Politikversagen vor Gericht

Die Klage der Umlandgemeinden des Flughafens Schönefeld ist notwendig. Natürlich kämpfen sie für die Nachtruhe ihrer Einwohner. Selbstverständlich lehnen sie die schrittweise Aufweichung des Nachtflugverbots ab. Dass der Flughafenbetreiber auf der anderen Seite alles dafür tut, trotz der falschen Standortentscheidung dieses Verbot zu kippen, ist auch logisch. BBI soll ja ein wirtschaftlicher Erfolg werden.

Wenn solche Interessen aufeinanderprallen, ist eigentlich die Politik gefragt, um für einen Interessenausgleich zu sorgen. Doch das hat sie bislang nicht getan. Letztendlich wurde genau dieser vom Bundesverwaltungsgericht vorgegeben. Doch das Land Brandenburg hat den Kompromiss mit der Genehmigung der Nachtflüge aufkündigt. Und damit die wirtschaftlichen Interessen über die der Gesundheit Zehntausender gestellt.

Ärgerlich ist das Ganze auch, weil das Land in den vergangenen 15 Jahren den Zuzug tausender Familien in die betroffenen Gemeinden nicht nur geduldet, sondern mit Infrastrukturmaßnahmen sogar noch gefördert hat.

Feuchte Hände im Wahllokal

Bei einer Wahl ist das ganze Volk zu besichtigen. In der Loge sitzen die Wahlhelfer. An ihren Tischen flanieren Mitbürger vorbei, die das ganze Jahr nicht zu sehen waren. Aber für die meisten Menschen ist das Ereignis weit mehr als das Einwerfen eines Stück Papiers in einen Plastik­behälter.

Da ist der Erstwähler, der cool seinen Ausweis zückt, um sich fürs erste Mal zu registrieren. Doch als er den Wahlzettel in die Urne stecken will, knickt der um, will einfach nicht rein. Mit jedem Versuch, den Stimmzettel durch den Schlitz zu bugsieren, verfärbt sich sein Gesicht stärker ins Rot. Ist ja auch zu dumm, wenn man beim ersten Mal auf Ratschläge eines väterlichen Typs hören muss.

Oder das alte Ehepaar. „Vati, hast auch Deine Brille dabei?“ Schon steht eine ältere Dame hinter ihm in der Wahlkabine. Auf den Hinweis, dass die Wahl auch für Ehepartner geheim ist, folgt: „Da hast Du es Mutti. Ich kann das allein.“ Auch wenn er nicht allein an die Brille denken kann. Denn die braucht der alte Herr doch von seiner Frau.

Seit 15 Minuten sitzt der Mittvierziger auf dem kleinen Schulstuhl hinter der Sichtblende. Eigentlich muss er doch nur vier Kreuze machen. Warum dauert das so lang? „Ist jetzt die Erst- oder die Zweitstimme die wichtige?“, tönt es auf einmal aus der Kabine. Und als die Kreuze gemacht sind, sind seine Hände ganz feucht. So viele Parteien, so viele Kandidaten – und so viele Jahre, bis die Entscheidung korrigiert werden kann.

Das Problem hat die Mutter mit Baby nicht. Bei ihr muss es schnell gehen, denn als sie sich hinsetzt, fängt das Kleine an zu schreien. Während für sie die Wahl ganz wichtig ist, erzeugt die Politik bei ihm Verdruss. Aber für die meisten ist das Wählen etwas Besonderes. Viele sind schick angezogen. Andere unterbrechen die Radtour. Allen gemein ist ein Gefühl für den außergewöhnlichen Moment, in dem sie zum Souverän werden, der entscheiden darf.

Bundesregierung drückt sich vor der Verantwortung

Der Reeder der „Hansa Stavanger“ hat dem Warten ein Ende gemacht. Frank Leonhardt bezahlte den Piraten knapp zwei Millionen Euro, um die Mannschaft und das Schiff aus der Hand der Seeräuber zu befreien. Nach vier Monaten wollte er nicht länger auf das Handeln der Regierung warten. Seine Mitarbeiter und deren Familien werden es ihm danken.

Politisch ist sein Handeln fatal. Für die Piraten hat sich die Entführung wieder einmal gelohnt. Sie haben ihr Ziel erreicht und können in der Heimat ihren eigenen und den Wohlstand des Clans mehren. Dass sie dafür das Leben von 24 Besatzungsmitgliedern gefährdet haben, spielt aus ihrer Sicht keine Rolle. Allenfalls die Höhe des Lösegeldes dürfte bei ihnen für Diskussionen sorgen.

Die Bundesregierung hatte fest vor zu verhindern, dass Schiffe weiter freigekauft werden. Stattdessen sollte mit der EU-Mission Atalanta das Treiben der Piraten beendet werden. Doch die lassen sich nicht wirklich von den europäischen Kriegsschiffen stören. Zwar konnten einige Kaperfahrten verhindert werden, doch andere gelangen dennoch. Eine militärische Schiffs-Befreiung gab es noch nicht. Der Abschreckungseffekt auf die Piraten dürfte also äußerst gering sein.

Im aktuellen Fall konnten die Piraten noch dazu einfach nach Hause fahren. Sie wurden nicht verfolgt und gestellt. Eine Gefahr für Leib und Leben haben sie nicht verspürt. Das ist fatal. Denn der Einsatz von Soldaten ist nur sinnvoll, wenn diese im Ernstfall auch eingesetzt werden, um die Piraten gefangen zu nehmen und im schlimmsten Fall auch Gewalt anzuwenden. Nur wenn die Piraten wissen, dass sie sich selbst gefährden, kann eine dauerhafte Abschreckung für sichere Seewege sorgen.

Wenn man bedenkt, dass das Verteidigungsministerium vor allem an die Eigenverantwortung der Reeder appelliert, statt selbst aktiv zu schützen, dann wird deutlich, dass die Abschreckung gar nicht so ernsthaft gewollt wird. Wer statt auf Geleitschutz auf freiwillige Konvois ohne militärische Sicherung setzt, drückt sich vor der Verantwortung. Und darf sich dann nicht wundern, wenn die Reeder tatsächlich selbständig handeln und Lösegeld zahlen.

Die Sorge um unsere Kinder

Die Zahl ist dramatisch: In 32.300 Fällen haben Jugendämter Kinder 2008 in ein Heim gebracht, um sie vor den Zuständen zu Hause zu schützen. Das Eingreifen der Ämter wird dabei von Familiengerichten gestützt. Voraussetzung ist die Gefährdung der Kinder. Nach den Fällen verhungerter und verwahrloster Kinder zeugt die Zunahme um mehr als 14 Prozent von einer größeren Aufmerksamkeit der Jugendämter.

Das ist erfreulich, denn die höhere Sensibilität der Ämter geht mit mehr Achtsamkeit von Schulen, Ärzten und Nachbarn einher. Die Gesellschaft schaut inzwischen genauer hin. Es ist wieder selbstverständlich, dass Kinder geschützt werden müssen – notfalls auch vor den eigenen Eltern.

Die fühlen sich oft überfordert. Dafür gibt es objektive Gründe. Den Entzug der Kinder können diese aber nur im äußersten Notfall rechtfertigen. Es besteht die Gefahr, dass Jugendämter Kinder aus Familien nehmen, weil sie sich nichts vorwerfen lassen wollen. Vor allem dort, wo sich zu wenige Mitarbeiter um zu viele Fälle kümmern müssen.

Dann aber wäre der Entzug der Kinder nichts anderes als ein Versagen der verantwortlichen Kommunalpolitiker. Immerhin gibt es auch Kommunen mit gegenläufigem Trend. Dort wird in Vorbeugung investiert. Jugend- oder Gesundheitsämter gehen kurz nach der Geburt zu den Eltern. Der Babybesuchsdienst erklärt, dass es Beratungsangebote gibt. Er zeigt jungen Eltern, dass sie mit ihren Problemen nicht alleingelassen werden. Und er baut Angst vor dem Amt ab.

