„Wer wir sind“ heißt der große Roman über den deutschen Widerstand gegen das Dritte Reich von Sabine Friedrich. Auf mehr als 2000 Seiten hatte sie akribisch und fesselnd die Geschichte über die Deutschen literarisiert, auf die wir heute stolz sind. Das Thema hat Friedrich nicht losgelassen. Jetzt ist der erste Band einer angekündigten Trilogie über den Widerstand erschienen. „Einige aber doch“ ist ein großartiger Roman über die Rote Kapelle, dem man eine weite Verbreitung wünscht. Denn Vergleichbares gibt es derzeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nicht.
Schlagwort: Harro Schulze-Boysen
“Wer wir sind” (4) – Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind
Mit Hilde Coppi beginnt mein vierter Teil von „Wer wir sind“. Es sind ja immer 250 Seiten, die ich in einem kleinen Text über meine Leseerfahrungen mit dem 2000-Seiten-Buch von Sabine Friedrich aufschreibe. Bis Seite 800 geht quasi das erste Buch das auch als solches hätte verkauft werden können. Es ist in sich geschlossen und ein literarisches Denkmal für die Rote Kapelle.
Die letzten 50 Seiten dieses Teils handeln vor allem von Hilde Präsens der Frau. Sie schildert die Verlegung in das Frauengefängnis. Sie beschreibt die Entbindung und das Leben mit ihrem Kind. Und sie macht den Leser fassungslos, wenn er lesen muss, wie Mutter und Kind auseinandergerissen werden. Denn nach einigen Monaten kann Hilde Coppi nicht mehr stillen. Das ist der Moment, in dem sie ihr Leben verliert. Durch Hinrichtung. Für die Nazis hat sie dann genug Leben gespendet. Brutaler und erschütternder ist bis dahin nichts in „Wer wir sind“. Sabine Friedrich lässt die Ereignisse und die Gefühle der Betroffenen für sich sprechen. Wie vermeidet jede Dramatisierung, obwohl sie das Leben in der Zelle natürlich einfühlsam erfindet. Aber eben nie so, dass sie selbst das Geschehen dominieren könnte.
Und dann beginnt das zweite Buch. Jetzt schreibt Sabine Friedrich über den adligen Widerstand in der Abwehr, der Wehrmacht und dem Auswärtigen Amt, der viel zu spät am 20. Juli 1944 versuchte Deutschland von Adolf Hitler zu befreien. Helmuth James Graf von Moltke begleitet sie zunächst. Und seine Frau Freya. Ihrer beider Einführung in den Roman stellt einen Bruch dar. Was angesichts des abgeschlossenen, tödlichen Handlungsstrangs der Roten Kapelle nicht verwunderlich ist. Jetzt schreibt Friedrich ganz behutsam über die Herkunft der beiden, zeichnet ihren Weg nach – und dennoch verwebt sie auch dies mit dem zuvor gelesenen. Auch die Moltkes haben Bekannte, die bereits eine Rolle spielten. Aber der Tonfall ist jetzt noch ruhiger, ja philosophischer als im ersten Teil.
Mehr zu „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus
„Wer wir sind“ (3) – Das Ende der Roten Kapelle
Immer dieses Präsens. Auf den ersten 500 Seiten gab es einige Momente, in denen ich es verfluchte. An Szenenwechsel, Personenwechsel und teilweise Zeitsprüngen über Jahrzehnte muss sich der Leser erst gewöhnen. Aber wenn man in den Lesefluss kommt, dann spielt das ständige Präsens keine Rolle mehr. Dann tritt ein Effekt wie in einem Film ein, in dem Szene für Szene auch in der jeweiligen Gegenwart spielt, selbst wenn es eine Rückblende ist.
Gerade in den Passagen bis zu Seite 750 von „Wer wir sind“ wird das Präsens sogar besonders wirkungsmächtig. Denn Sabine Friedrich nimmt auf ihnen das Ende der Roten Kapelle in den Blick. Unglaublich, dass der lose Ring daran scheiterte, dass der sowjetische Geheimdienst – wenn auch verschlüsselt – Namen und Adressen funkte! Nach der Entschlüsselung war es für die Gestapo nicht schwer, die Akteure festzunehmen.
Haft, Verhöre, Gerichtsverhandlungen – von allen Auswirkungen des Unrechtsstaates erzählt Sabine Friedrich. Und genau hierbei ist das Präsens stark und anrührend. Beim Lesen verschwimmt jede Distanz. Man wird zum anwesenden Beobachter, nimmt ein bisschen die Perspektive von Harald Poelchau ein, dem Gefängnispfarrer, der zum Bindeglied der Inhaftierten untereinander und deren Familien wird. Und letztlich zum letzten Begleiter der zum Tode Verurteilten. All das ist sehr dicht geschrieben und nimmt den Leser gefangen.
Erstaunlich ist auch weiterhin das Beziehungsgeflecht derer, die sich gegen Hitler engagierten. Falk Harnack, der kleine Bruder von Arvid Harnack, einem der wichtigsten Akteure der losen Gruppe, die von den Nazis dann „Rote Kapelle“ genannt wurde, war mit den Scholls von der Weißen Rose in München befreundet. Deshalb nimmt Sabine Friedrich auch die Münchner Studentengruppe in den Blick.
Und immer wieder erschreckend ist das Wiedererkennen von Gebäuden oder Landschaften, in denen sich das damalige Leben abspielte. Und die heute genauso belebt sind, oftmals ohne die Erinnerung an deren einst mutige Bewohner zu bewahren. Etwa auf der Insel im Teupitzer See, auf der sich Libertas Schulze-Boysen ein Grundstück gekauft hatte.
Mehr zu „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus