Als Erbe Caesars lebt es sich gut – Rom sei Dank!

Weeber: Rom sei dank!
Weeber: Rom sei dank!

Warum nur ist man als Schüler lieber faul als schlau? Und weshalb haben Lehrer einen so großen Einfluss auf die Lust am Fach? Fragen, die sich aufdrängen, wenn man dieses schöne Buch über den nachhaltigen Einfluss der Römer und ihrer Sprache auf unser Leben und unsere Kultur liest. Karl-Wilhelm Weeber ist kein Bildungshuber, sondern ein Gebildeter im besten Sinne des Wortes. Einer, der sein Wissen und vor allem sein Verständnis gerne teilt, ohne sich über all jene zu erheben, die sein Wissen (noch) nicht haben. „Warum wir alle Caesars Erben sind“ – der Untertitel des Buches „Rom sei Dank!“ – steht für dieses Mitnehmen des Lesers.

Da sagt ein Altphilologe voller Vergnügen zum Leser: Wir alle, auch Du, gehörst dazu. Da wird nicht ausgegrenzt, sondern an ganz vielen Beispielen bildhaft geschildert, was wir den Römern zu verdanken haben. Das macht Weeber auch mit viel Humor. Und so wird die Baugeschichte genauso behandelt wie der Einfluss der griechischen Kultur auf die Römer oder der in solchen Büchern unvermeidliche Straßenbau und natürlich Latein.

Aber all diese Themen werden wissend mit Witz vermittelt. Wer sich darauf einlässt wird immer wieder mit erstaunlichen Informationen gefüttert und erfreut sich schon sehr bald am Wachsen des eigenen Wissens. Also nur Mut: Auch solche Bücher können viel Vergnügen bereiten. Zwar sind die Fragen vom Anfang dann noch immer nicht beantwortet, aber das eine oder andere Versäumnis der Jugend wird so doch geheilt.

Essad Beys Debüt über die Flucht aus und durch den Kaukasus

Essad Bey: Öl und Blut im Kaukasus
Essad Bey: Öl und Blut im Kaukasus

Mit 24 Jahren hat Essad Bey seine Autobiografie geschrieben. 1930 ist sie erschienen und hat für Furore gesorgt. Da erzählt ein Emigrant aus Baku von den Wirrnissen des 1. Weltkrieges, von den diversen Umstürzen und Staatsgründungen in Aserbeidschan, Armenien, Georgien und vielen anderen Ländern. Und er behauptet, ständig dabei gewesen zu sein. Das ist in der Tat schwer zu glauben. Denn bei vielen der geschilderten Erlebnisse war Lew Noussimbaum, wie Essad Bey alias Kurban Said, eigentlich hieß, noch sehr jung. Und dennoch stimmen die meisten der geschilderten Erlebnisse.

Er war Sohn eines der größten Ölbarone in Baku, das damals das größte Erdölförderzentrum der Welt war. Er musste zusammen mit seinem Vater mehrmals vor den Bolschewisten und anderen Umstürzlern fliehen. Sie reisten dabei auf allen nur erdenklichen Fortbewegungsmitteln per Schiff, Zug oder Kamel bis nach Zentralasien und durch Persien. Und tatsächlich kannte der reiche Kaufmann Noussimbaum überall wichtige Menschen, die als Anlaufstation willkommen waren. Unglaublich ist es, wie der damals so junge Autor mit seinem Wissen umgeht. Er erklärt alle wichtigen kulturellen Hintergründe der Kaukasusvölker ohne jede Überheblichkeit.

In seiner klaren Sprache, die auch 80 Jahre später noch wirkt als sei sie von heute, nimmt er die Leser mit in diese Weltgegend, in der sich damals und heute Konflikte ballen, wie in wenigen anderen. Diese haben mit Religion und Kultur, mit Sprache und Lebensart zu tun. Viel mehr aber noch mit sozialen Unterschieden. Essad Bey lehnte die Bolschewisten ab. Dennoch zeigt er sogar Verständnis für deren Anliegen. Angeblich kannte er Stalin aus diesen Tagen. Auf jeden Fall hat er eine der ersten Biografien über ihn geschrieben. Gerade bei der Schilderung der Revolutionäre schlägt Essad Beys Humor durch. Denn dieses Buch ist nicht nur lehrreich und dabei kurzweilig, es aist auch spannend und amüsant.