Dazu müssen die Ämter qualitativ und quantitativ gut ausgestattet sein. Nur so können sie das notwendige Netzwerk aufbauen, das Eltern hilft. Nur dann bleibt Zeit, um Familien so zu begleiten, dass sie nicht langsam in eine Spirale aus Vernachlässigung, Angst und schlimmstenfalls Gewalt abrutschen.

Denn der eigentliche Auftrag der Jugendämter ist nicht die Herausnahme der Kinder aus den Familien, sondern Hilfe. Wenn die erfolgreichen Präventionsmodelle ausgebaut werden, dann besteht die Chance, dass weniger Kinder ins Heim müssen – und sie dennoch nicht gefährdet sind.

Wohlfeiler Unsinn

Ist der Wähler nicht willig, dann zwingen wir ihn. Frei nach diesem Motto diskutiert die Politik nach der schlechten Wahlbeteiligung bei der Europawahl sogar über eine Strafgebühr für Wahlab-stinenz. 50 Euro soll es dem mündigen Bürger wert sein, wenn ihm keine Partei ein Kreuzchen wert ist. Das ist nicht nur blanker Unsinn. Es ist ein Angriff auf das Grundrecht auf Wahlfreiheit, zu dem auch Enthaltung und Verweigerung gehören. Und es ist ein Armutszeugnis. Denn sie macht selbst wählende Bürger nachdenklich, ob solche Politiker tatsächlich wählbar sind.

In die richtige Richtung geht die Forderung nach der Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Allerdings müsste dann dem Parlament in Straßburg auch mehr Verantwortung übertragen werden. Denn einen starken Präsidenten muss ein starkes Parlament kontrollieren. Aber selbst diese institutionellen Veränderungen würden die Lust auf Europa nicht steigern, solange die nationale Politik mit Europa nicht ehrlich umgeht. Etwa wenn sie in Brüssel der Antidiskriminierungs-Richtlinie zustimmt, zuhause aber mit Schaum vor dem Mund dagegen ankämpft.

Erhart Neuberts großes Buch über die friedliche Revolution

Erhart Neubert: Unsere Revolution
Erhart Neubert: Unsere Revolution

Erhart Neubert hat ein Buch geschrieben, das es in sich hat. Als einer der wichtigen Akteure der friedlichen Revolution hat er Geschichte geschrieben. Jetzt schreibt er als Historiker diese Geschichte auf. Das gelingt ihm hervorragend.

Sein Blick beleuchtet die Basisgruppen in den DDR-Bezirken genauso wie die große Politik. Und er selbst bringt sich ebenfalls ein. Dabei entsteht eine packende Wende-Geschichte, die sehr genau ist – und die Kraft, den Mut und die Entschlossenheit der Akteure aufzeigt.

Aber auch die Rückschläge und die Verzagtheit ganz vieler. Das Buch hat das Zeug zum Standardwerk. Es ist ein Muss, für alle die das Jubiläumsjahr 2009 ernst nehmen.

Erhart Neubert: UNSERE REVOLUTION – DIE GESCHICHTE DER JAHRE 1989/90. PIPER, 24,90 EURO

Diese Rezension ist am 27. Dezember 2008 in 20cent erschienen.

Herbert Marcuse ist nach wie vor aktuell

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch
Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch

1964 ist das Hauptwerk des Philosophen und Soziologen Herbert Marcuse erschienen. Der eindimensionale Mensch ist das zentrale Werk, auf das sich die Studentenbewegung der 68er bezieht. Marcuse stellt fest, dass die Industriegesellschaft genug Mittel hat, den Hunger und die Krankheiten der Welt zu bekämpfen. Aber die Mittel werden falsch eingesetzt.

