Das Leben dieses Schriftstellers passt eher in einen Roman als in eine Biografie. Unter seinem richtigen Namen kannte Lev Noussimbaum kaum einer. Dass der Jude aus Baku Essad Bey und Kurban Said war, hat der amerikanische Journalist Tom Reiss rekonstruiert. Und damit das Leben eines faszinierenden Autoren entschlüsselt. In den 30er-Jahren waren Essad Beys Bücher Bestseller in Deutschland, den USA und halb Europa.
Schon in den 20er-Jahren veröffentlichte er Reportagen in der Weltbühne und anderen wichtigen Berliner Blättern. Deutsch konnte er, der Sohn eines einstigen Ölbarons aus Baku von seinem deutschen Kindermädchen. Auf der Flucht vor Stalins Mordbanden über Usbekistan, den Iran, später die anderen Kaukasusländer nach Istanbul und von dort weiter nach Paris und Berlin kamen ihm seine Sprachkenntnisse sehr zu gute. Und er begriff für sich, dass Identität etwas ist, was man nicht unbedingt jedem erzählen sollte. Essad Bey reiste mit Walter Mehring nach Algier. Er schrieb die erste Biografie über Stalin, eine über Mohammed. Und wer diese Bücher heute in die Hand nimmt und liest, wird erstaunt sein, wie gegenwärtig die Sprache ist, wie modern die Gedanken, wie packend der Stil.
Das gilt auch für seine Romane. „Ali und Nino“ ist in etliche Sprachen übersetzt worden. Der Liebesroman über die Blütezeit Bakus und die kulturellen Einflüsse im Kaukasus geht heute noch zu Herzen. Und das nicht als Kitsch, sondern wegen der wunderbaren Sprache und der großartigen Symapthie für die Figuren. Tom Reiss hat eine faszinierende Erzählung über das Europa vor und nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Anhand des Lebens Lev Noussimbaums wird deutlich, was Nationalismus, Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus zerstört haben. Wie die Vielfalt Europas gestutzt und ausgedünnt wurde.
In der Hörbuch-Inszenierung lebt dieses Buch zusätzlich auf. Der kürzlich bei einem Unfall gestorbene Dietmar Mues liest den Text wunderbar. Nina Hoger und Stephan Schad ergänzen Wolfgang Stockmanns Regie. Ein Muss für alle, die mehr über Europa und den Orient erfahren wollen. Und für alle, die diese Weltgegenden erkunden wollen. Die Musik von „Klezmer meets Derwisch“ bringt das zusätzlich zum Ausdruck.
6 CDs sind in schöner Aufmachung bei Griot erschienen und sollen gut 30 Euro kosten.
So sieht die Grenze zwischen Berlin (links) und Brandenburg (rechts) aus. Links ist die Straße gepflastert. Rechts ist sie märkische Sandwüste mit Schlaglöchern. Links zeugt sie von einst besseren Zeiten. Rechts sagt sie uns, dass Zivilisation ein beschränktes Gut ist. Links stehen große Häuser, Villen gar. Rechts ducken sich kleinere Häuser, eher Datschen als Paläste. Links haben die Häuser Seeblick. Rechts verstecken sie sich auf fast bewaldeten Grundstücken.
Die Straße hat auf Berliner und auf Brandenburger Seite den gleichen Namen. Doch die Grenze ist mit der Fahrbahnmitte und dem Übergang von Kopfsteinpflaster zu Sand klar markiert. Weil die Straße eine Grenzstraße ist – eine „Grenzallee“ gibt es übrigens an anderer Stelle zwischen Schmöckwitz (Bezirk Treptow-Köpenick) und Eichwalde (Landkreis Dahme-Spreewald) auch noch – fühlt sich keine der beiden Seiten so richtig für sie verantwortlich. Diese Straße sieht schon seit Generationen so aus.
Und so wie es aussieht, wird sie ihr Gesicht auch in den nächsten Jahrzehnten nicht verändern. Für das große Berlin liegt sie zu abseitig, um den eigenen Anteil zu sanieren. Für das Brandenburger Eichwalde ist sie nur eine von vielen noch nicht befestigten Straßen. Warum also sollte ausgerechnet diese in Angriff genommen werden? Noch dazu müssten sich dann ja nicht nur die angrenzenden Anwohner einig sein, sondern auch die Landesregierungen. Das sind sie aber eigentlich nie.
Es sei denn, es geht um den Großflughafen. Dann sind sich Berlin und Brandenburg einig, dass Lärm für die Anwohner weniger wichtig ist als vermeintliche Wirtschaftlichkeit von Fluglinien. Hauptsache das Minus des Niemals-ein-Drehkreuz-werdender-Flughafen bleibt möglichst gering. Sowohl Schmöckwitz als auch Eichwalde werden Fluglärm von der Fehlinvestition BBI/BER abbekommen. Da spielt die Grenzstraße keine Rolle. Ob links oder rechts von ihr – alle sind betroffen. Und so steht dies Straße exemplarisch für den Umgang der beiden Länder mit den Flughafengemeinden: Erst vergessen, dann verlärmen.
Hans Keilson ist am Dienstag in einem Krankenhaus in Hilversum mit 101 Jahren gestorben. Er war der letzte deutsche Exilschriftsteller. Sein Debütroman Das Leben geht weiter. Eine Jugend in der Zwischenkriegszeit ist 1933 bei S. Fischer erschienen. Es war das letzte Buch eines jüdischen Schriftstellers, das in dem Traditionsverlag in Druck gelegt wurde. Noch vor Erscheinen haben es die Nazis verboten. Es dauerte über 50 Jahre, bis es das Licht der Öffentlichkeit sah.
Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor seinem 100. Geburtstag schaffte es der Schriftsteller, Sportlehrer und Psychiater mehr Fragen an den Interviewer zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich seine alte Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.
Dazu passt auch, dass er mit über 80 Jahren noch einen Computer anschaffte. Überhaupt trieb ihn eine ungeheure Energie an. Erst 1979 promovierte er sich mit einer Arbeit über Traumata von Kindern. Sequentielle Traumatisierung bei Kindern ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt.
Keilson stammt aus Bad Freienwalde. Dort wuchs er als Sohn eines Kaufmanns auf, ging zur Schule, machte Abitur und sang als Jude sogar im Kirchenchor. Sein erster Roman schildert diese Zeit. In Berlin studierte er Medizin, durfte als Jude den Beruf aber nicht ausüben. Deshalb arbeitete er als Sportlehrer an jüdischen Schulen, bis er 1936 ins Exil nach Holland ging. Dort engagierte er sich im Widerstand und überlebte im Untergrund die deutsche Besatzung. Anders als seine Familie, die in Auschwitz ermordet wurde. Dennoch schafft er es, weiter in Deutsch zu schreiben, nach Deutschland zu reisen und Deutschland nicht zu verdammen. Sein Verstand trennte schwarz zwischen Tätern, Mitläufern und Opfern. Den folgenden Generationen bürdete er keine Schuld auf. Aber es erwartete Verantwortung von ihr. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte.
Das Gespräch mit Hans Keilson vor dessen 100. Geburtstag ist mir auch 18 Monate später noch ganz präsent. Mit seiner Frau hatte ich den Termin abgestimmt und mich auf den Weg über Amsterdam nach Bussum gemacht.
Dort lebt der letzte deutsche Exilschriftsteller in einem schönen, typisch holländischen Haus. Die Wärme des Empfangs, die Güte des Gesprächs, der Humor beim Nachdenken an die Jugend in Bad Freienwalde und Berlin, die Trauer über den Zwang ins Exil gehen zu müssen und die Klarheit beim Nachdenken über die Folgen des Nationalsozialismus wirken noch immer nach.
Keilson musste seine Heimat verlassen und hat sich eine neue erarbeitet. Keilson hat Familie verloren und eine neue begründet. Keilson hat Kindern, die aus den KZs zuück kamen als Arzt geholfen und dennoch angesichts des Leids nicht auf Rache gehofft. Keilson galt 1933 als ein verheißungsvolles Talent, als sein Debütroman bei S. Fischer erschien, und hat sich nach dem Krieg als Psychoanalytiker einen Namen gemacht. All das ist schon faszinierend und Ehrfurcht erfüllend. Aber wenn man dann mit so einem Menschen sprechen kann und eine gute Wellenlänge zueinander findet, verschwimmt das alles.