Kein Wunder, dass „Öl und Blut im Orient“ in den 1930-Jahren ein internationaler Bestseller war. Wie auch etliche andere seiner Bücher, etwa „Ali und Nino“ oder „Das Mädchen vom Goldenen Horn“. Wer noch mehr über den Autor erfahren will, der sollte die Biografie von Tom Reiss zur Hand nehmen.

Ein Besuch beim Wunder von Tell Halaf

Wirklich unglaublich, was die Restauratoren des Vorderasiatischen Museums geschafft haben. Aus Tausenden von Steinbrocken haben sie eine Teil des Ausgrabungen von Tell Halaf rekonstruiert. Max von Oppenheim hatte die Ausgrabungen im heutigen Nordsyrien unweit der türkischen Grenze einst initiiert und durchgeführt. Anschließend hat er in der 20er-Jahren in Berlin ein eigenes Museum dafür eingerichtet.

Doch ein Bombenangriff im Jahr 1943 hat den archäologischen Schatz aus dem 9. Jahrhundert vor Christus in tausende Brocken gesprengt, das Gold und die anderen Metalle eingeschmolzen. Zwar sicherten Wissenschaftler Teile der Brocken und lagerten sie im Pergamon-Museum ein. Doch erst Anfang der 90er-Jahre beschäftigte sich jemand mit ihnen. Knapp 20 Jahre später sind die wichtigsten Stücke wiedererstanden Dank einer unermüdlichen Puzzle-Arbeit.

Ein Besuch der Ausstellung lohnt sich auch, weil sie zum Nachdenken anregt: Ist es gut oder schlecht, wenn Archäologen die Vergangenheit freilegen? Ohne Max von Oppenheim wüsste niemand von dieser großartigen Kultur. Aber dann wären viele Stücke noch immer unversehrt unter dem Wüstensand verborgen. Allerdings kann die Archäologie nichts für die Bombenangriffe. Aber für die phantastische Restaurierung.

Fundstück im Antiquariat (2): Ludwig Börnes Verhaftung

Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820
Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820

Dieses Stück Papier ist eine fast 200 Jahre alte Zeitung. Ich habe sie heute gefunden und musste sie kaufen. Die wenigen Euro wären es schon wert gewesen, nur um so eine alte Zeitung zu besitzen. Richtig spannend ist aber, dass in ihr von der Verhaftung und Entlassung Ludwig Börnes berichtet wird. Der war 1820 im ständigen Kampf mit der Zensur. Nach Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse 1819 machte sich auch in Frankfurt/Main die Zensur wieder breit. Seine Zeitung „Die Waage“ fiel dem Zensor zum Opfer. Er selbst arbeitete danach als Redakteur der „Zeitung der Freien Stadt Frankfurt“. Das erregte die Behörden allerdings so sehr, dass der Liberale entlassen werden musste. Im März 1820 war Börne dann in Paris, wo er später bis zu seinem Tod genauso wie Heinrich Heine im Exil bleiben sollte. Ein Student wurde mit verbotenen Flugblättern aufgegriffen. Als Hersteller gab es Börne an. Das tat er, weil er den Schriftsteller und Journalisten noch in Frankreich wähnte. Doch er war schon wieder daheim. Und so sperrten ihn Polizei und Zensor ein. Es dauerte einige Tage, bis er verhört wurde und sich alles aufklärte.

Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820
Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820

Für Börne war die Verhaftung ein Einschnitt in sein Leben. Von da an orientierte er sich endgültig weg aus Frankfurt, wo er in der furchtbaren Judengasse geboren und aufgewachsen war und nach seinem Studium, das für den Juden nur dank der Besatzung durch Napoleon möglich war, als Journalist arbeitete. Es ist heute wirklich nicht mehr vorstellbar, was Deutsche einst auf sich nehmen mussten, nur weil sie eine eigene Meinung hatten. Besonders absurd war es, dass sich die DDR auf Börne als liberalen Vorläufer der kommunistischen Denker auch auf ihn bezog. Wie es überhaupt seltsam ist, dass sich eine  auf Exilanten bezieht. Auf Menschen also, die für den aufrechten Gang und ihre Überzeugung lieber die Heimat hinter sich ließen als in Demut vor der Obrigkeit zu buckeln. Insofern ist dieses Stück altes Papier ein kleines Lehrstück für die Wirrnisse des Lebens. Und eine Mahnung, dass wir uns immer gegen die engagieren, die uns den Mund verbieten wollen. Denn Demokratie und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Ein Blick in die Bücher und Schriften Börnes lohnt sich auch deshalb immer. Er hat über den Vorfall auch eine herrliche Satire geschrieben. Außerdem sind seine Reportagen und Feuilletons stilistisch ein Genuss.

