Die Reportagen von Albert Londres verblüffen durch Aktualität

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das
Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das

Albert Londres kannte ich bislang nicht. Dass er ein großer französischer Journalist in den Zwischenkriegsjahren war, wusste ich nicht. Aber jetzt habe ich „Ein Reporter und nichts als das“ gelesen. „Die Andere Bibliothek“ hat wieder einmal Texte zugänglich gemacht, die in Deutschland bislang nicht verfügbar waren. Drei Bücher haben Christian Döring als Herausgeber und Linda Vogt als Lektorin in einem Band zusammengefasst. Und alle drei sind Reportagen von großer Klarheit.

„China aus den Fugen“ ist im Mai 1922 erschienen und schildert die Situation zehn Jahre nach der Abdankung des letzten Kaisers. „Ahashver ist angekommen“ ist eine Reise durch das jüdische Leben in Westeuropa, den Ghettos Osteuropas und im Palästina der Zionisten in den Jahren 1929 und 1930. Und „Perlenfischer“ ist das Ergebnis einer Recherche zwischen dem Golf von Oman und dem Golf von Aden im Jahr 1931. Jedes dieser Bücher ist ein erstaunlicher Reportageband. In ihrer Fülle sind sie ein fulminantes Zeugnis davon, was dieses Genre kann.

Das wird vor allem bei „Ahashver ist angekommen“ deutlich. Londres beginnt in London, sich auf die Suche nach dem Leben und dem Denken der Juden zu machen. Er lernt die reichen und die armen Juden kennen. Er besucht Talmud-Schulen und spricht mit Zionisten, die eine jüdische Zukunft nur in Palästina sehen. Von dort macht sich Londres auf den Weg über Westeuropa ins östliche Mitteleuropa, in die Tschechoslowakei, nach Polen und Russland. Er erlebt die kaum vorstellbare Armut der Juden in den Karpaten oder dem Lemberger Ghetto. Er reist zusammen mit Menschen, die sieben Sprachen fließend sprechen, aber es nicht schaffen sich aus den furchtbaren Zuständen ihrer Heimatorte zu befreien. Er lernt Wunderrabbis kennen und überall sieht er Fotografien von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus. Londres erfährt, was die Juden Europas bewegt, wie unterschiedlich sie denken – und wie antisemitisch die Gesetzgebung Polens war, wie diskriminierend Tschechen, Slowaken, Rumänen, Ukrainer oder Russen mit der Minderheit in ihrer Mitte umgingen. Londres hört überlebenden der Pogrome in Russland zu. Und so versteht er immer besser, warum sich ein Teil der Juden in den tiefen Glauben flüchtete und ein anderer sein Heil in der Auswanderung ins Land der Vorväter in Palästina suchte.

Wer diese Reportage heute, nach der Shoa, liest, erschrickt zwangsläufig. Nicht nur, weil hier eine Welt auflebt, die durch die Mordmaschinerie der Nazis vernichtet wurde. Nein, man erschrickt auch, weil der Hass auf die Juden als ein europäisches Phänomen geschildert wird. Denn das diskriminiert werden, ja das ermordet werden, gehörte für die Juden auch in den 21 Jahren zwischen 1. und 2. Weltkrieg zum Alltag.

Sein Besuch im englischen Mandatsgebiet, in dem sich die Zionisten niederlassen durften, ist ebenfalls von einer ungeheuren Hellsichtigkeit. Londres beschreibt die Konflikte mit den Arabern, er schildert auch dort einen Pogrom gegen die Juden – und er beobachtet verblüfft, wie sie die jüdischen Einwanderer in den Dienst des Aufbaus eines jüdischen Staats stellten, ohne auf die einstige Stellung in Europa zurückzublicken. Wer etwas über das Entstehen des Nahost-Konflikts erfahren will, ist hier richtig. Denn Londres zeichnet bei seiner Reportage aus den Jahren 1929 und 1930 genau die Konfliktlinien nach, die noch heute entscheidend sind. Und er erfasst die Mentalität eines Volkes, das sich aus der Diskriminierung und Verfolgung befreit, um den eigenen Staat zu schaffen. Londres schafft es dabei, immer Distanz zu wahren. Ihn begeistern der Wille und die Zielstrebigkeit. Aber er versteht auch die Araber. Er nimmt keine Partei, sondern schafft es nur Kraft seiner Beobachtung und seiner klaren und prägnanten Stils, aufzuklären. Ein Meisterwerk eben.

Angezogen von Krisen und Kriegen

Lutz Kleveman © Kleveman, Lutz
Lutz Kleveman © Kleveman, Lutz

Gute Journalisten haben Neugier, Empathie und Leidenschaft. Bei Kriegsreportern kommt noch Abenteuerlust hinzu. Das zumindest meint Lutz Kleveman, der zehn Jahre aus allen Krisengebieten der Welt berichtete. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch gebündelt.

Lutz Kleveman ist Mitte 20, als er sich entschließt, etwas erleben zu wollen. Nach dem Studium in Frankreich und England fängt er beim „Daily Telegraf“ als freier Journalist an. Um Geschichten verkaufen zu können, geht er in Länder, in denen die Redaktion keine Korrespondenten hat. Das sind vor allem Krisen- und Kriegsgebiete.

