Es ist ein Segen, wie offensiv Barrie Kosky seine Identität lebt. Der Australier, dessen Vorfahren Juden aus Ungarn, Polen und Russland waren, ist Intendant der Komischen Oper. Er ist bekennender Schwuler und hat kein Problem damit die Fülle seiner (Minderheiten-) Identitäten offensiv zu leben. Das ist ein Segen. Denn Barrie Kosky ist Teil einer Vielfalt, die noch vor 30 oder 40 Jahren in Deutschland keine Chance hatte. Jetzt aber lädt Kosky zu einem jiddischen Liederabend. Zusammen mit den Sängerinnen Alma Sadé und Helene Schneiderman feierte er damit einen fulminanten Erfolg. Und das völlig zu Recht.
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Fundstück (5) im Antiquariat: Die Verlustanzeige von Karl Frucht
Bei eBay gibt es eine schöne Funktion. Mit ihr kann man sich per Mail darüber informieren lassen, wenn jemand verkaufen will, was man selbst kaufen will. Sie ist ein Verführungsinstrument aller schlimmster Güte. Denn wenn so eine Mail kommt und sich in ihr findet, was man sucht, so ist es schwer zu widerstehen. Vor allem für Sammler sind diese Benachrichtigungen oftmals wahre Folterinstumente. Wenn der Blick in den Geldbeutel offenbart, dass dieses Buch jetzt doch nicht gekauft werden kann, entsteht ein Gefühl von Selbstkasteiung.
Manchmal aber liefert die Benachrichtigungsfunktion über Jahre hinweg keinen Treffer. Auch die regelmäßige Suchanfrage im ZVAB, dem Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher bleibt bei ihnen lange ohne Ergebnis. Was auf der einen Seite sehr traurig ist, auf der anderen aber auch gut, weil sie mich davor bewahrt, eine Kaufentscheidung treffen zu müssen. „Es konnten momentan leider keine Einträge gefunden werden“, steht dann da. Das elektrisierende Gefühl beim Finden bleibt aus. Aber der Kopf entspannt sich, weil er jetzt nichts entscheiden muss.
Umso erregender ist es dann, wenn sich so ein Buch tatsächlich findet. Und zwar im Antiquariat oder auf einem Krabbeltisch. Als ich den unscheinbaren braunen Einband des Buchrückens von Karl Fruchts „Verlustanzeige – Ein Überlebensbericht“ entzifferte, durchzuckte mich dieses wunderbare Gefühl des Findens. Ein Buch, das sich jahrelang im Netz nicht finden ließ, lag mit dem Buchrücken nach oben in einer dieser Pappkisten, die gerne vor Antiquariaten stehen. in echt – und nicht nur als als Bild mit Text in der Trefferliste eines Suchergebnisses. Mit Briefmarken und Absenderaufkleber eines Briefes einer Frau aus Kassel, als die Postleitzahlen noch vierstellig waren. In einem Zustand, als wäre es neu.
Das Buch beschreibt einen dieser für heutige Leser unfassbaren Lebenswege. 1911 geboren, als Jude in Wien aufgewachsen, zum Juristen ausgebildet, aber zusammen mit der lebenslangen Freundin Hertha Pauli eine Literaturagentur gegründet, die Ödön von Horváth, Walter Mehring, Joseph Roth und viele andere vor allem an Zeitschriften und Zeitungen vermittelte, dann 1938 direkt nach dem „Anschluss“ geflohen, in Frankreich interniert und als Helfer Varian Frys schließlich in die USA entkommen. Zeitweise Soldat in der tschechischen und der französischen Armee und schließlich als amerikanischer Soldat Teilnehmer des 2. Weltkrieges, der Gefangene der Wehrmacht verhört. Dann Leben in den USA und arbeiten in der Rüstungsindustrie als technischer Schreiber, später bei der UNO in der Weltgesundheitsorganisation und für den Tierschutz. All das als Nomade, der die alte Heimat nicht vergessen kann, sie mit den Überlebenden wie dem Freund George Grosz oder Hertha Pauli immer erinnert – und bei den Aufenthalten in Wien versucht zu spüren. Doch da gibt es die Caféhauskultur nicht mehr. Die Schriftsteller, die er als Agent betreute, sind fast alle geflohen, die meisten haben die Befreiung nicht mehr erlebt.
Das Buch ist ein wirkliches Fundstück. Es ist gut geschrieben, ist nicht zu nah am Autor und doch auch nie entfernt. Der Text lässt einen Staunen ob der reichhaltigen Erlebnisse und Verzweifeln, weil der Verlust durch die Nazis so spürbar wird. Ein Glück gibt es Antiquariate, die verhindern, dass solche Bücher ins Altpapier wandern, weil dir Erben der Besitzer nichts mit dem Namen des Autors anfangen können. Und die beim Finder dieses elektrisierende Gefühl auslösen. Und beim Leser das Wechselbad zwischen Trauer und Bewunderung und Freude.