Weitere Fundstücke im Antiquariat:
Walter Mehrings Autograph
Ludwig Börnes Verhaftung
Kostbarkeiten bei Alfred Polgar
Ein Theaterzettel von 1931
Die Verlustanzeige von Karl Frucht
Andreas Oppermann erinnert 1860 an Palermo

 


Wie ich mit der goldenen Ehrennadel der Lausitzer Rundschau geehrt wurde

Die silberne Ehrennadel der Lausitzer Rundschau mit Etui
Die silberne Ehrennadel der Lausitzer Rundschau mit Etui

In Brandenburg streiten sich die Opposition (CDU, Grüne, FDP) und die Regierung (SPD, PDS) über den Umgang mit dem SED-Erbe nach der Friedlichen Revolution. Ins Visier einer Kommission sind dabei die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen geraten, die Märkische Allgemeine, die Lausitzer Rundschau und die Märkische Oderzeitung. Ihnen wirft ein Bericht vor, zu sehr Kontinuität bewahrt zu haben.

1998 erlebte ich diese Kontinuität auf eine sehr amüsante Art und Weise: Ich bekam die Goldene Ehrennadel der Lausitzer Rundschau verliehen. Zum Abschied nach drei Jahren und drei Monaten bei dem Blatt. Einige Redakteure hatten das Ehrenzeichen für 25 Jahre Durchhalten nach der Privatisierung gesichert. Und sich den Scherz gemacht, es verdienten Kadern wie mir, dem Wessi auf dem Weg zurück in den Westen, zu verleihen. Natürlich waren das ostdeutsche Kolleginnen und Kollegen. Sie hatten so viel Distanz zu ihrer Vergangenheit, dass sie sich ironisch mit dieser Ehrenzeichenverleihung darüber lustig machen konnten.

Sie wussten aber auch, dass die Privatisierung der Treuhand dafür gesorgt hat, dass die Zeitungsmonopole erhalten blieben. Der daraus resultierenden Verantwortung haben sie sich gestellt. So wie es die intelligenten Neuzugänge auch taten. Sie wussten, dass schon vor 1989 nicht gold war, was auf Ehrenzeichen glänzte. Und sie hatten begriffen, dass man den Widrigkeiten des Arbeitslebens nur mit Humor und dem steten Suchen nach den eigenen Freiräumen, nach der eigenen Freiheit die Lust am täglichen kritischen Zeitungsmachen abgewinnen kann. In diesem Sinne halte ich die Ehrennadel der SED-Bezirkszeitung noch heute in Ehren. An die gleichgültigen, gelangweilten und schlechten Journalisten denke ich dabei nicht. Die gibt es überall, im Westen und im Osten.

Ob Essad Bey oder Kurban Said, Lev Noussimbaums Leben ist mehr als ein Roman

Tom Reiss: Der Oriantalist als Hörbuch
Tom Reiss: Der Oriantalist als Hörbuch

Das Leben dieses Schriftstellers passt eher in einen Roman als in eine Biografie. Unter seinem richtigen Namen kannte Lev Noussimbaum kaum einer. Dass der Jude aus Baku Essad Bey und Kurban Said war, hat der amerikanische Journalist Tom Reiss rekonstruiert. Und damit das Leben eines faszinierenden Autoren entschlüsselt. In den 30er-Jahren waren Essad Beys Bücher Bestseller in Deutschland, den USA und halb Europa.

