Berlin erinnert mit Litfass-Säulen an die zerstörte Vielfalt

Die zwei Reihen der Litfass-Säulen vor dem Berliner Lustgarten am Dom sind ein Blickfang. Die Passanten bleiben stehen und schauen, etliche beginnen sogar zu lesen. Sie finden Namen und Fotos – alls schwarz-weiß. Auf jeder Säule sind vier kurze Porträts von Künstlern, Schriftstellern, Schauspielern und anderen Prominenten, die von den Nazis ins Exil vertreiben wurden – oder in den Tod. Sie stehen alle für die kulturelle Blüte Berlins, die nach 1933 verwelkte. Und nie wieder so vielfältig uns farbenfroh wurde. „Zerstörte Vielfalt“ eben.

Eveline Hasler erinnert an den großen Fluchthelfer Varian Fry

Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff
Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff

Varian Fry war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. In Zeit größter Not setzte er sich großer Gefahr aus, um Menschen zu retten. Schriftsteller, Maler, Wissenschaftler, die vor den Nazis nach Frankreich geflohen waren und 1940/41 versuchten über Marseille den Sprung ins sichere Amerika zu schaffen. Varian Fry kam ist nach Marseille gekommen und hat mit legalen Mitteln Visa für die USA beschafft- und mit illegalen Mitteln Pässe und Ausreisegenehmigungen für seine Schützlinge. Zu ihnen gehörten Heinrich Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Hannah Arendt, Walter Mehring oder Max Ernst. Am Ende waren es mehr als 2000 Menschen.

Diesem Varian Fry, amerikanischer Journalist und später auch Lehrer, setzt die Schweizerin Eveline Hasler mit ihren neuen Roman „Mit dem letzten Schiff – Der gefährliche Auftrag von Varian Fry“ ein kleines Denkmal. Das ist richtig und gut, auch wenn sich Hasler nicht ganz entscheiden kann, ob sie einen Roman oder doch eher eine biographische Skizze schreiben will. Der Verlag Nagel & Kimche nennt dies dokumentarischen Roman. Das stimmt insofern, als dass sie sich aus der Fülle des vorhandenen Materials über das Emergency Rescue Committee bedient, um ein sehr glaubwürdiges Buch zu schreiben. Aber der Roman kommt dabei dann doch etwas kurz.

Das ist aber nicht unbedingt schlimm. Vor allem für all jene, die noch nichts über Varian Fry oder gar dessen autobiografischen Bericht „Auslieferung auf Verlangen“ gelesen haben. Für sie ist Haslers Buch ein packender Text über Mut, Verzweiflung, Grausamkeit und die Kraft der Hoffnung und der rettenden Tat in einer eigentlich ausweglosen Situation. Ihnen öffnet sie einen neuen Blick auf den menschenverachtenden Irrsinn des Nationalsozialismus und die Kollaboration französischer Behörden, die in ihren Lagern die Deportation derer vorbereiteten und organisierten, denen es gelungen war, zwischen 1933 und 1940 Deutschland in Richtung Freiheit in Frankreich zu verlassen.

Aber für all jene, denen all dies bekannt ist, denen die Schicksale Varian Frys und seiner Schützlinge bekannt sind, erzählt sie nichts Neues. Und da, wo die Form des Romans die Kraft hätte, auszuschmücken, sich in das Denken und Fühlen der Betroffenen zu versetzen, also mit Phantasie und literarischer Kraft etwas Neues zu Formen, da bleibt Eveline Hasler seltsam bedeckt. Anders als Sabine Friedrich in ihrem großen Roman über den deutschen Widerstand – „Wer wir sind“. Das ist schade. Aber angesichts des wichtigen und an sich schon sehr dramatischen Stoffes, nicht so schlimm, dass es Leser vom Griff nach diesem Roman abhalten sollte.

Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff – Der gefährliche Auftrag von Varian Fry. Nagel & Kimche

Wer wir sind (8) – Wut und Trauer über das Scheitern

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Die letzten 250 Seiten von „Wer wir sind“ gehen an die Nieren. Sabine Friedrich gelingt es, den Leser emotional so zu packen, dass Wut, Trauer, Verzweiflung aufsteigen. Diese Wut beim Lesen der Passagen über die Verhandlungen des Volksgerichtshofs. Diese Wut über Roland Freissler, dessen Vorsitzenden, der es nicht einmal zugelassen hat, dass sich die Angeklagten verteidigen können. Oder die Wut über Hanns Martin Schleyer, den Sabine Friedrich exemplarisch für all diejenigen auftreten lässt, die sich am Unrecht der Nazis bereicherten. Auf den Seiten 1828 und 1829 schildert sie ganz kurz, wie sich der spätere Arbeitgeberchef eine Villa in Prag unter den Nagel riss, weil die vorherigen Bewohner, die sich selbst schon bereichert hatten, wegen ihres aufrechten Sohnes in Ungnade gefallen waren.

Oder die Verzweiflung, weil Dietrich Bonhoeffer es nicht wagt aus dem Gefängnis zu fliehen, weil inzwischen auch sein Bruder verhaftet wurde – und er nicht will, dass sich an ihm gerächt wird. Die Verzweiflung über die Ignoranz, mit der den Überlebenden des Attentats in der Bundesrepublik begegnet wurde. Und die Trauer über all die Toten, die sich durchgerungen hatten, endlich etwas gegen die braunen Mörder zu unternehmen – und die dafür mit dem Leben bezahlten. Das Mitgefühl mit den Hinterbliebenen, die im untergehenden Dritten Reich, im Bombenhagel und im besetzten Schlesien einen Weg fürs eigenen Überleben suchten.

All das schildert Sabine Friedrich ruhig. Diese Ruhe fesselt den Leser emotional. Den Schicksalen kann man sich nicht entziehen. Friedrich dramatisiert nicht. Dieser Versuchung angesichts des dramatischen Stoffes, den sie sich ausgesucht hat, erliegt sie nicht. Genau darin liegt die Qualität des Romans. Und darin, dass sie all diese Menschen nicht nur ins Gedächtnis zurückholt, sondern sie auch Mensch sein lässt. Mit Stärken und Schwächen. Nicht unanfechtbare Helden, sondern Männer und Frauen mit Sorgen um die Kinder, Freude über ein gutes Essen oder einen besonderen Wein und Befriedigung angesichts gelungener Arbeit.

„Wer wir sind“ ist ein großer, doppeldeutiger Titel. Sabine Friedrich wird ihm gerecht. Der Leser weiß nach 2000 Seiten, wer die Menschen waren, die sich gegen Hitler und den Nationalsozialismus stellten. Er weiß, warum viele so lange dafür brauchten und andere von Anfang an dagegen waren. Aber auch die zweite Ebene, auf wen wir uns im Erinnern beziehen sollten, wird klar. Die Zeit, die das Lesen dieser 2000 Seiten kostet, ist keine vertane Zeit. Sie ist ein Gewinn. Und spätestens, wenn dieses Buch verfilmt wird, wird man den Menschen und ihrem Mut wieder begegnen. Erinnern wird man sich aber immer wieder. Beim Gang durch Berlin, wenn man die Orte passiert, in denen sie lebten und litten und starben.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

“Wer wir sind” (4) – Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Mit Hilde Coppi beginnt mein vierter Teil von „Wer wir sind“. Es sind ja immer 250 Seiten, die ich in einem kleinen Text über meine Leseerfahrungen mit dem 2000-Seiten-Buch von Sabine Friedrich aufschreibe. Bis Seite 800 geht quasi das erste Buch das auch als solches hätte verkauft werden können. Es ist in sich geschlossen und ein literarisches Denkmal für die Rote Kapelle.

Die letzten 50 Seiten dieses Teils handeln vor allem von Hilde Präsens der Frau. Sie schildert die Verlegung in das Frauengefängnis. Sie beschreibt die Entbindung und das Leben mit ihrem Kind. Und sie macht den Leser fassungslos, wenn er lesen muss, wie Mutter und Kind auseinandergerissen werden. Denn nach einigen Monaten kann Hilde Coppi nicht mehr stillen. Das ist der Moment, in dem sie ihr Leben verliert. Durch Hinrichtung. Für die Nazis hat sie dann genug Leben gespendet.  Brutaler und erschütternder ist bis dahin nichts in „Wer wir sind“. Sabine Friedrich lässt die Ereignisse und die Gefühle der Betroffenen für sich sprechen. Wie vermeidet jede Dramatisierung, obwohl sie das Leben in der Zelle natürlich einfühlsam erfindet. Aber eben nie so, dass sie selbst das Geschehen dominieren könnte.