Weitere Fundstücke im Antiquariat:
Walter Mehrings Autograph
Ludwig Börnes Verhaftung
Kostbarkeiten bei Alfred Polgar
Ein Theaterzettel von 1931
Die Verlustanzeige von Karl Frucht
Andreas Oppermann erinnert 1860 an Palermo
Der Einbildungsroman von Erwin Blumenfeld verblüfft auf jeder Seite
Viele Autobiografien verklären das eigene Leben. Erwin Blumenfelds „Einbildungsroman“ tut das nicht. Dieses Buch, das Anfang der 60er-Jahre geschrieben wurde, nennt sich bewusst „Roman“. Und es zeugt von der Einbildungskraft des Berliners, der über Holland und Paris in New York zu einem der ganz Großen der Modefotografie wurde. Doch davor war Dadaist, Modewarenhändler und Pleitier.
Erwin Blumenfelds Buch, das bereits 1998 in der Anderen Bibliothek erschienen ist, lebt von der unglaublich kraftvollen und lebendigen Sprache. Sprachbilder wie das des Titels vom „Einbildungsroman“ durchziehen alle Seiten. Das bremst zwar den Lesefluß, erheitert und erhellt aber umso mehr. Da erinnert sich einer, der nicht nur etwas zu erzählen hat, sondern der das auch noch außergewöhnlich schonungslos und phantasievoll macht.
1897 ist Blumenfeld als Sohn eines jüdischen Händlers geboren worden, der mehr sein wollte. Vor allem auch, weil seine Frau – also Erwins Mutter – tatsächlich aus gutbürgerlichem, jüdischen Hause stammte. Blumenfeld nimmt die Verlogenheit in de Familie schonungslos als Motiv des Lebens vor und während des 1. Weltkrieges in der gesamten Gesellschaft ins Blickfeld. Das ist sehr dicht erzählt und raubt manchmal den Atem, wenn die Details zu intim, zu krass sind. Etwa, wenn die Mutter den eigenen Sohn am Ende des Weltkrieges als Deserteur bei der Polizei anzeigt, weil dieser sich mit seine Verlobten in deren holländische Heimat absetzen will. Dass der Drang, als gute Deutsche dastehen zu wollen, stärker ist, als den Sohn lebend in Sicherheit vor dem schon verlorenen Krieg wissen zu wollen, charakterisiert dies gut.
Blumenfeld schildert das eindringlich, immer mitten aus dem Geschehen. Er versucht keine Distanz zu sich aufzubauen. Auch nicht, wenn er über seinen Dienst in einem Armeebordell an der Westfront schreibt. Oder wenn er schildert, wie er zusammen mit George Grosz und Walter Mehring direkt nach dem Krieg eine Orgie feierte. Blumenfeld macht aus sich keinen Heiligen und keinen Schuft. Er spricht nicht von Genie – obwohl er ein phantastischer Fotograf war. Er schreibt von Glück und Zufällen, von verpassten und genutzten Chancen. Von Enttäuschungen, als er nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen 1940 Hilfe am nötigsten gebaucht hätte. Und bei all dem feiert er die Lust am Eigensinn. Oder mit einem anderen Wort: die Freiheit.
Mehr über Bücher der Anderen Bibliothek
Martin Pollack findet den Kaiser von Amerika
Martin Pollack hat sich einen Namen mit ausführlichen historischen Reportagen gemacht, die den Wahnsinn des Nationalismus im multikulturellen Österreich und den Nachfolgestaaten der Doppel-Monarchie hatten. Auch sein neues Buch beschreibt ein historisches Phänomen. Im „Kaiser von Amerika“ nimmt er sich der Auswandererbewegung galizischer Juden im späten 19. Jahrhundert an.
Pollack zeigt den Lesern eine vergangene Welt. Und dennoch denkt man bei jeder Seite an die Gegenwart. Nur dass die USA von damals die EU von heute ist. Und dass die Schleuser nicht mehr mit Schiffspassagen nach New York locken, sondern mit der Einreise in die Festung Europa. Anhand eines Prozesses, bei dem Beamte, Schiffsagenten, Frauenhändler und viele weitere verurteilt wurden, drängen sich die Parallelen ständig auf. Pollacks Kunst ist es, nie auch nur einen Hauch von Aktualität in seinen Text einfließen zu lassen. Das hat er gar nicht nötig.
