Fundstück (5) im Antiquariat: Die Verlustanzeige von Karl Frucht

Karl Frucht: Verlustanzeige - Ein Überlebensbericht
Karl Frucht: Verlustanzeige – Ein Überlebensbericht

Bei eBay gibt es eine schöne Funktion. Mit ihr kann man sich per Mail darüber informieren lassen, wenn jemand verkaufen will, was man selbst kaufen will. Sie ist ein Verführungsinstrument aller schlimmster Güte. Denn wenn so eine Mail kommt und sich in ihr findet, was man sucht, so ist es schwer zu widerstehen. Vor allem für Sammler sind diese Benachrichtigungen oftmals wahre Folterinstumente. Wenn der Blick in den Geldbeutel offenbart, dass dieses Buch jetzt doch nicht gekauft werden kann, entsteht ein Gefühl von Selbstkasteiung.

Manchmal aber liefert die Benachrichtigungsfunktion über Jahre hinweg keinen Treffer. Auch die regelmäßige Suchanfrage im ZVAB, dem Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher bleibt bei ihnen lange ohne Ergebnis. Was auf der einen Seite sehr traurig ist, auf der anderen aber auch gut, weil sie mich davor bewahrt, eine Kaufentscheidung treffen zu müssen. „Es konnten momentan leider keine Einträge gefunden werden“, steht dann da. Das elektrisierende Gefühl beim Finden bleibt aus. Aber der Kopf entspannt sich, weil er jetzt nichts entscheiden muss.

Umso erregender ist es dann, wenn sich so ein Buch tatsächlich findet. Und zwar im Antiquariat oder auf einem Krabbeltisch. Als ich den unscheinbaren braunen Einband des Buchrückens von Karl Fruchts „Verlustanzeige – Ein Überlebensbericht“ entzifferte, durchzuckte mich dieses wunderbare Gefühl des Findens. Ein Buch, das sich jahrelang im Netz nicht finden ließ, lag mit dem Buchrücken nach oben in einer dieser Pappkisten, die gerne vor Antiquariaten stehen. in echt – und nicht nur als als Bild mit Text in der Trefferliste eines Suchergebnisses. Mit Briefmarken und Absenderaufkleber eines Briefes einer Frau aus Kassel, als die Postleitzahlen noch vierstellig waren. In einem Zustand, als wäre es neu.

Das Buch beschreibt einen dieser für heutige Leser unfassbaren Lebenswege. 1911 geboren, als Jude in Wien aufgewachsen, zum Juristen ausgebildet, aber zusammen mit der lebenslangen Freundin Hertha Pauli eine Literaturagentur gegründet, die Ödön von Horváth, Walter Mehring, Joseph Roth und viele andere vor allem an Zeitschriften und Zeitungen vermittelte, dann 1938 direkt nach dem „Anschluss“ geflohen, in Frankreich interniert und als Helfer Varian Frys schließlich in die USA entkommen. Zeitweise Soldat in der tschechischen und der französischen Armee und schließlich als amerikanischer Soldat Teilnehmer des 2. Weltkrieges, der Gefangene der Wehrmacht verhört. Dann Leben in den USA und arbeiten in der Rüstungsindustrie als technischer Schreiber, später bei der UNO in der Weltgesundheitsorganisation und für den Tierschutz. All das als Nomade, der die alte Heimat nicht vergessen kann, sie mit den Überlebenden wie dem Freund George Grosz oder Hertha Pauli immer erinnert – und bei den Aufenthalten in Wien versucht zu spüren. Doch da gibt es die Caféhauskultur nicht mehr. Die Schriftsteller, die er als Agent betreute, sind fast alle geflohen, die meisten haben die Befreiung nicht mehr erlebt.

Das Buch ist ein wirkliches Fundstück. Es ist gut geschrieben, ist nicht zu nah am Autor und doch auch nie entfernt. Der Text lässt einen Staunen ob der reichhaltigen Erlebnisse und Verzweifeln, weil der Verlust durch die Nazis so spürbar wird. Ein Glück gibt es Antiquariate, die verhindern, dass solche Bücher ins Altpapier wandern, weil dir Erben der Besitzer nichts mit dem Namen des Autors anfangen können. Und die beim Finder dieses elektrisierende Gefühl auslösen. Und beim Leser das Wechselbad zwischen Trauer und Bewunderung und Freude.

Weitere Fundstücke im Antiquariat:
Walter Mehrings Autograph
Ludwig Börnes Verhaftung
Kostbarkeiten bei Alfred Polgar
Ein Theaterzettel von 1931
Die Verlustanzeige von Karl Frucht
Andreas Oppermann erinnert 1860 an Palermo