Dann sitzt einem nur ein wunderbarer, humorvoller Mensch gegenüber, der auch mit 100 Jahren noch neugierig ist. Und das so sehr, dass die Hälfte des mehr als zweistündigen Gesprächs aus meinen Antworten auf seine Fragen bestand. Die sind in dem gerade erschienenem Band nicht zu finden. Aber das Interview, das aus dem Gespräch entstand, ist die Eröffnung der Textsammlung. Und damit ein schönes Ende eines Interviews.
30 Instrumente sind es bestimmt, die das Dutzend Hippies, die sich 17 Hippies nennen, auf der Bühne zum Einsatz bringen. Von der leisen Blockflöte bis zur lauten Posaune, von der zarten Violine bis zur kreischenden Säge, von der zarten Ukulele bis zum wummernden Bass, die Palette der Instrumente ist genaus vielfältig wie die Bandbreite des Stilmixes.
Niemand in dem ausverkauften Konzert der „Phantom Songs-Tour“ kann angesichts der Vitatlität auf der Bühne ruhig bleiben. Alle feiern mit, wippen mit, klatschen mit uns singen mit. Wobei das mit dem Singen etwas schwer fällt. Die aktuelle Platte ist ja erst seit einigen Wochen im Handel. Selbst die besten Fans können die Texte nicht. Aber sie lassen sich alles auf das Neue ein. Das fällt bei den Hippies natürlich recht leicht, weil die neuen Songs ganz in der Tradition der älteren stehen. Das Publikum weiß, was es erwartet. Und die 17 Hippies enttäuschen es nicht.
Erstaunlich viele Songs feiern die reine Musikalität. Sie verzichten auf Gesang. Sie treiben in türkischen, jüdischen, französischen oder amerikanischen Rhythmen die Palette der Instrumente über die Bühne durchs Ohr der Zuhörer dirket in deren Beine. Das ist Unterhaltung, wie sie besser kaum sein kann. Wer die CDs der Hippies schon mag, wird von der Kraft der Live-Darbietung regelrecht weggefegt. Das Bühnenerlebnis ist eine unglaubliche Steigerung der Konserven.
Das liegt auch am perfekt abgemischten Sound. Nicht zu laut und doch laut genug ist kein einziges Instrument übersteuert. Jeder Sänger bekommt den Raum für seine Stimme, um in en kraftvollen Bläsersätzen oder dynamischen Streicherteppichen nicht unterzugehen. Kurz: Ein perfektes Konzert! Wobei perfekt hier nicht aseptischen meint, sondern das emotionale und musikalische Gegenteil.
Zum Essen einen Gewürztraminer. Das war für mich bislang nicht möglich. Zu stark sind die Aromen, zu mächtig der Geschmack, als dass ein feines Essen daneben bestehen könnte. So dachte ich bisher. Doch seit gestern weiß ich es besser. Das liegt zum einen an diesem ausgereiften Wein vor Horst Hummel aus dem ungarischen Villány, das einst Bordeux des Südens genannt wurde.
Der wurde gestern aus fünf schönen Weißweinen zu einem abwechslunsgreichen Abendmahl gewählt. Und zwar von jemandem, der eigentlich nur Rotwein mag. Ein feiner, filigraner Riesling kam da nicht in Frage. Und so begleitete dieser erstaunliche Tropfen das Essen. Er zeichnet sich durch eine frohe Fülle an fruchtigen Geschmacksnoten aus, die sich nicht sofort verflüchtigen. Im Gegenteil: Sie halten auch einem köstlich gebratenem Wammerl und einem kräftig-würzigen Blutwurststrudel stand. Aber ohne deren Noten zu verkleistern.
