Das atemberaubende Pergamon-Panorama in Berlin

Ein Panoramafoto der Ausgrabungsstelle von Pergamon im heutigen Bergama. Foto: Asisi
Ein Panoramafoto der Ausgrabungsstelle von Pergamon im heutigen Bergama. Foto: Asisi

Es war 1986. Die Wärme Ende Mai war angenehm. Aber da links auf den oberen Stufen des Theaters von Pergamon sammelte sich schon die Hitze, die vom leichten Wind gemildert wurde. Überwältigend war der Blick auf Bergama und auf die Stelle, an der auf einer quadratischen Fläche nur noch einige Bäume stehen (Mitte). Da stand der Pergamonaltar, der im Ost-Berliner Museum zu besichtigen ist. Dieser Blick hat sich ins Gedächtnis eingebrannt, genauso wie dieses steilste Amphietheater der vielen, die damals von uns entdeckt, erklettert und bestaunt wurden.

Das Pergamon-Panorama in der ausgerollten Ansicht. Es stellt die Stadt in der Regierungszeit des Kaisers Hadrian dar. Foto: Asisi
Das Pergamon-Panorama in der ausgerollten Ansicht. Es stellt die Stadt in der Regierungszeit des Kaisers Hadrian dar. Foto: Asisi

Jetzt ist es 2011. Die Temperaturen an diesem Novemberabend sind schon unter null Grad. Für einen Besuch des Pergamonmuseums ist es zu spät, so wird das Panorama davor gewählt. Es sind nicht viele Besucher in dem Zylinder. Beim Aufstieg auf der Stahltreppe in den übereinander gestapelten Baucontainern schwingt alles. Dann der Schritt auf die Plattform: Musik und Alltagsgeräusche erfüllen das Rund. Und wieder ein überwältigender Blick auf genau das Theater, von dessen Stufen ich vor 25 Jahren Pergamon und Bergama betrachtete. Augen und Ohren werden mit Reizen überflutet, das Herz schlägt schneller, die Plattform schwingt ganz leicht. Unglaublich! Ein Bild, das durch wechselndes Licht und den Klang von Tag und Nacht in einem Tagesablauf verändert wird, schafft es, den in seiner Mitte Stehenden zu überwältigen. Egal wo das Auge hinwandert, es fühlt sich tatsächlich in dieses Pergamon hineinversetzt. Erstaunlich, wie der Körper auf dieses gigantische Bild reagiert. Wie sich die Erinnerungen an den Aufenthalt vor 25 Jahren darüber legen und wie das Bild den Geruch und die Wärme von damals aktiviert. Obwohl es rattenkalt ist.

Innenansicht des Pergamon-Panoramas in Berlin. Foto: Asisi
Innenansicht des Pergamon-Panoramas in Berlin. Foto: Asisi

Zwei Journalisten Stalins entdecken die USA

Ilja Ilf und Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika
Ilja Ilf und Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika

Wenn Stalin zwei Schriftsteller in die USA schickt, damit diese eine große Reportage über das Mutterland des Kapitalisnus schreiben, dann erwartet der Leser Propaganda. Aber was Ilja Ilf und Jewgeni Petrow über ihre Reise von Ost nach West durch die USA und wieder zurück geschrieben haben, hat genau damit nichts zu tun.

Denn die beiden Autoren hatten einen unglaublich genauen Blick auf das Leben der Menschen in den USA. Natürlich gibt es Passagen über die Wirtschaft und das System. Aber genau diese Passagen sind sehr von Respekt für das Organisationstalent und für die Effizienz geprägt. Etwa wenn die beiden die Ford-Werke besichtigen und sogar mit der Firmenleitung reden können. Natürlich beschreiben sie dabei auch die Entfremdung des Bandarbeiters von der selbstbestimmten Arbeit. Aber sie wissen auch, dass das in sowjetischen Fabriken nicht anders ist.

Der Blick der beiden ist immer offen und neugierig. Vor allem wenn es um Begegnungen mit Menschen geht, ist von Ideologie gar nicht zu spüren. Sie freuen sich über die Offenheit der Amerikaner, sie bewundern die stete Hilfsbereitschaft und sie empfinden dafür große Dankbarkeit. Am meisten natürlich für das Ehepaar Adams, das sie drei Monate lang 16.000 Kilometer durch die Staaten chaufiert und ohne die sie mit ihren schlechten Englischkenntnissen kaum die Reise bestanden hätten.

