Problem wie beim Umzug nach Istanbul konfrontiert: Er hatte die Sprache in den Jahren verloren. Zwar konnte er nun Türkisch, aber sein Deutsch war weg. Diese Grunderfahrung treibt Yüksel noch immer um. Deshalb engagiert er sich in Schulen mit hohem Migrantenanteil in Neukölln, Moabit oder Kreuzberg. Dort erzählt er von seinem Leben in der dritten Person und fragt die Schüler, was aus so einem Jugendlichen wohl geworden ist. „Opfer oder Drogenhändler,“ heißt es dann oft. Umso größer ist dann das Erstaunen, wenn er sagt: „Dieser ehemalige Jugendliche steht vor euch.“ Auf diesen Aha-Moment setzt er. Er will ein positives Beispiel sein. Denn die negative Grundhaltung vieler Migranten ärgert ihn. Positiv ist sein Beispiel in der Tat. Yüksel hat sich trotz der anfangs katastrophalen Deutschkenntnisse mit Disziplin und Hartnäckigkeit erst zum Abitur und dann zum Diplom-Audio-Ingenieur durchgebissen. „Die Eigenschaften habe ich von der Mama,“ lächelt er. Vom Vater hat er die Bereitschaft, die Selbständigkeit zu riskieren. Der hatte sich Ende der 80er Jahre als Zimmermann ein eigenes Geschäft aufgebaut.
Den Schülern sagt er: „Ihr müsst nur lernen. Eure Hemden bügeln eure Mütter. Der Staat bezahlt die gute Bildung. Ihr müsst dieses Angebot nur annehmen.“ Da seine Geschichte echt ist und er auch mit 42 Jahren authentisch geblieben ist, erreicht Ünal Yüksel die Jugendlichen. Damit sprengt er immer wieder Löcher in die Mauern der geistigen Ghettobildung, der etliche Jugendliche aus Bequemlichkeit, oder weil sie nicht anderes kennen, erliegen. „Aber den Hintern müssen sie dann schon noch selbst hoch bekommen.“ Ünal Yüksel hat es als Musiker und Musikproduzent geschafft. In der Schöneberger Hauptstraße hat er in den vergangenen 18 Monaten ein eigenes Studio gebaut. Er wollte mit seinen Bands nicht mehr in gemietete Studios. „Kreativität kannst du nicht planen. Wenn ich eine Idee habe, will ich einen Schlagzeuger oder einen anderen Musiker anrufen und ihm sagen: Komm vorbei. Ich will etwas ausprobieren.“ Das Studio ist frei schwingend in das alte Gemäuer eingehängt. Noch ist nicht jede Wand verputzt, aber aufgenommen wird schon. Unter dem Studio ist ein Club. Hier sollen bald Konzerte stattfinden, die er dann über das Studio kostenpflichtig ins Internet streamen will. Yüksel produziert für den türkischen und den deutschen Markt. Hier erreichte er als Labelinhaber mit seinem Künstler Muhabbet Charterfolge, remixte für Seeed „Ding“ als türkischen Song „Oy Güzelim Remix“ oder tritt als Veranstalter auf. In der kommenden Woche etwa mit dem „Delighted-Festival“ im Kreuzberger Atze-Musiktheater. Er bringt auf die Bühne, was er an Musik so liebt: „Grenzenlose Musik jenseits von Orient und Okzident“ wie das Festival im Untertitel heißt. Am 30. Oktober im Tempodrom tritt der türkische Superstar Sezen Aksu auf. Dieses Konzert ist für Yüksel etwas besonderes: „Wir feiern 50 Jahre Türken in Deutschland. Ich habe mir überlegt, welchen Beitrag wir dafür ohne staatliche Unterstützung aus Deutschland, der Türkei oder der Stadt Berlin leisten können.“ Für Ünal Yüksel ist das ein Statement in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ist es ein Grund, diese 50 Jahre türkische Migration nach Deutschland zu feiern. Schließlich ist er mit seinen 42 Jahren Teil dieser Geschichte. Und dann ist es für ihn ein Beleg, dass man den Freiraum, den Deutschland bietet, für sich und andere nutzen kann: „Alle sind dazu eingeladen.“
Das heißt nicht, dass Yüksel mit Deutschland vollständig im Reinen ist: „Mich ärgert, dass ich hier kein Wahlrecht habe, obwohl ich als gebürtiger Berliner hier lebe, Mitarbeiter beschäftige und Steuern zahle. Und mich ärgert, dass mir die doppelte Staatsbürgerschaft verweigert wird.“ Das ist für ihn ein Indiz, dass Deutschland auch 50 Jahre nach Beginn der Einwanderung die neue Rolle noch nicht vollständig akzeptiert hat. Die Art und Weise, wie die Integrationsdebatte geführt werde, hält Yüksel auch für ungerecht, weil in ihr stets die negativen Beispiele in den Vordergrund gerückt werden und nicht die vielen positiven. Doch all das wird ihn auch in Zukunft nicht davon abhalten, sich in Berlin und in der Türkei heimisch zu fühlen. Genauso wie er in Berliner Schulen seinen Beitrag für eine bessere Integration leistet, fliegt er für das Goethe-Institut nach Ankara, um mit deutschen, kosovarischen und türkischen Schülern auf Deutsch Musik zu machen. Austausch und gegenseitiges Kennenlernen sind seine Anliegen. Das lebt er mit seiner Musik, seinen Plattenfirmen und mit seinem Synchronstudio. Dieses Porträt ist am 29. September 2011 in der Märkischen Oderzeitung erschienen.