Schon in den 20er-Jahren veröffentlichte er Reportagen in der Weltbühne und anderen wichtigen Berliner Blättern. Deutsch konnte er, der Sohn eines einstigen Ölbarons aus Baku von seinem deutschen Kindermädchen. Auf der Flucht vor Stalins Mordbanden über Usbekistan, den Iran, später die anderen Kaukasusländer nach Istanbul und von dort weiter nach Paris und Berlin kamen ihm seine Sprachkenntnisse sehr zu gute. Und er begriff für sich, dass Identität etwas ist, was man nicht unbedingt jedem erzählen sollte. Essad Bey reiste mit Walter Mehring nach Algier. Er schrieb die erste Biografie über Stalin, eine über Mohammed. Und wer diese Bücher heute in die Hand nimmt und liest, wird erstaunt sein, wie gegenwärtig die Sprache ist, wie modern die Gedanken, wie packend der Stil.

Das gilt auch für seine Romane. „Ali und Nino“ ist in etliche Sprachen übersetzt worden. Der Liebesroman über die Blütezeit Bakus und die kulturellen Einflüsse im Kaukasus geht heute noch zu Herzen. Und das nicht als Kitsch, sondern wegen der wunderbaren Sprache und der großartigen Symapthie für die Figuren. Tom Reiss hat eine faszinierende Erzählung über das Europa vor und nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Anhand des Lebens Lev Noussimbaums wird deutlich, was Nationalismus, Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus zerstört haben. Wie die Vielfalt Europas gestutzt und ausgedünnt wurde.

In der Hörbuch-Inszenierung lebt dieses Buch zusätzlich auf. Der kürzlich bei einem Unfall gestorbene Dietmar Mues liest den Text wunderbar. Nina Hoger und Stephan Schad ergänzen Wolfgang Stockmanns Regie. Ein Muss für alle, die mehr über Europa und den Orient erfahren wollen. Und für alle, die diese Weltgegenden erkunden wollen. Die Musik von „Klezmer meets Derwisch“ bringt das zusätzlich zum Ausdruck.

6 CDs sind in schöner Aufmachung bei Griot erschienen und sollen gut 30 Euro kosten.

Hans Keilsons Jahrhundert ist vorbei

Hans Keilson (1909 - 2011) - Foto: Andreas Oppermann
Hans Keilson (1909 – 2011)

Mit 101 Jahren ist Hans Keilson gestorben. Der Ehrenbürger Bad Freienwaldes erlebte noch das Erscheinen seiner Erinnerungen. Der Jude emigrierte 1936 nach Holland und überlebte die deutsche Besatzung im Untergrund. Seine Bücher stoßen vor allem in den USA auf großes Interesse. Er wird als „Weltschriftsteller“ geehrt. „Da steht mein Haus“ ist der Titel seiner Erinnerungen, die im April bei S. Fischer erschienen sind. Hans Keilson meint damit sein Haus in Bussum bei Amsterdam, in dem er mehr als die Hälfte seines langen Lebens verbrachte. Es ist ein typisch niederländisches Klinkerhaus, das an einer ruhigen Kreuzung knapp zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, umgeben von Einfamilien- und kleinen Reihenhäusern, liegt. Der Garten und das Haus selbst strahlen eine bescheidene Zufriedenheit aus. Alles wirkt, als wären die Bewohner mit sich im Reinen.

Das MOZ-Interview zum 100. Geburtstag

Obwohl er vor den Nazis fliehen musste und seine Eltern, die er in die Niederlande nachholte, nicht vor der Ermordung in Birkenau retten konnte, bestimmte nicht die Verbitterung sein Leben. „Das Gefühl der Schuld, dass ich meine Eltern nicht gerettet habe, das ist immer da,“ sagte er einmal. Doch Keilson begann deshalb nicht zu hassen. Im Gegenteil: Er bekämpfte mit den Mitteln der Psychoanalyse und der Literatur den Hass: „Weil der Hass eine selbstvernichtende Doktrin ist.“ Wer hasst, mache sich die Definition des Feindes zu eigen. Davon war er überzeugt. Deshalb setzte er Zeit seines Lebens seinen Verstand ein, um sich nicht vom Denken derer, die ihm Böses wollten und seinen Eltern taten, leiten zu lassen.