Hilde Coppi. Quelle: Wikipedia
Hilde Coppi. Quelle: Wikipedia

Und dann beginnt das zweite Buch. Jetzt schreibt Sabine Friedrich über den adligen Widerstand in der Abwehr, der Wehrmacht und dem Auswärtigen Amt, der viel zu spät am 20. Juli 1944 versuchte Deutschland von Adolf Hitler zu befreien. Helmuth James Graf von Moltke begleitet sie zunächst. Und seine Frau Freya. Ihrer beider Einführung in den Roman stellt einen Bruch dar. Was angesichts des abgeschlossenen, tödlichen Handlungsstrangs der Roten Kapelle nicht verwunderlich ist. Jetzt schreibt Friedrich ganz behutsam über die Herkunft der beiden, zeichnet ihren Weg nach – und dennoch verwebt sie auch dies mit dem zuvor gelesenen. Auch die Moltkes haben Bekannte, die bereits eine Rolle spielten. Aber der Tonfall ist jetzt noch ruhiger, ja philosophischer als im ersten Teil.

Mehr zu „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

„Wer wir sind“ (3) – Das Ende der Roten Kapelle

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Immer dieses Präsens. Auf den ersten 500 Seiten gab es einige Momente, in denen ich es verfluchte. An Szenenwechsel, Personenwechsel und teilweise Zeitsprüngen über Jahrzehnte muss sich der Leser erst gewöhnen. Aber wenn man in den Lesefluss kommt, dann spielt das ständige Präsens keine Rolle mehr. Dann tritt ein Effekt wie in einem Film ein, in dem Szene für Szene auch in der jeweiligen Gegenwart spielt, selbst wenn es eine Rückblende ist.

Gerade in den Passagen bis zu Seite 750 von „Wer wir sind“ wird das Präsens sogar besonders wirkungsmächtig. Denn Sabine Friedrich nimmt auf ihnen das Ende der Roten Kapelle in den Blick. Unglaublich, dass der lose Ring daran scheiterte, dass der sowjetische Geheimdienst – wenn auch verschlüsselt – Namen und Adressen funkte! Nach der Entschlüsselung war es für die Gestapo nicht schwer, die Akteure festzunehmen.

Harald Poelchau Quelle: Kreisau-Initiative
Harald Poelchau. Quelle: Kreisau-Initiative

Haft, Verhöre, Gerichtsverhandlungen – von allen Auswirkungen des Unrechtsstaates erzählt Sabine Friedrich. Und genau hierbei ist das Präsens stark und anrührend. Beim Lesen verschwimmt jede Distanz. Man wird zum anwesenden Beobachter, nimmt ein bisschen die Perspektive von Harald Poelchau ein, dem Gefängnispfarrer, der zum Bindeglied der Inhaftierten untereinander und deren Familien wird. Und letztlich zum letzten Begleiter der zum Tode Verurteilten. All das ist sehr dicht geschrieben und nimmt den Leser gefangen.

Erstaunlich ist auch weiterhin das Beziehungsgeflecht derer, die sich gegen Hitler engagierten. Falk Harnack, der kleine Bruder von Arvid Harnack, einem der wichtigsten Akteure der losen Gruppe, die von den Nazis dann „Rote Kapelle“ genannt wurde, war mit den Scholls von der Weißen Rose in München befreundet. Deshalb nimmt Sabine Friedrich auch die Münchner Studentengruppe in den Blick.

Libertas Schulze-Boysen. Quelle: Wikipedia
Libertas Schulze-Boysen. Quelle: Wikipedia

Und immer wieder erschreckend ist das Wiedererkennen von Gebäuden oder Landschaften, in denen sich das damalige Leben abspielte. Und die heute genauso belebt sind, oftmals ohne die Erinnerung an deren einst mutige Bewohner zu bewahren. Etwa auf der Insel im Teupitzer See, auf der sich Libertas Schulze-Boysen ein Grundstück gekauft hatte.