Sie werden zur Zerstreuung eingesetzt, zur vollständigen Herrschaft der Wirtschaft und ihrer Produkte über den Menschen. Das stete Wirtschaftswachstum hat nach Marcuse dazu geführt, dass immer Menschen am Wohlstand teilhaben. Aber zum Preis der  Unterentwicklung der armen Länder. Das ist auch heute noch lesenswert.

Herbert Marcuse: DER EINDIMENSIONALE MENSCH, DTV 9,90 EURO.

Andreas Eschbach beschwört das Ende des Erdöl-Zeitalters

Andreas Eschbach: Ausgebrannt
Andreas Eschbach: Ausgebrannt

Die Ölkrise hat die Welt fest im Griff. Steigende Benzinpreise und keine Aussicht auf eine dauerhaft sichere Ölversorgung beunruhigen Wirtschaft und Verbraucher. Andreas
Eschbach hat mit „Ausgebrannt“ einen Thriller über das Versiegen der Ölversorgung
geschrieben, der viel von dem vorweg nahm, was jetzt in der Zeitung steht. Die junge Cottbuser Tageszeitung 20 cent sprach mit dem Autor.

Überall in Europa blockieren Lkw-Fahrer Autobahnen, in Spanien kam es sogar zu Toten.
Die Realität des Sommers 2008 liest sich wie ein Teil Ihres Romans.

Ja, aber wie ein ziemlich weit vorn liegender Teil. Das, was zur Zeit passiert, sind alles noch Peanuts im Vergleich zu dem, was passieren wird, sobald es richtig abwärts geht mit
der Ölförderung.

Auch die Geschichte mit den französischen Fischern konnten wir schon bei Ihnen lesen.
Wie haben Sie Ihr Szenario vom ausgehenden Öl entwickelt?

Das war so schwierig nicht, schließlich ist schon seit Jahrzehnten klar, dass es sich bei
Rohöl um eine endliche Ressource handelt, die irgendwann zur Neige gehen muss. Zumal
wir diesen Rohstoff ja mit ungeheurer Geschwindigkeit verbrauchen, viele Millionen Liter
jeden Tag. Und weil das eben seit Jahrzehnten klar ist, existiert natürlich auch schon ungeheuer viel Literatur zu diesem Thema; alle Aspekte sind längst diskutiert und gründlich von allen Seiten beleuchtet worden.

Was waren Ihre wichtigsten Quellen?

Da müsste ich nachsehen und lange grübeln, welches Buch wie wichtig war. Auf jeden Fall
waren Bücher wichtiger als Internetquellen, soviel kann ich sagen. Und das Bemerkenswerteste fand ich, dass ich gar nicht lange danach suchen musste: Das meiste von dem, was ich verwendet habe, stand schon lange in meinem Bücherschrank! Das scheint mir irgendwie eine Metapher zu sein für das Grundproblem des Ganzen: Dass wir keinen Plan B, keine Alternative zum Öl entwickelt haben, sondern es vorziehen, die Augen vor dem Problem zu verschließen.

Und wann sind Sie auf die Idee gekommen, daraus einen Roman zu schreiben?

Ich bin in irgendeinem Buch auf den Satz gestoßen, mit dem mein Roman anfängt: Auch mit dem letzten Tropfen Benzin kann man noch beschleunigen. In diesem Moment stand mir die Grundstruktur der ganzen Geschichte vor Augen, mit einem Schlag. Und wenn so etwas passiert, dann ist klar, den Roman muss man schreiben.

Wenn Sie nun die Realität mit Ihrem Szenario vergleichen, wo lagen Sie richtig, wo falsch?

Falsch liege ich – wobei mir das von vornherein klar war und ich dazu nur sagen kann: Gott
sei Dank! – mit dem Szenario,dass das saudische Öl auf einen Schlag versiegt. Die Möglichkeit, dass das passieren könnte, hat nach Aussagen von Experten immer bestanden, aber wie es aussieht, haben es die Saudis hingekriegt, das zu vermeiden. Wobei ihre Förderung zurückgeht, das haben sie inzwischen eingeräumt. Mit dem Rest liege ich, fürchte ich, richtiger als uns lieb sein kann.

Sie sind sehr pessimistisch, wenn es um neue Ölfelder geht. Warum?

Schauen Sie, selbst wenn ein Ölfeld gefunden wird, das eine Milliarde Barrel Öl enthält, was dann schon in den Medien berichtet wird, so selten passiert es, dann dauert es erstens
noch ziemlich lange, ehe das Öl erschlossen werden kann, und dann deckt diese Menge den
Weltbedarf rechnerisch trotzdem nur gerade mal zwei Wochen. Es ist einfach so, dass seit
Jahren mehr Öl verbraucht als neu gefunden wird – das bestreiten übrigens nicht einmal
die Ölkonzerne selbst, und auch nicht, dass das in der Natur der Sache liegt. Die Kurve
der Funde geht schon lange nach unten, die Kurve der Förderung muss ihr also zwangsläufig folgen.

Dass das Verbrennen von Erdöl auch für das Klima eine Katastrophe ist, haben Sie in
Ihrem Thriller ausgelassen.

Es kommt nur einmal kurz vor. Das Buch ist schon so dick genug. Und ich bin mir nicht
sicher, welche der beiden Entwicklungen bedrohlicher ist – das Versiegen des Öls oder die
Erwärmung des Erdklimas. Ich sehe da zwei Schneiden einer Schere auf uns zukommen.

Al Gore will es in zehn Jahren schaffen, die USA von der Droge Öl zu entziehen. Ist das
realistisch oder so fantastisch wie ein schlechter Roman?

Nun, wenn es darum ging, irgendwelche gigantischen und allgemein für unmöglich gehaltenen Projekte durchzuziehen, haben die Amerikaner den Rest der Welt in der Vergangenheit immer zu verblüffen gewusst. Ob sie das allerdings heutzutage noch drauf haben, mit einer entkernten und doch eher labilen Wirtschaft, weiß ich nicht. Es wäre zu wünschen. Mehr gespannt bin ich aber auf die Schweden, die ja von Öl UND Atomkraft wegkommen wollen. Schweden, man stelle sich vor! Mit Solarenergie ist dort ja nicht viel zu holen.

Haben Sie aus Ihrem Wissen auch persönliche Konsequenzen gezogen? Wie heizen Sie?
Wie bewegen Sie sich fort?

Ich bin geborener Schwabe, da neigt man ohnehin zur Sparsamkeit. Aber das Haus, das
wir gekauft haben, ist in der Tat noch mit einer Ölheizung ausgestattet, und wir leben auf
dem Land in einer Gegend, wo man ohne Auto verloren ist.

Wollen Sie das ändern?

Natürlich. Bloß: Was macht man stattdessen? Das ist ja gerade das Problem.

Brandenburger Vergleichsarbeiten als Drohkulisse

Die Grundschulgutachten sind da. Die Kinder der sechsten Klassen in Brandenburg wissen, welchen Bildungsgang ihre Lehrer ihnen zutrauen. Für diejenigen, die eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen haben und den Notenschnitt erfüllen, ist alles klar. Andere können beim Probeunterricht im April ihr Ziel noch erreichen. Was auf den ersten Blick ganz sinnvoll wirkt, ist aber vor allem bei der Gymnasialempfehlung oft eine Farce. Denn viele Lehrer bewerten nicht die Fähigkeiten der Schüler. Sie machen sich nicht die Mühe, die Kreativität, das soziale Engagement, die Familiensituation zu beurteilen, um daraus abzuleiten, ob ein Kind das Gymnasium bestehen dürfte.

Nein, sie schauen einfach auf die Note. Wer eine Zwei hat, bekommt die Empfehlung, wer schlechter ist, bekommt sie nicht. In der Regel tun sich diejenigen Lehrer am schwersten mit dieser Unterscheidung, die auf Auswendiglernen gesteigerten Wert legen, und für die Sekundärtugenden wie Sauberkeit und Ordnung das Maß ihrer Vorstellung von Bildung sind. Für die Kinder – und um die sollte es bei all diesen Fragen ja vor allem gehen – ist dies alles der reinste Wahnsinn. Auf sie wurde im letzten halben Jahr ein irrsinniger Druck ausgeübt. Schon kurz nach Schuljahresbeginn wurde mit den Vergleichsarbeiten eine Drohkulisse aufgebaut. Auch diese bildungspolitische Neuerung in Brandenburg zeigt, wie radikal der Wunsch nach Auslese in der Mark ist. Vergleichsarbeiten sind eigentlich dazu da, um zu testen, ob Lehrer in der Lage sind, den Stoff an ihre Schüler zu vermitteln. Eine Idee, die zu begrüßen ist.

Doch was hat die rot-schwarze Koalition in Potsdam daraus gemacht? Einen zentralen Test, um den Übergang aufs Gymnasium zu erschweren. In Mathematik und Deutsch wurden die Kinder getestet und benotet. Und zwar so massiv, dass Schüler durch eine schlechte Arbeit daran scheitern konnten, die oben erwähnte Quersumme zu erreichen. In Mathe schafften die Kinder gerade mal einen Schnitt von 3,4 landesweit. Es gab auch Klassen, die deutlich besser waren. Deren Schüler hatten offensichtlich Glück. Doch es wird auch Klassen geben, in denen das schlechte Testergebnis für die Lehrkräfte zum unüberwindbaren Hindernis für Schüler wurde, um sich auf den Weg zum Abitur machen zu können. Verbunden war das mit Druck. I

mmer wieder wurde den Kindern erzählt, wie wichtig diese Vergleichsarbeiten sind. Die Unsicherheit der Lehrkräfte, die ja selbst nicht wussten, was auf sie zu- kommt, wurde an die Kinder weitergegeben. Statt die Lehrer erst einmal zu testen, dann die Ergebnisse auszuwerten und dann eventuell zentrale Tests einzuführen, entschied sich die Brandenburger Politik für die brutalste Variante: ungebremster Druck auf die gesamte Schulgemeinschaft.

Denn die Eltern mussten sich ja auch noch mit dieser Unsicherheit beschäftigen. Und ihre Kinder immer wieder aufbauen. Und jede Menge Nachhilfe organisieren. Zwar will Minister Rupprecht die Gewichtung der Vergleichsarbeiten im kommenden Jahr reduzieren. Dennoch sind sie zusammen mit den Grundschulgutachten eine unschlagbare Kombination, um die Zahl der potenziellen Abiturienten bloß nicht zu vergrößern. Und das in einer Zeit, in der uns die Akademiker ausgehen – vor allem in Brandenburg.

Der Text ist im Tagesspiegel erschienen.

Thomas Weiss zu seinem Buch „Tod eines Trüffelschweins“

Der Fall Grohe machte Schlagzeilen. Die Übernahme des Traditions-Unternehmens durch
eine „Heuschrecke“ und die anschließende Schließung vor zwei Jahren erregte weit über Herzberg hinaus die Gemüter. Der Berliner Autor Thomas Weiss hat sich den Fall als Vorlage für einen irritierenden Text gewählt. Weiss beschreibt darin, wie der Kampf gegen
Ungerechtigkeiten der Globalisierung in Terror münden könnte.

Wie sind Sie auf den Fall Grohe gekommen?

Ich habe im WDR eine Dokumentation darüber gesehen. Als ich das sah, dachte ich mir, dass ich das unbedingt machen will. Das hat mich dann schon gereizt.

Waren Sie mal in Herzberg?

Nein.

Sie sind da noch nicht hingefahren und haben sich das angeschaut?

Nein. Das Buch sollte nicht konkret den Fall Grohe darstellen. Natürlich ist es – daran angelehnt, aber ich wollte einen allgemeineren Text schreiben. Der konkrete Fall Grohe interessierte mich, um einen besonders krassen Fall einer Firmenübernahme durch Finanzinvestoren zu schildern. Darüber habe ich viel recherchiert.

Aber Grothe und Nierenberg im Buch sind doch Grohe und Herzberg?

Das drängt sich auf, sicherlich, trotzdem bilde ich den Fall Grohe nicht eins zu eins ab, sondern überziehe ihn mit einer fiktiven Handlung.

Dieses Thema mit der RAF zu kombinieren, ist schon ein waghalsiges Unterfangen.

Angetrieben hat mich die Bekanntschaft mit einem Mann, der zu dieser Zeit bei der GSG 9 war. Bei einem Gespräch kamen wir auch auf den Fall Grohe. Er fand das auch sehr negativ, zutiefst ungerecht. Da kam mir die Idee, dass man das Leben eines GSG-9ers mit der Globalisierung verknüpfen könnte. Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Umstände der Befreiung von Mogadischu auch spannend sind. Mein Bekannter hat mir viel über den Heldenstatus der GSG-9-Mitglieder erzählt. Und davon, dass sich im Laufe der Zeit etliche
umgebracht haben. Das weiß kaum jemand. Und da dachte ich mir, diese Vermischung des
Denkens . . .

. . . des Gerechtigkeitsempfindens und der Sympathie zwischen den RAF-Terroristen und GSG-9-ern ist beim Lesen sehr verwirrend.

Genau darum ging es mir. Ich wollte keine wissenschaftliche Abhandlung über Firmen-Übernahmen schreiben. Die konkreten Auswirkungen an einem tatsächlichen Beispiel waren deshalb wichtig.

Aber das hat ja nichts mit Terrorismus zu tun.

Die Tat Heusers – der Hauptfigur – schon. Sie ist ja im Grunde eine terroristische Tat. Den Zusammenhang mit der RAF herzustellen, war dennoch schwierig. Das ist natürlich sehr gewagt. Aber das Vorgehen solch eines Finanzinvestors wie im Fall Grohe ist ja auch gewagt. Es ist doch das Allerletzte, wenn man aus persönlicher Profitgier Leute rausschmeißt und einen profitablen Betrieb schließt. Ich finde das unfassbar: Der Betrieb
produzierte mit Gewinn. Doch weil anderswo mehr Profit möglich war, werden einfach die Leute rausgeschmissen und der Betrieb geschlossen.

Auch das hat noch nichts mit Terror zu tun.

Wie gesagt, Heuser ist ja eigentlich der Terrorist. Ich konnte mir einfach vorstellen, dass in solch einer Situation – jemand sagt: Jetzt ist mir auch – alles egal! Für ein Buch ist das eine reizvolle Konstellation. Wenn auf der einen Seite ein Investor sagt, ihm ist alles egal  und auf der anderen ein Mitarbeiter das gleiche sagt.

Das kann als Rechtfertigung verstanden werden.

Mit dieser Verknüpfung rechtfertige ich keine terroristischen Anschläge. Aber bei der  Diskussion über die Begnadigung von Christian Klar ging es auch um Reue, um die Frage, wie steht ein Mensch zu seinen Taten. Eine ähnliche Frage stelle ich auch.

Vor 20 Jahren wäre ein Text wie Ihrer kaum denkbar gewesen.

Ich stelle nur einen Standpunkt dar, ich sympathisiere aber nicht mit der RAF. Das würde ich nie machen. Natürlich habe ich auch über sie recherchiert. Ihre Vorstellungen waren völlig absurd. Erstaunlicherweise gibt es Parallelen zwischen der GSG 9 und der RAF auch in der Sicht auf die Welt. Bei beiden ist sie eher schwarz-weiß. Das hat radikale Konsequenzen. Dieser Radikalität wollte ich mit meinem Buch entsprechen. Das Denken der GSG 9 und der RAF war knallhart, so wie das Buch. Diese Gemeinsamkeiten zwischen den total gegensätzlichen Polen sind vorhanden. Und genau die stelle ich dar.

Globalisierungskritik ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und Sie schreiben einen Text, der sagt: Globalisierung ist so brutal und menschenverachtend, dass selbst die Ermordung von Menschen im Namen einer Gerechtigkeit nachvollziehbar ist.

Der Täter Heuser behauptet das. Ich kann mir lediglich vorstellen, dass der Täter Heuser das behauptet.

Sie spielen aber damit, dass der Leser in diesen Sog mit reingezogen wird.

In meinem Buch steht auch, dass die RAF furchtbare Morde mit schrecklicher Brutalität
verübte. Dennoch können diese Taten nicht aus reiner Mordlust erklärt werden. Es steckte eine politische Idee dahinter, die völlig fatal umgesetzt wurde. Betrachtet man den Vietnam-Krieg, wird nachvollziehbar, woraus die RAF entstanden ist. Dass sie dann mit ihren Bomben dieselben Mittel anwandte – übrigens genauso die Genickschussmentalität
der Nazis – zeigt auch, wie irrsinnig dieser Weg war.

Es geht also um die Schwelle, die Gewalt legitimiert?

Genau. Irgendwann gibt es dieses Maß, das übertroffen wird. Meine Figur Klaus Heuser, der ehemalige GSG-9-Beamte, begründet mit dem Namen „Kommando Georg Elser“, dass er tötet. Heuser sagt, dass es einen Moment gibt, in dem man töten darf. Georg Elser durfte
ja auch, aus unserer Sicht, 1939 versuchen, Hitler zu töten. Das ist natürlich ein Extremfall. Aber wenn man diese Hierarchie nach unten geht, dann kommt man ein ganzes Stück weit. Irgendwann gelangt man dann an den Punkt, an dem das Töten nicht mehr zu  rechtfertigen ist. Aber wo ist dieser Punkt? Das ist sehr schwer zu fassen.

Damit wird der mörderische Widerstand gegen die Globalisierung mit dem Widerstand gegen Hitler auf eine Stufe gestellt.

Die Problematik war und ist mir bewusst. Wenn man sich mehr mit dem Fall Grohe beschäftigt, entsteht ein Wutempfinden. Genau das stelle ich überspitzt dar und frage, was noch passieren könnte. Aber der Mord nützte ja nichts.Hinterher ist alles so, dass die Tat
sinnlos war. So wie die Morde der RAF sinnlos waren. Aber damit zu spielen, dass jemand sagt, er sei immer noch für Gerechtigkeit im radikalen Sinn, war für mich reizvoll. Dabei schwingt auch die Mogadischu-Geschichte mit. In diesem Fall sagt auch jeder: „Völlig klar, dass die GSG 9 die Maschine stürmen und die Terroristen erschießen musste.“ Für die Passagiere war die Entführung eine unglaubliche Quälerei. Das ist ganz furchtbar, was  diesen Leuten angetan wurde. Trotzdem hatten – auch die palästinensischen Entführer irgendwo politische Motive, die sich aus ihrer ganz persönlichen Geschichte ergaben.

Würden Sie selbst als Privatmensch politische Forderungen ableiten aus der Beschäftigung im Fall Grohe?

Ich finde, dass Praktiken wie im Fall Grohe nicht legal bleiben dürfen, vor allem, was die Überschuldung des übernommenen Unternehmens durch den eigenen Kaufpreis betrifft. Das kann man bestimmt irgendwie lösen, ohne dass dadurch Deutschland gleich wirtschaftlich untergeht.

Hätten Sie Lust, aus Ihrem Buch in Herzberg oder der Region zu lesen?

Ja, auf jeden Fall. Ich rechne eigentlich damit, dass das so kommt.

Thomas Weiss: „Tod eines Trüffelschweins“, Steidl Verlag, gebunden, 130 Seiten, 14 Euro.