Max Herrmann-Neiße stellt Kabarettdichter und Kabarettkomponisten vor

Die Textlieferanten der ersten Überbrettlära in Deutschland waren (wie gesagt) lyrische Limonadenfabrikanten wie Ernst von Wolzogen, Bierbaum, platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker wie Pserhofer, Rideamus. Traten im Rahmen dieser Kabaretts wirkliche Dichter auf, so war das eine ganz unorganische Erscheinung, ihrer Art nach hatten diese Poeten (Hille, Liliencron, die Lasker-Schüler) nichts mit den besondren Anforderungen eines Kabaretts zu tun, sie schrieben nicht fürs Kabarett und sie schrieben auch nicht so, daß ihre Werke irgendeine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen Künstlern gemachtes Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war eben erst das der »Elf Scharfrichter«, mit den Dichtern Wedekind, Lautensack, Greiner, Ludwig Scharf, Gumppenberg. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett sehr geeignetes Material geboten hätte – ein Material, das erst jetzt ein paar belangvolle Kabaretts zu benützen anfangen. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur grotesken Dichtung gezogen. Nachdem die höchste Reife des formalen Niveaus erreicht war, konnte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vorführen. Man hatte alles ausgekostet, alle Illusionen verloren, nun wurde man zuletzt artistischer Illusionist. Oder man hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest, dämonisierte die Vergnügungsmöglichkeiten, die Deutschlands Hauptstadt damals den Kapitalkräftigen bot. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Ernst Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der Kriminalsonette (Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn). In der Öffentlichkeit dominierte gleichzeitig das durchschnittliche Vorkriegskabarett, das hauptsächlich von einer unreellen, kitschigen Nobelpikanterie zehrte, deren Personen der elegante Herr und sein Verhältnis waren, und die Erotisches mit einem schmalzigen, aber durchaus eindeutigen Schmus servierten. Dafür waren die gefragten Autoren beispielmäßig Eddy Beuth, Ralph Benatzky (Die kleine Pagode, Piefke in Paris, Die Marquise von Laualliere), die Lieblingskomponisten Rudolf Nelson, Bogumil Zepler, Bela Laszky, Harry Waldau, Nicklaß-Kempner, Rebner, Ehrlich, eine Reihe, die heut noch tätig und wirksam ist, da ja dieses Amüsiergenre immer bleibt, und sich fortsetzt in Autoren wie Wilczynski und Komponisten wie Stransky. Während des Kriegs lebte das Durchschnittskabarett natürlich von billiger Verunglimpfung der »Feinde«, gewürzt durch galante Tanzeinlagen. Nachher benötigte man eine revolutionäre Walze. »Soziales« dem Schieberpublikum der Neppetablissements mundgerecht aufzutischen, siedelte man es ausschließlich in der Sexualsphäre an. Man verabreicht Sektgästen kein Dynamit, sondern verhilft ihnen, wenn’s hochkommt, zum angenehmen sadistischen Kitzel, oft gar nur zur witzlosen Stammtischschweinerei, die durch den Gassendialekt Ursprünglichkeit vortäuscht.

Der ganze Text steht im Walter-Mehring-Blog…

Max Herrmann-Neiße blickt 1925 auf neue Kabarettdichtung

Neuere deutsche Kabarettdichtung

Lange fehlten in Deutschland jene Dichter des packenden, urwüchsigen, aktuellen Schlagers, die in Frankreich die Entwicklung des Kabaretts zu einem eignen vollwertigen Kunstzweige früh gefördert hatten, gab es gar keine Schriftsteller, die spezifisch dahin begabt waren, ein Ereignis sofort rücksichtslos zu entblößen und unterm amüsanten Pfeilregen des Witzes zu begraben. Gab es keine Künstler, denen jene leichte Musikalität im Blute liegt, die im einprägsamen Rhythmus und mit dem volkstümlichen Gedächtnisanhalt des Refrains gleichsam spontan Empfindung und Meinung sich äußern läßt. Gab es auch keine abseitigen, untergründigen Urwuchspoeten, Bänkelsangdichter voll Dämonie und satzungsferner Doppelbödigkeit.

Die Textlieferanten der ersten deutschen Überbrettlära waren lyrische Limonadenfabrikanten (Ernst von Wolzogen, Bierbaum), platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker (Pserhofer, Rideamus). Und die Dichter, die damals zufällig im Rahmen dieser Kabaretts auftraten, schrieben nicht fürs Kabarett und schrieben nicht so, daß ihre Werke irgend eine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen
Künstlern gemachtes, Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war erst das der »Elf Scharfrichter« mit den Dichtern Wedekind, Lautensack. Leo Greiner, Gumppenberg, Ludwig Scharf. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett geeignetes Material zu bieten hätte. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur Groteske gezogen: nach der Erringung eines hohen formalen Niveaus führte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vor, hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der »Kriminalsonette«. Die Schwindelatmosphäre des Kriegs- und Nachkriegsbetriebs nimmt die deutsche Abart des Dadaismus dann einfach als Technik auf, erbarmungslos, exakt, mit nötiger Kaltschnäuzigkeit, marschartigem Draufloshämmern, marktschreierischer Inseratenstrophe, marionettenhafte Geschäftigkeit, betreibt die Tollheit als Gewerbe und schafft so auch für ein selbstherrliches Kunstkabarett bizarre, klischeefeindliche Vorlagen in Gedichten von George Grosz, Richard Huelsenbeck, Hans Arp, Kurt Schwitters.

Der ganze Text steht im Walter-Mehring-Blog…