Mehr zu „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind 
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

 

Wer wir sind (2) – Das Gewebe der Roten Kapelle

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Nach den ersten 250 Seiten spielt der beeindruckende Umfang von „Wer wir sind“ keine Rolle mehr. Sabine Friedrich erzählt immer eine konkrete Szene, um dann zu einer ganz anderen zu wechseln. Dabei überspringt sie Jahre, dabei wechselt sie Schauplätze. Die nächste Szene mit anderen Menschen aus dem Widerstand ist wieder ganz konkret. Wieder wird sie in der Gegenwart erzählt und wieder ist die Szene abgeschlossen.

So reiht sich eine Begebenheit an die andere, so verwebt sie das Leben der Akteure der „Roten Kapelle“ zu einem erstaunlich dichten Gewebe. Selbst wenn man angesichts der vielen Namen manchmal den Überblick zu verlieren droht – oder gar verliert, ist es nicht schlimm. Denn schon die nächste Szene eröffnet eine neue Perspektive auf die Menschen, die sich mit Hitlers Diktatur nicht arrangieren wollten oder konnten.

Arvid von Harnack.Quelle: Wikipedia
Arvid Harnack.Quelle: Wikipedia

Erstaunlich, wie viele Beamte und Juristen im Widerstand eine wichtige Rolle spielten, so wie Hans von Dohnanyi. Er diskutierte mit Kollegen und Vorgesetzten im Oberkommando der Wehrmacht recht offen über seine Sicht auf Hitler. Auch Arvid von Harnack, Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium, ist Jurist. Was sie antreibt, wenn sie ausländischen Botschaften wichtige Informationen zukommen lassen, wird in Sabine Friedrichs Buch einfach und klar verständlich – und auch welches Risiko sie dabei eingehen.

Auch die zweiten 250 Seiten sind also nicht langweilig. Sie lesen sich schnell. Und auch sie sind mit ihrer Bandbreite von Verliebtheit bis Zwangsarbeiter-Elend so emotional anrührend, dass das Weiterlesen ein unbedingtes Muss ist.

Mehr „Wer wir sind“:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind 
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Wer wir sind (1) – Ein verblüffend leichter Einstieg

Sabine Friedrich: Wer wir sind
Sabine Friedrich: Wer wir sind

Das Buch ist so schwer. Mehr als 1250 Gramm. In der Zeit, von der „Wer wir sind“ erzählt, hätte man zweieinhalb Pfund gesagt. 2000 Seiten Dünndruckpapier wurden mit dem Text bedruckt. Sabine Friedrich hat auf Ihnen ein Panorama des deutschen Widerstands gegen Hitler und die Nationalsozialisten entworfen. Es ist also nicht nur das Buch schwer, auch der Inhalt ist alles andere als leicht.

Zwei Wochen habe ich hin und her überlegt, ob ich das Buch wirklich lesen will, ob ich tatsächlich dieses Gewicht mit mir tragen will. Die ersten 250 Seiten zeigen, dass es sich lohnt. Schon der Einstieg ist verblüffend. Das Buch beginnt nicht mit einer explodierenden Bombe, sondern in den USA. In Milwaukee, einer Stadt, in der bis zum 1. Weltkrieg mehr Deutsch als Englisch gesprochen wurde. Aber jetzt, 1917, verändert sich nach dem Eintritt der USA in den Krieg die Wahrnehmung der Einwohner. Deutsche Schilder werden englisch überschrieben. Und Mildred Fish, die spätere Frau von Arvid Harnack, sehnt sich dennoch nach Europa, nach Deutschland.

Dieser Einstieg nimmt dem Buch etwas von der Schwere. Man befindet sich in einer anderen Welt. Man ist weit weg von der Politik und schweren Gewissensentscheidungen. Auf den ersten 250 Seiten geht es so weiter. Schritt für Schritt werden Personen eingeführt, die im Dritten Reich aktiv gegen das Regime gekämpft haben. Verblüffend dabei ist, wer sich alles kannte, wer mit wem verwandt war, wer einst den gleichen Schulweg hatte oder als Kind im Garten des Nachbarn spielte. Die Harnacks und die Bonhoeffers, die von Dohnanyis und viele andere. Sie alle verwebt Sabine Friedrich auf diesen ersten 250 Seiten zu einem Netzwerk, das sie in der Realität auch waren. Nur habe ich das in noch keinem Geschichtsbuch so gelesen. Von Zeile zu Zeile nimmt das Gewicht des Themas ab. Und der Sog mehr erfahren zu wollen nimmt zu.

