„Wer wir sind“ heißt der große Roman über den deutschen Widerstand gegen das Dritte Reich von Sabine Friedrich. Auf mehr als 2000 Seiten hatte sie akribisch und fesselnd die Geschichte über die Deutschen literarisiert, auf die wir heute stolz sind. Das Thema hat Friedrich nicht losgelassen. Jetzt ist der erste Band einer angekündigten Trilogie über den Widerstand erschienen. „Einige aber doch“ ist ein großartiger Roman über die Rote Kapelle, dem man eine weite Verbreitung wünscht. Denn Vergleichbares gibt es derzeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nicht.
Schlagwort: Nationalsozialismus
Claudia Weber erinnert faszinierend an den Hitler-Stalin-Pakt
Es ist genau 80 Jahre her, dass sich Adolf Hitler und Jose Stalin auf einen Pakt verständigten. Am 23. August 1939 verbündeten sich die beiden brutalen Diktaturen, um Polen von der Landkarte zu tilgen. Offiziell handelte es sich um einen Nichtangriffs-Pakt. Aber im geheimen Zusatzprotokoll wurde viel mehr geregelt. Claudia Weber, Historikerin an der Viadrina in Frankfurt (Oder), hat jetzt ein Buch veröffentlicht, in dem sie aufzeigt, dass der Hitler-Stalin-Pakt die Voraussetzung zum Einmarsch der Wehrmacht in Polen war – und für eine fast zweijährige gute Zusammenarbeit zwischen Roter Armee und Wehrmacht.
Hans Joachim Schädlich folgt Felix und Felka Nussbaum durchs Exil
In den Nachrichten berichten sie von Schiffen voller Flüchtlingen, denen die Einfahrt in italienische Häfen verweigert wird. In der Hand liegt ein Buch, das davon erzählt, was Menschen passiert, die trotz Flucht und Exil statt in einem sicheren Hafen in einem Zug nach Auschwitz landen. „Felix und Felka“ von Hans Joachim Schädlich komprimiert die Fluchtgeschichte von Felix Nussbaum und seiner Frau Felka Platek. Die 192 Seiten machen traurig. Und nach dem Lesen bin ich fassungslos, weil in den Nachrichten gesagt wird, dass im vergangenen Monat 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind.
Der erschütternde Euthanasie-Roman von Barbara Zoecke
Dieses Buch ist die vielleicht erstaunlichste Neuerscheinung des Jahres: „Die Stunde der Spezialisten“ von Barbara Zoeke. Da ist zum einen die unglaublich klare Sprache. Da ist das kunstvolle Weben des Erzählungsgeflechts. Und da ist eine Geschichte, die den Leser emotional so mitnimmt, dass selbst Tränen fließen. Barbara Zoeke hat einen Roman geschrieben, der es schafft, ohne Kitsch, ohne Oberflächlichkeit, ohne jede Übertreibung auskommt. Vielmehr ist es die gekonnte Zurückhaltung, die dem Leser in manchem Moment fast den Atem raubt.
Herbert Lackner ruft die Flucht vor den Nazis ins Gedächtnis
Wer es wissen will, weiß es. Die Vertreibung der deutschen, der österreichischen, der tschechischen, französischen, belgischen, polnischen usw. Intelligenz aus Europa ist bekannt. Aber dennoch ist es gut, das der langjährige Chefredakteur des österreichischen Politik-Magazins „Profil“ ein neues Buch über „Die Flucht der Dichter und Denker“ geschrieben hat. Denn diese Geschichte enthält alles, was auch heute wieder im Zusammenhang mit Asyl und Flucht diskutiert wird.
Hans Keilsons Sonette einer verbotenen Liebe
Liebe in Zeiten des Untergrunds und des Exils ist immer auch ein Hoffen auf eine andere Zukunft. 1944, als Hans Keilson seine Sonette für Hanna schrieb, waren die Niederlande noch immer von den Deutschen besetzt. Hans Keilson lebte im Untergrund und lernte eine junge Frau, die sich als Jüdin vor den deutschen Mördern und ihren Helfern verstecken musste, kennen. Und er begann Hanna zu lieben. Davon zeugen die 46 Sonette, die vom S. Fischer Verlag jetzt erstmals als eigenes Buch veröffentlicht wurden.