Im Spiegelsaal von „Clairchens Ballhaus“ in Berlin-Mitte berichtet Kleveman von seinem Weg. Inzwischen ist er 37 und „Herbergsvater“, wie er selbst sagt. Das elterliche Gut im Landkreis Cuxhaven hat er von der Landwirtschaft auf Tagungen und Seminare umgestellt. Auf dem ersten Blick ist vom Kriegsreporter nicht viel geblieben.

Aber wenn er beginnt zu erzählen, wie unverwundbar er sich fühlte, weil der Journalist Kleveman mit Warlords und einfachen Menschen sprechen konnte, dann wird klar, dass noch immer diese Leidenschaft in ihm brennt. „Wenn ich jetzt als Tourist reise, merke ich doch, dass ich mit niemandem mehr ins Gespräch komme. Das war schon geil als Journalist“, resümiert er seine aktive Zeit. In seinem Buch „Kriegsgefangen“ hat er diese zu Papier gebracht.

In ihm schildert er seinen Weg durch die Krisen und Kriege in Ex-Jugoslawien, Liberia und die Elfenbeinküste, Tschetschenien, den Irak, Afghanistan, Kolumbien, Nordkorea und Burma, Laos und Vietnam. Aber er reiht seine Erlebnisse nicht nur aneinander. Vielmehr verknüpft er sie mit der Frage, warum es ausgerechnet ihn, der als vierter Sohn weder Zivildienst noch Wehrdienst leisten musste, in den Krieg zog.

Dabei blickt Kleveman in die Familiengeschichte. Er begibt sich auf seine „Deutsche Spurensuche“, als er sich mit den Briefen seines Großvater aus der russischen Kriegsgefangenenschaft im 1. Weltkrieg beschäftigt. Dessen Bruder wiederum war der erste Verwundete 1914. Der zweite Bruder ist als Generalstäbler gefallen. Und der Großvater hat im 2. Weltkrieg entschieden, welcher Bauernsohn der Umgebung unabkömmlich war und wer an die Front musste – auch noch als ihm längst klar war, dass der Krieg verloren ist.Das Militärische ist also überall. So wie im Traditionszimmer des Gutes, in dem Waffen, Uniformen und Büsten von Soldaten aufbewahrt waren.

Lutz Kleveman: Kriegsgefangen
Lutz Kleveman: Kriegsgefangen

Zwar wird bei der Buchvorstellung in „Clairchens Ballhaus“ nicht vollständig klar, weshalb es den nachgeborenen Enkel in die Kriegsgebiete zog. Aber es wird deutlich, dass ihn die Gewalt faszinierte. „Wir sprechen immer von sinnloser Gewalt. Aber das stimmt nicht. Gewalt ist ein Weg, Dinge durchzusetzen,“ sagt Kleveman. Vor allem da, wo die staatliche Ordnung zusammengebrochen ist, müsse man immer bedenken, dass Gewalt für diese Menschen sinnvoll sei.

Solange er selbst keine Gewalt am eigenen Körper erlebte, machte sie ihn nur neugierig: „Egal ob Dealer oder Soldaten, die Jungs waren in meinem Alter. Ich fand es interessant, sie zu beobachten und zu beschreiben.“ Und dabei ein so ganz anderes Leben zu entdecken, als es in Deutschland gelebt wird.

Der Schatten des Großvaters, der Klevemans ältere Brüder noch für Klimmzüge wie in einer privaten Kadettenanstalt in den Garten befohlen hatte, ist übermächtig. Davor flieht er. Wie überhaupt vor Deutschland. Beim „Daily Telegraf“ schaffte er es monatelang, seine Herkunft zu verleugnen. Dass er für die totale Abgrenzung von der eigenen Familiengeschichte ausgerechnet in die kriegerischen Fußstapfen des Großvaters tappte, ist ihm erst in Afghanistan klar geworden.

Als er dann in Vietnam durch Verbrecher das erste Mal selbst verletzt wird, ist ihm klar, dass das Dasein als Kriegsreporter enden muss. So wie er es seiner Mutter versprochen hatte. Die letzte Reise wird die auf den Spuren des Großvaters an die Stationen der Gefangenschaft. Es wird dadurch auch eine Reise zu ihm selbst, auf der er Frieden mit der Familie und den Deutschen schließt.

„Kriegsgefangen“ beschreibt die Gefangenschaft des Großvaters. Viel mehr aber schildert es die Last, die Kleveman stellvertretend für viele Nachgeborene erforscht. Es geht um den Krieg, der noch immer nachwirkt, der Familien noch immer gefangen nimmt – im speziellen Fall natürlich auch anhand von zehn Jahren Erlebnissen zwischen Kindersoldaten, Drogendealern und Warlords.

Lutz Kleveman: Kriesgefangen. Siedler Verlag, 22,99 Euro

Der Text ist am 11. September 2011 in der Märkischen Oderzeitung erschienen…