Historisch ist das Buch aus zwei Gründen spannend. Zum einen gab es Mitte der 1930er-Jahre tatsächlich eine große Offenheit und Annäherung zwischen den USA und der Sowjetunion, die man sich angesichts des späteren Kalten Krieges kaum mehr vorstellen kann. Zum anderen schreiben Ilf und Petrow fast eine Alltagsgeschichte der USA. Sie sprechen mit Schwarzen und Indianern, sie besuchen Fabriken und Naturparks, sie beobachten Stars und Tramper. All das ergibt eine überraschende Reportage.

Der Titel kommt übrigens daher, dass die beiden nach den Wolkenkratzers New Yorks viele andere Städte kennenlernen. Und die sind alle eingeschossig, die sind alle gleichförmig, die sind erschreckend uniform. Wie Ilf und Petrow das beschreiben ist sehr modern. Manche Passagen lesen sich wie ganz aktuelle Reisereportagen durch den Mittleren Westen. Die Andere Bibliothek hat mit dem Doppelband wieder einmal etwas entdeckt, das sich zu lesen mehr als lohnt.

Anzeigen-Fundstücke (1): Mitfahren anno 1820

Mitfahrbörse anno 1820
Mitfahrbörse anno 1820

Alte Zeitungen sind nicht nur wegen der Texte interessant. Hier zum Beispiel sucht ein Mann einen Mitreisenden nach Wien, der sich an den Kosten beteiligt. Und das 1820.

Die Anzeige steht in der „Augsburgischen Ordinari Postzeitung“ vom 8. April 1820. Dort in Augsburg soll sich der potenzielle Interessent im Haus zum Mohren melden. Ganz ohne moderne Kommunikation, nur mit dem nötigen Geld, um die Reisekosten zu teilen. Immerhin geht es um heutige 520 Autobahn-Kilometer. Die Kutschfahrt wird einen kürzeren Weg gewählt haben, aber etliche Übernachtungen standen sicher an.

Heute nimmt man ja oftmals niemanden mit, weil man sich für die im Verhältnis kurze Zeit keine eventuell unangenehmen oder langweiligen Gespräche ins Auto holen will. Was der Reisende hier wohl erlebt haben wird? Nutzloses Gerede? Anregende Diskussionen? Eine neue Freundschaft?

Mehr Anzeigen-Fundstücke:
(2) Steinkohle
(3) Lebensmittelpreise 1933
(4) Ventilator für Dicke

Salka Viertel erinnert sich an Europa in Hollywood

Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz
Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz

Für Greta Garbo hat sie Drehbücher geschrieben. Für die deutsche Exilgemeinde in Hollywood war sie Anlaufpunkt und für Künstler und Kreativität war Salka Viertel bereit alles zu geben. Ihr Leben hat sie in dem Band „Das unbelehrbare Herz – Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts“ aufgeschrieben.

Die „Andere Bibliothek“ hat das Buch mit einem wunderbar weichen Samteinband ausgestattet. Das Buch liegt wohlig in den Händen. Der Inhalt ist eine dieser unglaublichen Geschichten, wie sie im 20. Jahrhundert geschrieben wurden. Geboren wurde sie in der Habsburger Monarchie ganz im Osten. Nach dem ersten Weltkrieg wurde Sambor polnisch, nach dem zweiten Weltkrieg dann ukrainisch – und somit sowjetisch. Aber da lebte sie nach vielen Stationen an Theatern in Wien, Düsseldorf, Dresden und Berlin schon lange in Hollywood. Ihren Mann, den Regisseur und Schriftsteller Berthold Viertel hatte es schon 1928 dorthin gezogen.

Die Viertels kannten von Albert Einstein bis Karl Kraus, von Lion Feuchtwanger bis Bertolt Brecht, von den Manns bis Walter Mehring, von Fritz Murnau bis Max Reinhardt, von Arnold Schönberg bis Schostakowitsch alles, was Rang und Namen hatte. Salka Viertels Buch ist davon ganz stark geprägt. Sie erzählt viele Geschichten von Begegnungen mit den Künstlern. Sie charakterisiert sie dabei und plaudert dabei angenehm unaufgeregt.

Aber genau das macht das Buch oft langatmig. Denn Salka Viertel erzählt ihr Leben sehr chronologisch. Dabei beachtet sie, dass auch wirklich alle wichtigen Namen genannt werden. Die Dramatik der Zeit geht dabei oft etwas unter. Obwohl sie schildert, wie sie es schaffte, ihre Mutter aus der Sowjetunion im Krieg in die USA zu holen, obwohl sie die Arbeit in den großen Filmstudios schildert. Aber all das geschieht in einem sehr gleichförmigen Tonfall.