Tja. Es war wohl ein kleines Fest des Genusses, den das “Schlesisch Blau” in Kreuzberg da bereitete. Ich bin gespannt, mit welchem Wein ich überrascht werde, wenn sich ein solcher Abend wie gestern wiederholt. Sicher bin ich mir jetzt auf jeden Fall, dass diese Begleitung wieder wählen darf!
Lenins Reise von Zürich über Deutschland nach Petersburg hat 1917 Geschichte geschrieben. Seine Reise durch Europa als Denkmal erzeugte nicht nur surreale Eindrücke, sondern sie regte auch Debatten über Geschichte und Denkmäler an.
Rudolf Herz hat im Jahr 2004 die Büsten des Dresdner Lenin-Denkmals auf einen Auflieger geschnallt und ist damit durch Europa gefahren. Der aus dem Allgäu stammende Künstler wollte das Denkmal in neue Zusammenhänge rücken. Und so Diskussionen über das Wirken des Revolutionärs und Begründers der sowjetischen Diktatur provozieren. Im kürzlich erschienen Buch „Lenin on Tour“ hat Herz die Reise dokumentiert. Fotos von Reinhard Matz und Irena Wunsch setzen den Reisenden Lenin mit seinen Genossen Rotfrontkämpfer und Arbeiter in surreale Bezüge.
Vor dem Dresdner Hauptbahnhof wurde das Monumentaldenkmal von Grigorij Jastrebenetzkij aus dem damaligen Leningrad 1974 aufgestellt. Mit seinen gigantischen Ausmaßen dominierten Lenin und die beiden anderen Figuren den Platz bis 1992. Dann wurde das Denkmal geschleift, in Einzelstücke zerlegt und schließlich von einem Sammler aus Baden-Württemberg gekauft. Die Stadt Dresden hatte sich so von Stein gewordener kommunistischer Ideologie befreit. Die friedliche Revolution von 1989 säuberte den öffentlichen Raum, um ihn nicht mehr mit den Geschichtssymbolen der Diktatur zu belasten.
Rudolf Herz nun hat mehr als eine Dekade später diesen Lenin neu in Szene gesetzt. Nur die Köpfe und Schultern des alten Denkmals wurden auf dem Auflieger platziert. Die roten Spanngurte fesselten die streng blickenden Kommunisten. Schon dies allein hätte genug Symbolik, um den Betrachter zu verblüffen und zu verunsichern. Doch Herzens Idee, diese aus der Zeit gefallenen Mahner in Bewegung zu setzen und somit ständig in neuen Umgebungen zu zeigen, war genial.
Der gefesselte Lenin vor einer Bank in Zürich ist nicht nur eine faszinierende historische Reminiszenz an sein Exil. Dieses Bild erzeugt darüber hinaus eine enorme Sprengkraft. Lenin neben einem Dessous-Plakat mit einer leicht bekleideten Frau irritiert einfach. Und Lenins Blick auf die Reste der Berliner Mauer an der Berliner Eastside-Gallery sorgt für Zorn und Ratlosigkeit. Wer die Bilder des Buches betrachtet, kann sich solchen Gefühlen nicht entziehen. Dafür ist Lenin noch zu wirkungsmächtig.
Das ging offensichtlich auch den Passanten so, die über den ungewohnten Anblick diskutierten. Das taten sie überall. Einige reckten spontan die linke Faust, andere erschraken. Wieder andere diskutierten über Lenins gute Ideen und deren Entartung. Wirklich unbeeindruckt ließ der Anblick des von seinem Denkmal entrückten Lenin niemanden.
Das Buch bündelt alle diese Reaktionen ebenso wie eine Reihe kürzerer Essays zum Thema Denkmäler und Erinnerungskultur. Der spannendste Aspekt der Lenin-Road¬show ist sicherlich, dass die Konfrontation mit dem Unerwarteten Reaktionen herausfordert. Stünde der Lenin nach wie vor in Dresden, wäre die Wirkung eine andere. Er würde den öffentlichen Raum angesichts seiner Monströsität verunstalten. Auch weil ein Gedenken an Lenins Wirken heute die Trauer über die Abermillionen Opfer der Revolution und der Sowjetunion in den Mittelpunkt rücken müsste.
Rudolf Herz: „Lenin on Tour“, Steidl, 272 S., 35 Euro
Hans Keilson ist 100 Jahre alt, Psychoanalytiker, Schriftsteller, Musiker – und Überlebender des Holocaust. Ein Gespräch über das Leben, seine Arbeit und Heimat Holland
Der Freitag: Herr Keilson, in Ihrem Jahrhundert wurde vieles erfunden. 1909, dem Jahr Ihrer Geburt, gab es weder Radio noch Fernsehen, weder Waschmaschine noch Rührgerät …
Hans Keilson: … und auch kaum Autos.
Gibt es eine Erfindung, die Sie besonders bewegt hat?
Das Telefon. Das ist es sehr wichtig für mich. Aber sonst?
1992, mit über 80, haben Sie noch am Computer gearbeitet. Da hatten die allermeisten Deutschen noch gar keinen.
Ich bin sehr neugierig!
Glauben Sie, dass die Entwicklung von Technik und Medien die Menschen verändert hat?
Man bekommt einen anderen Bezug zur Welt. Das Eremitendasein gehört ins vorige Jahrhundert. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ist völlig verändert. Sie kommen aus Deutschland hierher nach Holland, um sich mit mir zu unterhalten. So etwas hätte ich mir früher nicht vorstellen können.
Sind Sie auch auf die großen Fragen der Menschheit von heute, auf die Energie- und Klimapolitik neugierig?
Daran rieche ich. Aber ich muss nicht mehr eintauchen. Das ist nicht mehr mein Thema. Wenn ich 200 Jahre alt würde vielleicht …
Eines Ihrer großen Themen war der Tod. Schon in ihrem ersten Roman spielt er eine große Rolle. In diesem Fall der reale Selbstmord des Freundes Fritz.
Das werde ich nie vergessen.
War es Ihre erste Konfrontation mit dem Tod?
Ich will nicht sagen, dass er die erste war. Aber in der Pubertät hat er in mir etwas geöffnet, fürs Leben, aber auch für den Tod. Das war ein großes, trauriges Erlebnis.
Im Buch heißt es, dass Selbstmord auch ein Stück Erlösung sein kann.
Das denke ich heute nicht mehr. Es war eine Flucht. Ich begriff, dass es Fritz sehr schwer hatte, auch mit seiner Sexualität. Aber dass der Tod eine Erlösung sein könnte, das haben mir die Nazis gründlich ausgetrieben. So stirbt man nicht. Ermordung ist kein Tod.
Egal ob Selbstmord oder Mord?
Ja, Ermordung ist kein Tod.
Im zweiten Buch geht es dann um den Grippe-Tod des bei Holländern versteckten Juden Nico. Da¬raus machen Sie eine Komödie.
„Eine Komödie in Moll“. Da ist einer untergetaucht und kann nicht begraben werden. Deshalb wird die Leiche unter eine Parkbank gelegt. Dieser Tod, der nicht richtig begangen werden kann, ist absurd.
War das im Exil für Sie eine Notwendigkeit, über den Tod auch lachen zu können?
Die Perversität des Zeitalters war so groß, dass man selbst über den Tod lachen konnte. Perversität ist der richtige Ausdruck, obwohl ich es noch nie so formuliert habe.
Wie ist es, ein Überlebender zu sein, der eigenen Familie, der Freunde, vielleicht sogar einer ganzen Welt?
Da bin ich sehr vorsichtig, um mein Selbstgefühl nicht zu überfordern. Ich beschütze mich bewusst selbst. In meinem Leben spielt das keine Rolle. Ich könnte ja eitel werden.
Nach dem Motto: Wen ich alles gekannt habe?
Als Analytikus weiß ich, dass man sehr eitel sein kann. Warum sollte ich es nicht auch sein können? Aber das möchte ich nicht. Das ist keine angenehme Eigenschaft.
Dennoch ist die Frage erlaubt: Wie es ist zu überleben?
Das ist eine völlig legitime Frage. Ich habe überlebt. Aber ich sage mir: Dank je wel. Das ist genug.
Das Thema Überleben haben Sie sich aber auch zum Beruf gemacht, indem Sie mit Kindern gearbeitet haben, deren Eltern die Konzentrationslager nicht überlebten.
Das begann schon, als ich untergetaucht war. Ich hatte mit Kindern gearbeitet, bevor ich holländischer Arzt wurde. Ich war deutscher Arzt und Sportlehrer und habe als solcher ab 1934 in jüdischen Schulen Berlins gearbeitet. In der Großen Hamburger Straße, in der Rykestraße, im Landschulheim Caputh, in der Zionistischen Schule am Kaiserdamm. Deshalb hatte ich viel Erfahrung mit jüdischen Kindern. Holländische Hausärzte haben dann später Kinder zu mir geschickt, weil ich offenbar Vertrauen zu ihnen aufbauen konnte.
Sie haben erst mit 70 promoviert. Was war so spät der Antrieb?
Ich habe neun Jahre an den Nachuntersuchungen gesessen. Es war keine Eitelkeit, oder doch? Ich habe mir gesagt: ‚Du hast so viel Erfahrung, Du hast so viel mit den Kindern mitgemacht, als Du untergetaucht warst. Du hast so viel Leid gesehen; auch später nach dem Krieg, als Du mit Ihnen gearbeitet hast‘. Meine erste und meine zweite Frau sagten auch: ‚Du bist einer der wenigen, die das erlebt haben. Probiere, daraus etwas zu machen‘. Die schöngeistige Literatur kann lesen, wen das interessiert. Aber die Wissenschaft gehört auch zu mir. Ich empfand es als Verpflichtung, denn ich hatte eine Erfahrung, die Kollegen nicht hatten.
Wirkt die lange Beschäftigung damit in Ihnen nach?
Ja. Ich wurde mal gefragt, ob ich mich als Sieger oder als Besiegter fühle. Ich fühle mich weder als Besiegter noch als Sieger. Ich lebe. Und zwar als Sieger und als Besiegter. Die Qualität des Lebens ist durch Hitler und Stalin vernichtet worden. Das muss erst wieder aufgebaut werden.
Im Tod des Widersachers spielen sie dieses Thema durch: Der Tod des Anderen ist auch immer ein eigener Tod?
Überhaupt die Verbindung zum Feind, zum Anderen und sich selbst. Beide spiegeln sich in diesem Verhältnis. Sie können sich auch fruchtbar spiegeln.
In einer Szene schänden Jugendliche einen jüdischen Friedhof. Und zwar mit dem Satz: „Wir waren gekommen, die Toten umzubringen.“
Das ist eine Seite des Antisemitismus. Die Jugendlichen haben etwas in sich selbst umgebracht. Das ist ein guter Satz. Er erklärt sehr viel. Ich hatte ihn völlig vergessen.
Warum gibt es noch Schändungen jüdischer Friedhöfe?
Das ist das Leben der Juden. Das Leben hat diese Antinomie. Ich finde, dass die Kirchen total versagt haben. Wenn sie einen Beweis für Notwendigkeit ihrer Existenz als moralischer Stellvertreter Gottes auf Erden hätten erbringen wollen, dann hätten sie dagegen aufstehen müssen. Bis hin zum: Ich opfere mein Leben.
Was einige Pfarrer ja taten.
Sicherlich. Aber nicht die Höchsten. Hätte es Hitler gewagt, etwas gegen den Papst zu unternehmen?
Das hätte er wohl nicht. Die Verwurzelung der Kirchen in der Bevölkerung war ja noch eine ganz andere als heute.
Das denke ich auch. Der Umgang mit den Juden ist eine profunde menschliche Problematik: Wie gehe ich mit meinen Feinden um? Wie gehe ich mit Menschen um, die auch geboren wurden, die auch leben, die auch aus einer Samenzelle und einer Eizelle entstanden sind. Genau ist das doch das Wunder des Lebens. Wenn ich jetzt als Mann von 100 Jahren meine Enkelkinder bestaune, 15 Monate und fünf Monate alt, dann sage ich zu meiner Frau und meiner Tochter: ‚Das ist das Wunder. Die Verbindung einer Samenzelle und einer Eizelle, aus der ein Mensch wird‘. Damit akzeptiere ich jeden als Teil der Menschlichkeit.