1909 kam Hans Keilson in Bad Freienwalde auf die Welt. Sein Vater hatte zwei Geschäfte im Ort. Seine Mutter kümmerte sich um diese, als der Vater im 1. Weltkrieg an der Westfront in den Schützengräben kämpfen musste. Die Welt war beengt für die wenigen Juden in Bad Freienwalde. Dennoch erinnerte sich Keilson auch im persönlichen Gespräch gern an sie zurück. Über den letzten Besuch seiner Heimat im September 2010 sagte er: „Als ich zu Besuch war, waren alle Kindheitserinnerungen wieder da, an jeder Ecke.“ Diese Erinnerungen schilderte er in seinem letzten Buch. Er beschreibt die bescheidenen Verhältnisse, in denen er aufwuchs. Er schildert die sich ändernde Stimmung den drei Juden in seiner Klasse gegenüber. Während im und kurz nach dem 1. Weltkrieg kaum Antisemitismus zu spüren war, nahmen die Zurücksetzungen, das Ausgegrenztwerden bis zum Abitur 1928 stetig zu. Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor dem 100. Geburtstag schaffte es der Autor, Sportlehrer und Analytiker, mehr Fragen an mich zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich die Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.

Dazu passt auch, dass er mit über 80 anfing, am Computer zu arbeiten. Kein Wunder: Die Praxis betrieb der Psychiater bis weit über 90. Den bescheidenen Mann trieb eine ungeheure Energie an. Erst 1979 – mit fast 70 Jahren – promovierte er: „Sequentielle Traumatisierung bei Kindern“ ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt. Dieses Buch schätzte er selbst als sein wichtigstes ein.

1933 erschien bei S. Fischer sein erster Roman, der letzte eines Juden für lange Zeit. Die Übersetzungen seiner Bücher stoßen derzeit vor allem in den USA auf großes Interesse. Ein Interview mit ihm erschien sogar auf der Titelseite der „New York Times“. Seine Romane und Erzählungen zeichnet ein klare Sprache und ein feiner Humor aus. Auch in ihnen gibt er dem Leser nicht vor, was er zu denken hat. Er eröffnet – wie seinen Patienten – Wege, die Welt zu verstehen, weil man über seine Fragen nachdenkt. Wer sich darauf einlässt, begreift, dass Hass 
kein Weg ist, um leben zu können.

Wenn Hans Keilson von seinen Berliner Jahren erzählte, dann strahlten die fast erblindeten Augen. Wie er als Trompeter einer Jazz-Band das Studium finanzierte erfreute ihn auch mit 100 noch. Und wie ihm die Großstadt die Chance gab, durch das Studium das Rüstzeug zum Überleben im Untergrund zu geben, machte ihn dankbar. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der vor allem als Mensch eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte. Beerdigt wird Hans Keilson auf dem jüdischen Friedhof in Amsterdam neben seiner ersten Frau. Das war schon lange sein Wunsch. Seine Heimatstadt hat die Bibliothek nach ihm benannt. Und einen Findling haben sie dort für ihn aufgestellt. „Das Schöne ist, dieser Findlingsblock ist so groß, dass er bleiben wird – er ist einfach zu schwer, 
um ihn zu stehlen,“ freute sich Keilson noch kurz vor seinem Tod.

MOZ-Nachruf…

Mehr von Hans Keilson:
„Ich lebe als Sieger und Besiegter“ – Interview zum 100. Geburtstag
Schönes Ende eines Interviews – Erinnerungen an das Interview
Hans Keilson ist tot – Kurzer Nachruf
Hans Keilsons Jahrhundert ist vorbei – MOZ-Nachruf
„Da steht mein Haus“ – Die Erinnerungen Hans Keilsons – Eine kurze Autobiografie
Hans Keilsons Sonette einer verbotenen Liebe – Sonette für Hanna

Hans Keilson ist tot

Hans Keilson (1909 - 2011)
Hans Keilson (1909 – 2011)

Hans Keilson ist am Dienstag in einem Krankenhaus in Hilversum mit 101 Jahren gestorben. Er war der letzte deutsche Exilschriftsteller. Sein Debütroman Das Leben geht weiter. Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit ist 1933 bei S. Fischer erschienen. Es war das letzte Buch eines jüdischen Schriftstellers, das in dem Traditionsverlag in Druck gelegt wurde. Noch vor Erscheinen haben es die Nazis verboten. Es dauerte über 50 Jahre, bis es das Licht der Öffentlichkeit sah.

Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor seinem 100. Geburtstag schaffte es der Schriftsteller, Sportlehrer und Psychiater mehr Fragen an den Interviewer zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich seine alte Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.

Dazu passt auch, dass er mit über 80 Jahren noch einen Computer anschaffte. Überhaupt trieb ihn eine ungeheure Energie an. Erst 1979 promovierte er sich mit einer Arbeit über Traumata von Kindern. Sequentielle Traumatisierung bei Kindern ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt.

Keilson stammt aus Bad Freienwalde. Dort wuchs er als Sohn eines Kaufmanns auf, ging zur Schule, machte Abitur und sang als Jude sogar im Kirchenchor. Sein erster Roman schildert diese Zeit. In Berlin studierte er Medizin, durfte als Jude den Beruf aber nicht ausüben. Deshalb arbeitete er als Sportlehrer an jüdischen Schulen, bis er 1936 ins Exil nach Holland ging. Dort engagierte er sich im Widerstand und überlebte im Untergrund die deutsche Besatzung. Anders als seine Familie, die in Auschwitz ermordet wurde. Dennoch schafft er es, weiter in Deutsch zu schreiben, nach Deutschland zu reisen und Deutschland nicht zu verdammen. Sein Verstand trennte schwarz zwischen Tätern, Mitläufern und Opfern. Den folgenden Generationen bürdete er keine Schuld auf. Aber es erwartete Verantwortung von ihr. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte.

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Schönes Ende eines Interviews

Hans Keilson: Kein Plädoyer für eine Luftschaukel
Hans Keilson: Kein Plädoyer für eine Luftschaukel

Das Gespräch mit Hans Keilson vor dessen 100. Geburtstag ist mir auch 18 Monate später noch ganz präsent. Mit seiner Frau hatte ich den Termin abgestimmt und mich auf den Weg über Amsterdam nach Bussum gemacht.

Dort lebt der letzte deutsche Exilschriftsteller in einem schönen, typisch holländischen Haus. Die Wärme des Empfangs, die Güte des Gesprächs, der Humor beim Nachdenken an die Jugend in Bad Freienwalde und Berlin, die Trauer über den Zwang ins Exil gehen zu müssen und die Klarheit beim Nachdenken über die Folgen des Nationalsozialismus wirken noch immer nach.

Keilson musste seine Heimat verlassen und hat sich eine neue erarbeitet. Keilson hat Familie verloren und eine neue begründet. Keilson hat Kindern, die aus den KZs zuück kamen als Arzt geholfen und dennoch angesichts des Leids nicht auf Rache gehofft. Keilson galt 1933 als ein verheißungsvolles Talent, als sein Debütroman bei S. Fischer erschien, und hat sich nach dem Krieg als Psychoanalytiker einen Namen gemacht. All das ist schon faszinierend und Ehrfurcht erfüllend. Aber wenn man dann mit so einem Menschen sprechen kann und eine gute Wellenlänge zueinander findet, verschwimmt das alles.

Dann sitzt einem nur ein wunderbarer, humorvoller Mensch gegenüber, der auch mit 100 Jahren noch neugierig ist. Und das so sehr, dass die Hälfte des mehr als zweistündigen Gesprächs aus meinen Antworten auf seine Fragen bestand. Die sind in dem gerade erschienenem Band nicht zu finden. Aber das Interview, das aus dem Gespräch entstand, ist die Eröffnung der Textsammlung. Und damit ein schönes Ende eines Interviews.

Zur Verlagsseite…

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„Ich lebe als Sieger und Besiegter“ – Interview zum 100. Geburtstag
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„Da steht mein Haus“ – Die Erinnerungen Hans Keilsons – Eine kurze Autobiografie
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Das schwierige Verhältnis von Zeitzeugen und Historikern

Eine Enquete-Kommission des Brandenburger Landtags beschäftigt sich mit der DDR und deren Erbe in der Gegenwart. Eine wichtige Frage dabei ist, wer die Deutungshoheit hat: Zeitzeugen oder Historiker? Die Bundesstiftung Aufarbeitung diskutierte das Thema in Berlin. Diese Reaktion kennt jeder, der sich für Zeitgeschichte interessiert: Da läuft eine Dokumentation im Fernsehen über die DDR und am nächsten Morgen wird im Büro heftig diskutiert. Denn das, was da zu sehen war, deckt sich nur zum Teil mit dem, was man selbst erlebt hat. „Zeitzeugen wollen sich in Untersuchungen wiedererkennen“, benennt Anna Kaminsky, die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, dieses Phänomen. Immerhin gehe es um ihr eigenes Leben.

Doch allzu oft ist die Sicht von Historikern oder Medien eine andere als die persönliche der Zeitzeugen. Weil das so ist, wird immer wieder gestritten, wer denn die Deutungshoheit habe. So geschehen bei der jüngsten Sitzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ in Potsdam. Haben nüchterne Historiker recht oder die Zeitzeugen, die mit all ihren Emotionen an ihrem Leben, ihrem Erlebten hängen? Noch dazu wenn sie Opfer waren und sich noch immer nicht gerecht behandelt fühlen.

Alexander von Plato hat als Historiker den Zeitzeugen immer viel Gewicht in seiner Arbeit eingeräumt. Er hat die sogenannte „Oral History“, die erzählte Geschichte, in der Bundesrepublik maßgeblich etabliert. Plato plädiert für eine Kooperation von Zeitzeugen und Zeithistorikern. Dabei verlangt er vor allem vom Historiker ehrliches Interesse an den Schilderungen der meist älteren Zeitzeugen. Denn das Erzählen „ist ein wesentliches Mittel zur Verarbeitung des Erlebten“. Aber der Zeitzeuge geht immer auch das Risiko ein, eine Entwertung zu erleben. Denn der Historiker habe zusätzliche Quellen wie Akten oder Statistiken, die das Leben des Einzelnen in größere Zusammenhänge einbetten.

Ganz radikal formuliert Günther Kröber seine Kritik an Historikern der DDR-Geschichte. Kröber war in den späten 40er-Jahren in der sächsischen LDP (später LDPD) aktiv, war zeitweise von der Stasi inhaftiert und nach der friedlichen Revolution FDP-Abgeordneter in Sachsen. Er bezweifelt, dass Stasi-Akten brauchbare Quellen für Historiker sein können. Da sie sämtlich auf widerrechtlichem Wege entstanden seien, „sind sie für die Wissenschaft nicht zu verwerten“.

Das sieht Ilko-Sascha Kowalczuk anders. Der Historiker der Stasi-Unterlagen-Behörde: „Ich traue zunächst niemandem.“ Das bezieht sich bei ihm auf Zeitzeugen genauso wie auf Stasi-Unterlagen. Der Historiker wisse um die Entstehung der Akten. Und er wisse um die Erinnerungsfähigkeit von Zeitzeugen. Mit den Methoden der Wissenschaft müsse man sich dem annähern, was untersucht werde. Bernd Faulenbach kennt inzwischen beide Rollen. Als maßgeblicher Historiker arbeitete er in den beiden Enquete-Kommissionen des Bundestags zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts mit. Mehr als zehn Jahre später beschäftigen sich Zeithistoriker schon mit deren Arbeit. Und so findet sich Faulenbach nun auch in der Rolle des Zeitzeugen. „Ich habe ähnliche Reflexe wie andere Zeitzeugen auch“, gibt Faulenbach zu.

Einig waren sich Historiker und Zeitzeugen in der Kritik an den Medien. Vor allem das Fernsehen benutze Zeitzeugen oft nur, um sich hinter den stark gekürzten Aussagen von ihnen zu verstecken. Das grenze an Missbrauch von Zeitzeugen. Den befürchtet auch Zuhörerin Anke Kruschat. Sie lenkte die Diskussion auf die Brandenburger Enquete-Kommission und betonte, dass sich gerade die einstige DDR-Opposition noch heute ständig erklären müsse. Dies führe dazu, dass viele sich Zeitzeugen nicht mehr äußern wollten. Aus der Sicht der Wissenschaft bestätigte Faulenbach dieses Phänomen. Es daure oft sehr lange, bis sich die Anerkennung durchsetze.

Historiker Kowalczuk fügte dem noch hinzu, dass die Opfer gleich dreifach gedemütigt worden seien. Zunächst wurden sie durch die Inhaftierung ausgeschlossen. Anschließend durften sie nicht über das in der Haft Erlebte reden. Und schließlich habe sich im vereinigten Deutschland lange niemand für ihr Schicksal interessiert. „In Brandenburg ist das offensichtlich besonders eklatant“, urteilt der Historiker. MOZ-Beitrag…