Mehr zu „Wer wir sind“:
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie Rote Kapelle und Kreisau verbunden sind 
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Wer wir sind – Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Susanne Friedrich bei der Lesung im Berliner Literaturhaus
Susanne Friedrich bei der Lesung im Berliner Literaturhaus

Zwei Stunden Geschichte über eine unglaubliche Anzahl von Geschichten sollten die Scheu vor 2019 Seiten Dünndruck-Roman nehmen. Zwei Stunden über den Widerstand gegen Hitler und die Nationalsozialisten sollten die Gedanken öffnen für die Frage, was Menschen dazu bringt moralisch integer zu bleiben und bis zum Äußersten zu gehen. Zwei Stunden über den Übermut einen Roman aus dem Leben von Dietrich Bonhoeffer über Arvid Harnack, Claus Schenck Graf von Stauffenberg, Helmut James Graf von Moltke bis hin zu Harald Poelchau.

Sabine Friedrich sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl. Sie spricht frei über den Roman „Wer wir sind“. Sie ist sicher, dass dieses Buchprojekt nur so zu bewältigen war. Manfred Görtemaker, der Historiker von der Uni Potsdam, ist im Berliner Literaturhaus verblüfft über das, was Sabine Friedrich da aus den Biografien, Briefen, Nachlässen und vielen Gesprächen geformt hat. Ihm geht es da wie dem Publikum, das sich meist schon mit dem dicken Buch befasst hat. Das Erstaunlichste daran ist, dass und wie Sabine Friedrich aufzeigt, wie sich viele der späteren Widerstandskämpfer schon aus der Kindheit kennen – zumindest über ein oder zwei Ecken. Das nötigt auch Manfred Görtemaker Respekt ab, da sie hier eine Arbeit gemacht hat, die selbst den Historikern in diesem Umfang nicht bekannt war.

Die Textpassagen, die sie liest, machen neugierig. Die Fülle der Seiten wird dadurch nicht kleiner, aber sie scheinen durchdringbar zu sein.  Und die Fragen über Moral und Tapferkeit, über Leiden und Kraft, über Gewissen und Leben wollen beantwortet werden. Das geht nur, wenn ich das Buch jetzt lese. So soll es sein.

P.S. Der Lesung und dem Gespräch folgte das Publikum sehr konzentriert. Bis der Stoffel kam, die Tür aufriss und sich lärmend niederließ. Der Stoffel ist dann sofort wieder raus, um kurz danach erneut die Lesung zu stören. Der Stoffel trägt übrigens Scheitel. Er hat eine Brille und ein weißes Hemd mit bunten Punkten. Er ist sich selbst genug. Der Rest im Raum ist ihm egal. Erst gegen Ende wird der Stoffel demütig. Da holt er sich ein Autogramm ab. Von der Autorin. Von Sabine Friedrich, die sich auch durch seinen Auftritt nicht stören ließ.

Mehr zu „Wer wir sind“:
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8 Wut und Trauer über das Scheitern

Josef Bierbichlers Heimatroman ist voller Wut

Josef Bierbichler: Mittelreich
Josef Bierbichler: Mittelreich

Der Josef Bierbichler hat auf der Bühne eine unglaubliche Präsenz und Wucht. Auch vor der Kamera merkt man ihm immer an, dass in ihm eine Kraft sitzt, die rigoros, massiv, uns wütend ist. In einem Alter, in dem andere an die Rente denken, ja die meisten schon Rentner sind, hat der 1948 geborene Oberbayer seinen ersten Roman vorgelegt. Und auch der ist von dieser wütenden Wucht geprägt.

Bierbichler erzählt die Geschichte des Seewirts am Starnberger See über drei Generationen. Er dokumentiert die Veränderung, die der aufkommende Tourismus und die Motorisierung der Landwirtschaft bedeuteten. Er führt ein in eine bäuerliche Gesellschaft, die mit Politik nicht viel zu tun haben will, aber genau deshalb für den Nationalsozialismus so anfällig ist. Er beschaut eine Welt, in der die katholische Kirche die stabilisierende Kraft ist – und für Semi, den Sohn des Seewirts, die zerstörende, weil der in einer Klosterschule sexuell missbraucht wird. Und er zeigt sozialen Druck, der bis zu Mord und Selbstmord führen kann.