Maxim Biller ist im Kopf von Bruno Schulz
Bruno Schulz, der große polnisch-jüdische Schriftsteller schreibt einen Brief an Thomas Mann. 1938, schon nach dem Einmarsch Deutschlands ins Sudetenland, sitzt Schulz an seinem Schreibtisch im heimisch Drohobycz und berichtet in einem Brief an den Autoren-Kollegen von dessen Doppelgänger. Das ist der Rahmen für eine kleine Novelle von Maxim Biller, in der auf nicht einmal 70 Seiten ein visionärer Alptraum entsteht, dem man sich als Leser nicht entziehen kann.
Fund nach 80 Jahren: Der Roman Ullstein von Stefan Großmann
„Wir können warten“. So lautet der Titel eines außergewöhnlichen Romans. Aber der Autor konnte gar nicht warten. Die Zeit ist über das Manuskript hinweg gegangen. 1935 war das Manuskript in einem Zustand, der noch eine weitere Überarbeitung erfordert hätte. Aber Stefan Großmann starb in Wien. Im Exil in seiner ursprünglichen Heimatstadt, nachdem er Berlin verlassen hatte. Jetzt, fast 80 Jahre später ist sein Roman erschienen. Und wenn man ihn gelesen hat, dann stellt man fest: Eigentlich konnten wir auf diesen Schlüsselroman nicht warten. Zu gut, zu packend ist die Geschichte vom Niedergang des Pressehauses Ullstein in den 1930er-Jahren.
Boris Pahor schreibt über die Unterdrückung der Slowenen in Italien
Boris Pahor ist einer von den Schriftstellern, von denen ich bis vor kurzem nichts wusste. Ein Mann aus der Mitte Europas, der ein wichtiges literarisches Werk geschrieben hat. Aber ein Slowene und damit ein Angehöriger eines Volkes, das in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wird. Noch immer orientieren wir uns ja viel stärker in Richtung Westen als nach Osten.
Karl-Markus Gauß ist da anders. Der Österreicher hat schon immer einen offenen Blick in die slawische Welt, nach Zentraleuropa, wo einst die Österreichische Doppelmonarchie vom Vorarlberg bis in die heutige Ukraine herrschte. Das heute italienische Triest war 1913 auch Teil dieses Vielvölkerstaates. Damals wurde Boris Pahor dort geboren. Damals gab es auch ein slowenisches Kulturhaus in der Stadt. Denn die slowenische Minderheit wurde von den Österreichern zumindest respektiert.
Nach dem 1. Weltkrieg hat sich das geändert. Unter italienischer Herrschaft hatten es die Minderheiten sehr viel schwerer. Und spätestens als Mussolini mit seinen Faschisten die Macht in Italien übernahm, war es erklärtes Ziel des Staates, die Minderheiten zu italienisieren. Und damit auch die Familie Pahor. In seinem Buch „Piazza Oberdan“ beschreibt er das alles sehr intensiv. Denn in der Nähe des Platzes ist er aufgewachsen. An diesem Platz stand der „Narodny Dom“, das Kulturhaus der Slowenien in Triest, in dem der kleine Boris seine ersten Kulturveranstaltungen erlebte. Und an diesem Platz war später die Zentralen der Gestapo, in deren Keller Boris Pahor inhaftiert war.