Jede der vielen Geschichten ist lesenswert. Nur die Fülle erschlägt. Erstaunlich, dass eine Frau, deren Drehbücher nicht nur Greta Garbo schätzte, es nicht schaffte, das eigene Leben so zu komprimieren, dass eine packende Erzählung daraus wird. Immerhin geht es dabei um eine Jüdin vom Rande der Karpaten, der es gelang, Nationalsozialismus und Bolschewismus auszuweichen, um am Ende über den Eiferer Mc Carthy zu stolpern und in die Schweiz emigrieren zu müssen.

Salka Viertel: Das unbelehrbare Herz – Erinnerungen an ein Leben mit Künstlern des 20. Jahrhunderts. Eichborn

Mehr über Bücher der Anderen Bibliothek

Jean Zieglers Leben ist eine Aufforderung

Jürg Wegelin: Jean Ziegler - Das Leben eines Rebellen
Jürg Wegelin: Jean Ziegler - Das Leben eines Rebellen

Unbeirrte Dickköpfe braucht die Welt. Menschen wie Jean Ziegler, der mit seinem unangepassten Denken nicht nur die Schweiz in Aufregung versetzte, sondern in der ganzen Welt Gehör fand. Jürg Wegelins Biografie des Schweizer Nationalrats, undogmatischen Marxisten, UNO-Sonderberichterstatter und Soziologen hätte kaum zu einem besseren Zeitpunkt erscheinen können als mitten in der aktuellen Finanzkrise. Denn Jean Ziegler hat sich mit den Schweizer Banken schon angelegt, als die Gründer von Attack gerade in die Grundschule gingen.

Er hat das Schweizer Bankgeheimnis angegriffen, weil Diktatoren und Kriminelle damit ihr Geld sichern konnten. Er hat Begriffe wie „Kasinokapitalismus“ geprägt, als der Euro noch lange nicht eingeführt war. Jürg Wegelin, Schweizer Journalist, hat sich nach einer Biografie des Swatch-Gründers Nicolas Hayeck den Rebellen Ziegler vorgenommen. Der stammt aus einem konservativen Elternhaus, orientierte sich im Umfeld von Jean-Paul Sartre in seinen Pariser Studienjahren immer weiter nach links und verzichtete dennoch nicht darauf, vom Protestantismus zum Katholizismus zu konvertieren. Schon in den 60er Jahren arbeitete er für die UNO im Kongo. Seitdem hat ihn Afrika und später die gesamte Dritte Welt nicht mehr losgelassen. Er war mit Jassir Arafat genauso bekannt wie mit Kofi Anan, mit Fidel Castro wie mit Muamar Gaddafi. Mit Elie Wiesel war er befreundet und Simone de Beauvoir hat die ersten französischen Aufsätze des Deutschschweizers in eine geschliffene Form gebracht. Das ist viel Stoff für ein spannendes Buch.

Aber Wegelin erzählt zu chronologisch und in Teilen zu oberflächlich. Zwar arbeitet er die Widersprüche Zieglers ganz gut heraus, aber das Buch bleibt seltsam farblos. Wegelin schafft es nicht, Begeisterung für diesen wunderbare Trotzkopf zu entflammen, der von Klagen seiner reichen und mächtigen Gegner so überzogen wurde, dass er trotz der hohen Einnahmen aus seinen mehr als 30 Büchern die Forderungen noch nicht alle begleichen konnte. Selbst das hat Ziegler nicht verzagen lassen, sondern ihn gestärkt weiterzumachen. Für die Hungernden in aller Welt ist das ein Segen. Denn in deren Namen kämpft er unverdrossen auch noch mit 80 gegen die Ungererchtigkeit der Welt.

Frankfurt (Oder) schenkt mir mit Max Havelaar vergnügliche Weltlektüre

Multatuli: Max Havelaar
Multatuli: Max Havelaar

Ein Stück Weltliteratur lag neulich auf dem Weg zum Bahnhof in Frankfurt (Oder) auf einer Mauer. Ich konnte nicht anders und nahm das Buch mit, obwohl ich es in einer anderen Ausgabe einst geschenkt bekam und mit wachsender Begeisterung las. Multatuli (lat. „ich habe vieles ertragen“) nannte sich der niederländische Autor Eduard Douwes Dekker, als er seine Abrechnung mit den Zuständen der Niederländischen Ostindischen Kompagnie verfasste.

„Max Havelaar oder Die Kaffeeauktionen der Niederländischen Gesellschaft“ ist der Titel des Bandes, den es auf der Frankfurter Mauer in einer Dünndruckausgabe des Leipziger Paul List Verlages von 1972 gab.

Der Name Max Havelaar hat ein eigenständiges Leben entwickelt. In der Schweiz gibt es sogar eine Max-Havelaar-Stiftung. Sie vergibt das dortige Fair-Trade-Siegel. Denn Multatuli hat in seinem Roman beschrieben, wie brutal die Ostindische Gesellschaft die Menschen im heutigen Indonesien ausbeutete. Mit 18 Jahren war Dekker selbst nach Batavia, dem heutigen Jakarta, gezogen. Er erlebte die Herrschaft der Firma, die wie ein eigener Staat agierte. Sein Buch darüber wird heute als wichtigster literarischer Text der Niederlande eingeschätzt. Konkret geht es in dem Buch um ein Buch, das die Zustände auf Java beschreibt.

Bei der Veröffentlichung dieses Buches will der Kaffeehändler Droogstoppel nicht helfen. Droogstoppel ist genauso dröge und bieder, wie der Name klingt. In dieser Handlung erzählt Multatuli/Dekker die Geschichte der Entstehung des eigentlichen Buches, um am Ende das gesamte korrupte System anzuklagen. Übrigens stecken da etliche Parallelen zur aktuellen politischen Lage. Denn die Ostniederländische Kompagnie war ursprünglich selbständig. Doch dann hat sie sich so überhoben, dass der Staat sie retten musste. Allerdings wollte die Kompagnie sich dennoch nicht in die eigenen Belange reinreden lassen. Sie verteidigte ihre Rolle ähnlich wie die Banken heute. Die Steuerzahler hatte für die Konkursvermeidung bezahlt. Aber einen Gewinn sollte es für ihn nicht geben. Aber auch ohne diese Parallelen ist das Buch sehr lesenswert. Denn es gibt nicht nur einen erschütternden Einblick in die frühe Globalisierung, als Europa meinte, die ganze Welt sei ihm Untertan.

Es ist auch einfach richtig gut und kurzweilig geschrieben, es wechselt zwischen Satire und Anklage, spart aber auch nicht mit zarten Tönen. Es jetzt noch einmal zu lesen, war ein Vergnügen. Und das habe ich dem netten Menschen zu verdanken, der immer wieder Bücher für Passanten bereit hält. Vielen Dank! Und allen, den dies Anregung war: viel Spaß beim Lesen!

Angezogen von Krisen und Kriegen

Lutz Kleveman © Kleveman, Lutz
Lutz Kleveman © Kleveman, Lutz

Gute Journalisten haben Neugier, Empathie und Leidenschaft. Bei Kriegsreportern kommt noch Abenteuerlust hinzu. Das zumindest meint Lutz Kleveman, der zehn Jahre aus allen Krisengebieten der Welt berichtete. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch gebündelt.

Lutz Kleveman ist Mitte 20, als er sich entschließt, etwas erleben zu wollen. Nach dem Studium in Frankreich und England fängt er beim „Daily Telegraf“ als freier Journalist an. Um Geschichten verkaufen zu können, geht er in Länder, in denen die Redaktion keine Korrespondenten hat. Das sind vor allem Krisen- und Kriegsgebiete.

Im Spiegelsaal von „Clairchens Ballhaus“ in Berlin-Mitte berichtet Kleveman von seinem Weg. Inzwischen ist er 37 und „Herbergsvater“, wie er selbst sagt. Das elterliche Gut im Landkreis Cuxhaven hat er von der Landwirtschaft auf Tagungen und Seminare umgestellt. Auf dem ersten Blick ist vom Kriegsreporter nicht viel geblieben.

Aber wenn er beginnt zu erzählen, wie unverwundbar er sich fühlte, weil der Journalist Kleveman mit Warlords und einfachen Menschen sprechen konnte, dann wird klar, dass noch immer diese Leidenschaft in ihm brennt. „Wenn ich jetzt als Tourist reise, merke ich doch, dass ich mit niemandem mehr ins Gespräch komme. Das war schon geil als Journalist“, resümiert er seine aktive Zeit. In seinem Buch „Kriegsgefangen“ hat er diese zu Papier gebracht.