Der Roman ist also voller schwerer Themen. Aber Bierbichler scheitert daran nicht. Im Gegenteil: Wie der große Autor vom Starnberger See, wie Oskar Maria Graf, zeichnet Bierbichler ein Sittenbild, das vor Farbe und Kontrasten nur so strotzt. Allerdings sind diese Farben nur selten warm und bunt. Meist sind sie braun, ocker oder grau in allen Schattierungen. Denn das Leben in dieser Gesellschaft ist hart, obwohl der Seewirt zu den Besitzenden, ja zu den Mittelreichen gehört.

All das lebt vom Sprachvermögen Bierbichlers. Und vom Stoff, der im Kern ja ein Heimat-Stoff ist. Bierbichler leidet an der Heimat, die es nicht zuließ, dass der Seewirt zum Sänger ausgebildet werden konnte. Familie, Erbe und Besitz sind wichtiger als das Ausleben der eigenen – noch dazu künstlerischen – Talente. Aber Bierbichler liebt diese Heimat auch. Sonst könnte er sich nicht so an ihr reiben. Das aber tut er, der nicht nur zufällig genauso alt ist wie Semi. Aber anders als der ist Bierbichler nicht im Suff und in der Depression versunken. Dazu hatte und hat er zu viel Kraft. In diesem Roman kommt man der nicht aus. Sie fängt einen ein – und wie!

Josef Bierbichler: Mittelreich. Suhrkamp Verlag. 392 Seiten kosten 22,90 Euro.

Ob Essad Bey oder Kurban Said, Lev Noussimbaums Leben ist mehr als ein Roman

Tom Reiss: Der Oriantalist als Hörbuch
Tom Reiss: Der Oriantalist als Hörbuch

Das Leben dieses Schriftstellers passt eher in einen Roman als in eine Biografie. Unter seinem richtigen Namen kannte Lev Noussimbaum kaum einer. Dass der Jude aus Baku Essad Bey und Kurban Said war, hat der amerikanische Journalist Tom Reiss rekonstruiert. Und damit das Leben eines faszinierenden Autoren entschlüsselt. In den 30er-Jahren waren Essad Beys Bücher Bestseller in Deutschland, den USA und halb Europa.

Schon in den 20er-Jahren veröffentlichte er Reportagen in der Weltbühne und anderen wichtigen Berliner Blättern. Deutsch konnte er, der Sohn eines einstigen Ölbarons aus Baku von seinem deutschen Kindermädchen. Auf der Flucht vor Stalins Mordbanden über Usbekistan, den Iran, später die anderen Kaukasusländer nach Istanbul und von dort weiter nach Paris und Berlin kamen ihm seine Sprachkenntnisse sehr zu gute. Und er begriff für sich, dass Identität etwas ist, was man nicht unbedingt jedem erzählen sollte. Essad Bey reiste mit Walter Mehring nach Algier. Er schrieb die erste Biografie über Stalin, eine über Mohammed. Und wer diese Bücher heute in die Hand nimmt und liest, wird erstaunt sein, wie gegenwärtig die Sprache ist, wie modern die Gedanken, wie packend der Stil.

Das gilt auch für seine Romane. „Ali und Nino“ ist in etliche Sprachen übersetzt worden. Der Liebesroman über die Blütezeit Bakus und die kulturellen Einflüsse im Kaukasus geht heute noch zu Herzen. Und das nicht als Kitsch, sondern wegen der wunderbaren Sprache und der großartigen Symapthie für die Figuren. Tom Reiss hat eine faszinierende Erzählung über das Europa vor und nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Anhand des Lebens Lev Noussimbaums wird deutlich, was Nationalismus, Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus zerstört haben. Wie die Vielfalt Europas gestutzt und ausgedünnt wurde.

In der Hörbuch-Inszenierung lebt dieses Buch zusätzlich auf. Der kürzlich bei einem Unfall gestorbene Dietmar Mues liest den Text wunderbar. Nina Hoger und Stephan Schad ergänzen Wolfgang Stockmanns Regie. Ein Muss für alle, die mehr über Europa und den Orient erfahren wollen. Und für alle, die diese Weltgegenden erkunden wollen. Die Musik von „Klezmer meets Derwisch“ bringt das zusätzlich zum Ausdruck.

6 CDs sind in schöner Aufmachung bei Griot erschienen und sollen gut 30 Euro kosten.