Richtig erschütternd sind die Passagen, in denen er über die Grenzstadt Auschwitz und den dazugehörigen Bahnhof Birkenau schreibt. Die von ihm aus Akten und Zeitungsberichten ausgewählten Zitate klingen stets wie die Ankündigung der Vernichtungstransporte der Nationalsozialisten.
Burroughs und Kerouc lassen Nilpferdekochen
Ein Debüt-Roman aus dem Nachlass ist eine seltsame Sache. Der Autor wird schon seine Gründe gehabt haben, dass das Buch nicht erschienen ist. Das gilt auch für die schon spektakulär zu nennende Veröffentlichung des ersten Buches von Jack Kerouac und William S. Burroughs.
„Und die Nilpferde kochten in ihren Becken“ ist nicht nur ein erstaunliches Debüt. Es ist vor allem ein Roman von zwei Autoren, die beide zu den wichtigsten der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts gehören. Zusammen mit Allen Ginsberg sind sie die Vertreter der Beatniks. Sie haben mit ihrem konsequenten Leben abseits des US-Mainstreams einer ganzen Generation gezeigt, dass Karriere, Wohlstand, Glaube und Familie nicht die Grundlagen für ein erfülltes Leben sein müssen.
Beide erzählen aus ihrer eigenen Perspektive von einem Ereignis, das sie selbst erlebt haben. Burroughs nennt sich Will Dennison, Kerouac wählt den Erzählernamen Mike Ryko. Durch die Doppelperspektive beleuchten sie die letzten Tage von Al. Der ist unsterblich in Philipp verliebt und nervt ihn damit. Philipp möchte sich Al entziehen, indem er sich mit Ryko als Matrose einschiffen will, um von New York nach Europa zu fliehen.
Die Leser lernen den Freundeskreis dieser Bohemians kennen, die in der Phase des späten Zweiten Weltkriegs zwischen Universität und Alkohol, zwischen Kunstprojekten und Drogen die Tage und Nächte zubringen. Ganz wichtig sind dabei die erstaunlich oberflächlichen Beziehungen zwischen schwulen Männern, aber auch die zwischen Männern und Frauen. Der Titel des Buches ist ein Zitat aus einem Zeitungstext, das die schwül-überhitzte Atmosphäre des Freundeskreises auf den Punkt bringt.
Burroughs und Kerouac schaffen es, durch ihre konsequent subjektive Perspektive dem Geschehen einen jeweils anderen Ton zu geben. Das geht bis hin zur Ermordung Als durch Philipp. Auch das ist tatsächlich passiert. Am 14. August 1944 er¬stach ein gewisser Lucien Carr einen David Kammerer. Und anschließend ging Lucien Carr zu den Freunden Burroughs und Kerouac, um Hilfe und Trost zu suchen.
Die beiden Autoren haben diese Geschichte zu einem Roman verarbeitet. Dabei bleiben sie nah am Geschehen. Dennoch verdichten sie die Atmosphäre zu einem erstaunlichen Stück Literatur.
Dass ihr Debüt erst jetzt erschienen ist, hat nicht mit minderer Qualität zu tun. Burroughs und Kerouac verzichteten zu ihren Lebzeiten auf die Veröffentlichung aus Rücksicht auf Lucien Carr alias Philipp. Denn der wurde nach einer Haftstrafe ein erfolgreicher Journalist. Doch zum Glück wurde das Manuskript nicht vernichtet, sondern 40 Jahre nach dem Tod Kerouacs und zwölf nach dem von Burroughs veröffentlicht.
William S. Burroughs / Jack Kerouac: „Und die Nilpferde kochten in ihren Becken“, Nagel & Kimche, Zürich 2010, 190 S., 17,90 Euro MOZ-Rezension…
Gehobener Klatsch
Der Zürcher Verlag Kein & Aber hat ein schönes Format entwickelt: Echte Taschenbücher, die an die Art der Moleskin-Notizbücher angelehnt sind. „Nach Frühstück bei Tiffany’s“ von Truman Capote ist jetzt ein Band mit gehobenem Klatsch von ihm erschienen. Die Mischung aus Reportagen und persönlichen Erinnerungen an Begegnungen mit Elisabeth Taylor, Marilyn Monroe, Marlon Brando und vielen anderen ist eine Fundgrube an geistreichen Porträts echter Stars.
Diese Momentaufnahmen zeigen die Leinwandgrößen als normale Menschen, die zwischen Ruhm und der Sehnsucht nach echten Freunden einfache Freuden suchen. Große Texte im kleinen Format.
Truman Capote: „Marilyn & Co – Begegnungen mit Marilyn Monroe, Marlon Brando, Elizabeth Taylor und vielen anderen“, Kein & Aber, Zürich 2009, 170 Seiten, 14 Euro