Pahor wählt für dieses Buch, das er erst in sehr hohem Alter schrieb, eine Mischung aus Essai, Autobiografie, Erzählungen und historischen Beschreibungen. Das erzeugt eine ungeheure Dichte, die manche Zeilen beklemmend macht. Etwa wenn von dem slowenischen Mädchen berichtet wird, das von seinem italienischen Lehrer an seinen Zöpfen aufgehängt wurde, weil es seine Muttersprache benutzte. Oder wenn er von seinem Gewissensbissen berichtet, weil er sich nicht für den bewaffneten Widerstand gegen Faschisten und deutsche Nazis berufen fühlte. Und sprachlos macht auch, wenn Pahor erzählt, dass die Opfer der Minderheiten in Italien bis heute nicht gewürdigt oder ihrer Opfer gedacht wird.
Ich bin froh, dass ich „Ruhm am Nachmittag“ von Karl-Markus Gauß gelesen habe. Nicht nur weil es ein gutes Buch ist, sondern weil ich dort auf seine Empfehlung von Boris Pahor gestoßen bin. „Piazza Oberdan“ wird nicht das einzige Buch von ihm bleiben.
Mein Großvater beim Tag von Potsdam
Es muss ein großer Tag für ihn gewesen sein, dieser 21. März 1933. 27 Jahre war der Polizist alt, der offenbar diese Fotos vom „Tag von Potsdam“ machte. Ganz nah war er an Herrmann Göring, seinem preußischen Innenminister. Adolf Hitler, der Reichskanzler, und Paul von Hindenburg, der Reichspräsident waren für ihn, der diese Fotos trotz seiner dienstlichen Anwesenheit offenbar machen konnte, zum Greifen nahe.
Für den jungen Polizisten war dieser „Tag von Potsdam“ auch Jahrzehnte später noch eine wichtige Erinnerung. In der Garnisionkirche, mit den Gräbern von Friedrich dem Großen und dem Soldatenkönig, kam für ihn alles zusammen, was Preußen ausgemacht hat. Bis zu seinem Lebensende stand eine kleine Statue Friedrichs II. auf seinem Schreibtisch. Genau hier, in dieser Kirche, trat nun der neugewählte Reichstag zusammen, nachdem der eigentliche drei Wochen zuvor in Flammen aufgegangen war.
Der preußische Schutzpolizist war eine kleine Randfigur. Aber er spürte, dass an diesem Tag etwas Entscheidendes passierte. Ob er selbst die Nazis gewählt hatte, weiß ich nicht. Aber dass ihm, dessen Schwester mit einem jüdischen Zahnarzt verlobt war, der vulgäre Antisemitismus der Nazis zu wider war, glaube ich sicher. Und doch brachte dieser Tag auch Ruhe für ihn. Saalschlachten, Straßenschlachten und von Nazis oder Kommunisten getötete Polizisten gehörten danach der Vergangenheit an. Insofern kehrte für meinen Großvater Ordnung ein. Die Familiengründung wurde plausibler. Und das alles im Geiste Preußens.
Der war ihm wichtig. Hatte doch dieser in seiner Wahrnehmung einen maßgeblichen Anteil daran, dass er als gelernter Schlosser und Sohn eines sozialdemokratischen Metallgießers über die Polizei einen gesellschaftlichen Aufstieg erlebte. Einen, der noch dazu von den Hauptakteuren in und vor der Garnisionkirche auch gewollt war.
So verdichteten sich in den wenigen Dingen, die er seinem Enkel aus der Vorkriegszeit erzählte, in diesem „Tag von Potsdam“ ganz viel Unterschiedliches. Und in dem, was er nicht erzählte, wurde deutlich, woran er sich nicht erinnern wollte: willkürliche Verhaftungen, SA und erste KZ, Ausschaltung des Parlaments. Wobei er letzteres gar nicht so schlecht fand. Den von rechts und links ungewollten und bekämpften Parlamentarismus, den er als preußischer Polizist mit Leib und Leben verteidigen musste, vermisste er nicht. Aber die kulturelle Vielfalt, die von den Uniformen im Alltag verdrängt wurde, offenbar schon. Denn von der erzählte der Berliner, der in der Kreuzberger Bergmannstraße geboren worden war, noch eindringlicher als vom „Tag von Potsdam“.