In ihm schildert er seinen Weg durch die Krisen und Kriege in Ex-Jugoslawien, Liberia und die Elfenbeinküste, Tschetschenien, den Irak, Afghanistan, Kolumbien, Nordkorea und Burma, Laos und Vietnam. Aber er reiht seine Erlebnisse nicht nur aneinander. Vielmehr verknüpft er sie mit der Frage, warum es ausgerechnet ihn, der als vierter Sohn weder Zivildienst noch Wehrdienst leisten musste, in den Krieg zog.

Dabei blickt Kleveman in die Familiengeschichte. Er begibt sich auf seine „Deutsche Spurensuche“, als er sich mit den Briefen seines Großvater aus der russischen Kriegsgefangenenschaft im 1. Weltkrieg beschäftigt. Dessen Bruder wiederum war der erste Verwundete 1914. Der zweite Bruder ist als Generalstäbler gefallen. Und der Großvater hat im 2. Weltkrieg entschieden, welcher Bauernsohn der Umgebung unabkömmlich war und wer an die Front musste – auch noch als ihm längst klar war, dass der Krieg verloren ist.Das Militärische ist also überall. So wie im Traditionszimmer des Gutes, in dem Waffen, Uniformen und Büsten von Soldaten aufbewahrt waren.

Lutz Kleveman: Kriegsgefangen
Lutz Kleveman: Kriegsgefangen

Zwar wird bei der Buchvorstellung in „Clairchens Ballhaus“ nicht vollständig klar, weshalb es den nachgeborenen Enkel in die Kriegsgebiete zog. Aber es wird deutlich, dass ihn die Gewalt faszinierte. „Wir sprechen immer von sinnloser Gewalt. Aber das stimmt nicht. Gewalt ist ein Weg, Dinge durchzusetzen,“ sagt Kleveman. Vor allem da, wo die staatliche Ordnung zusammengebrochen ist, müsse man immer bedenken, dass Gewalt für diese Menschen sinnvoll sei.

Solange er selbst keine Gewalt am eigenen Körper erlebte, machte sie ihn nur neugierig: „Egal ob Dealer oder Soldaten, die Jungs waren in meinem Alter. Ich fand es interessant, sie zu beobachten und zu beschreiben.“ Und dabei ein so ganz anderes Leben zu entdecken, als es in Deutschland gelebt wird.

Der Schatten des Großvaters, der Klevemans ältere Brüder noch für Klimmzüge wie in einer privaten Kadettenanstalt in den Garten befohlen hatte, ist übermächtig. Davor flieht er. Wie überhaupt vor Deutschland. Beim „Daily Telegraf“ schaffte er es monatelang, seine Herkunft zu verleugnen. Dass er für die totale Abgrenzung von der eigenen Familiengeschichte ausgerechnet in die kriegerischen Fußstapfen des Großvaters tappte, ist ihm erst in Afghanistan klar geworden.

Als er dann in Vietnam durch Verbrecher das erste Mal selbst verletzt wird, ist ihm klar, dass das Dasein als Kriegsreporter enden muss. So wie er es seiner Mutter versprochen hatte. Die letzte Reise wird die auf den Spuren des Großvaters an die Stationen der Gefangenschaft. Es wird dadurch auch eine Reise zu ihm selbst, auf der er Frieden mit der Familie und den Deutschen schließt.

„Kriegsgefangen“ beschreibt die Gefangenschaft des Großvaters. Viel mehr aber schildert es die Last, die Kleveman stellvertretend für viele Nachgeborene erforscht. Es geht um den Krieg, der noch immer nachwirkt, der Familien noch immer gefangen nimmt – im speziellen Fall natürlich auch anhand von zehn Jahren Erlebnissen zwischen Kindersoldaten, Drogendealern und Warlords.

Lutz Kleveman: Kriesgefangen. Siedler Verlag, 22,99 Euro

Der Text ist am 11. September 2011 in der Märkischen Oderzeitung erschienen…

„Da steht mein Haus“ – Die Erinnerungen Hans Keilsons

Hans Keilsons Erinnerungen
Hans Keilsons Erinnerungen

Er hat gerade noch erlebt, dass seine Erinnerungen erschienen sind. Dann ist Hans Keilson im Alter von 101 Jahren gestorben. „Da steht mein Haus“ hat der letzte deutsche Exilschriftsteller sein Buch genannt. In ihm gelingt Keilson das Kunststück 101 bewegte und bewegende Lebensjahre auf nur 140 Seiten zu komprimieren. Autobiografien sind gern sehr dick.

Der Zurückblickende schafft es oft nicht, die Fülle an Leben so zu sortieren, dass dem Leser nur das Wesentliche erzählt wird. Der Stolz, diese und jene Berühmtheit gekannt oder getroffen zu haben, erzeigt statt eines guten Lesetextes dann eher ein Nachschlagewerk, in dem das Personenregister das wichtigste ist.

Bei Hans Keilson ist das ganz anders. Er verdichtet wichtige Lebensabschnitte atmosphärisch und sprachlich so gekonnt, dass ganz konkrete Bilder im Kopf des Lesers entstehen. Wenig erstaunlich ist es, dass der Arzt und Psychoanalytiker das so gut kann. Die Schulung seiner jahrzehntelangen Praxis liefert ihm das Werkzeug, sein eigenes Leben so zu analysieren, dass eine schlüssige Erzählung daraus wird. Die Mittel des großen Schriftstellers ermöglichen es ihm, das packend und vielschichtig zu machen.

Keilsons gelingt es seinen Werdegang vom jüdischen Schüler in den 20er-Jahren in Bad Freienwalde und das anschließende Studium in Berlin genauso knapp zu schildern wie den Weg ins Exil, das Leben im Untergrund und psychoanalytische Arbeit mit traumatisierten Kindern, die das KZ überlebten. Trotz des Leids, die Familie im KZ verloren zu haben, durchzieht sein Buch und sein Leben eine tiefe Güte. Und der Wunsch die Trauer und das Leid zu verstehen. Das Buch hat ihm dabei sicher geholfen. Den Lesern hilft es ebenfalls. Denn sie haben das letzte Erinnerungsbuch eines Überlebenden des Exils gelesen.

Mehr von Hans Keilson:
„Ich lebe als Sieger und Besiegter“ – Interview zum 100. Geburtstag
Schönes Ende eines Interviews – Erinnerungen an das Interview
Hans Keilson ist tot – Kurzer Nachruf
Hans Keilsons Jahrhundert ist vorbei – MOZ-Nachruf
„Da steht mein Haus“ – Die Erinnerungen Hans Keilsons – Eine kurze Autobiografie
Hans Keilsons Sonette einer verbotenen Liebe – Sonette für Hanna

Erneut gelesen: Dieter Kühns Napoleon-Buch „N“

Dieter Kühn: N
Dieter Kühn: N

Vor mehr als 40 Jahren ist dieses Buch erstmals erschienen. Vor gut 20 habe ich es gelesen. Auch heute lohnt es sich noch. Damit hatte ich nicht unbedingt gerechnet. Denn Dieter Kühn erzählt das Leben Napoleons von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Machtübernahme im nachrevolutionären Frankreich.

Aber das Buch ist keine Biografie. Ein Roman ist es auch nicht. Genau dieses Zwitterhafte hatte ich noch in Erinnerung. Und dass der Text in vielem sehr theoretisch wirkte. Doch genau das macht seinen Reiz aus. Dieter Kühn erzählt nämlich nicht nur den Werdegang Napoleons, sondern auch die Möglichkeiten, die es in seinem Leben auch noch gegeben hatte. Und diese spinnt er immer wieder an den Weggabelungen des Lebens weiter. Was wäre gewesen, wenn nicht er sondern sein Bruder Soldat geworden wäre und er Geistlicher? Was wäre gewesen, wenn Nelson Napoleons Flotte vor der Ankunft in Alexandria vernichtet hätte? Was wäre aus ihm geworden, wenn er in türkische Dienste eingetreten wäre?

Dieses Hypothetische sorgt dafür, dass der Leser das Leben Napoleons nicht von seinem erfolgreichen Phasen als Eroberer Europas, als Verbreiter des Code Napoleon, des Vorläufers unseres Bürgerlichen Gesetzbuches, herdenkt. So schrumpft die Größe auf ein menschliches Maß, da zwar die Tatkraft und Intelligenz gewürdigt werden, aber eben auch immer die Zufälle und Gelegenheiten, die er für sich zu nutzen wusste. Da schwingt viel 68er-Gedankengut mit. Es geht um die politische Kraft des Individuums und um die gesellschaftlichen Umstände, die Geschichte gestalten. Es geht um eine hohe Kunst der Dialektik, wenn die unterschiedlichen Optionen durchgespielt werden.

Dabei gelingt es Kühn aber, nicht im Traktat zu versumpfen oder in der Theorie zu veröden. Er liefert ein Gedankenspiel, das auch heute noch Spaß macht – und nachdenklich. Spaß übrigens mehr als damals beim Lesen.