Sie glauben nicht, dass Antisemitismus besiegt werden kann?
Nein, aber diese Grausamkeiten könnten überwunden werden.
Wie konnten Sie all die Probleme der jüdischen Kinder verkraften, die Sie als Psychotherapeut auf sich geladen haben?
Ich bin oft auf der Schneekoppe gewesen. Von Krumhübel an der Talsperre hoch, zur Prinz-Heinrich-Baude, wo wir übernachteten. Das ist auch eine Anstrengung. Wer Freude und schöne Dinge erleben will, muss sich anstrengen können, viel schlucken können.
Wer trainiert, kann seinen Körper anders erleben, und wer sich mit Problemen beschäftigt, kann Geist und Seele abhärten?
Er flüchtet nicht. Ich bin auch nicht geflüchtet. Aber ich weiß, wie schwer das ist. Wenn mir Leute in meiner Praxis erzählten, wie schwer sie es haben, konnte ich so zu hören, dass sie das Gefühl hatten, der Doktor erhört sie. Der Patient erwartet, erhört zu werden, nicht nur gehört.
Das führte dazu, dass Sie kleinere Texte veröffentlichten.
Wenn man diesen Beruf hat, muss man sich entscheiden, ob man schreiben oder ob man seinen Beruf ausüben will. Ich habe mich für meinen Beruf entschieden.
Ist Ihnen das schwer gefallen?
Nein. Man muss sich dazu verleiten können wie Richard Wagner, der mit dem Tod seines Christus nichts anfangen konnte. Tod und Musik. Musik hat in meinem Leben auch eine große Rolle gespielt. Ich schätze Richard Wagner. So schreiben zu können, davor ziehe ich meinen Hut. Dazu muss man ein sehr großes Talent haben.
Aber Wagner war kein sonderlich angenehmer Mensch. Bestimmt nicht. Viele Genies sind nicht angenehm.
Ich bin angenehm als Mensch.
Das ist wahr. Entschuldigen Sie.
Ich bin ja auch kein Genie. Als Genie kann man kein Psychotherapeut sein. Ich weiß auch nicht genau, ob ich privat immer so angenehm bin. Meine Frau bezweifelt das manchmal.
Wagner gilt als typisch Deutsch.
Tja, das deutsche Wesen hat auch etwas Anziehendes. Wenn ich Haydn oder Mozart höre, dann ist das für mich deutsch. Französische Musik ist anders, englische auch.
Was unterscheidet Deutsch und Niederländisch? Sie habe ein ganzes Leben Deutsch geschrieben und ein halbes Niederländisch gesprochen.
Ich spreche gern Niederländisch. Niederländisch ist bis in die Tiefe der Seele die Überlebenssprache. Sie ist das Leben, das Überleben. Überleben ist etwas anderes als Leben. Auch in meiner Praxis war das Überleben in mir sehr stark. Das sagten die Leute zu mir. Sie kannten meine Biografie.
Sie haben über Fußball-Reportagen im Radio Holländisch gelernt. Schauen Sie heute noch Fußball?
Wenn ich Zeit habe, ja. Aber ich schone meine Augen, deshalb schaue ich wenig.
Sind Sie dann für Deutschland oder für Holland?
Für Holland. Die spielen wunderbaren Fußball. Das sind auch ganz andere Typen als die deutschen Spieler.
Dachten Sie nach dem Krieg jemals daran, nach Deutschland zurückzukehren?Nein, niemals.Sie sind 1990 Ehrenbürger Ihrer Heimatstadt Bad Freienwalde geworden.
Die Bibliothek trägt meinen Namen. Sie versuchen alles, um die Schande auszulöschen. Das ist sehr nett. Ich schätze das wirklich. Ich bin ja zweimal in Bad Freienwalde gewesen. Es ist ja Unsinn zu sagen, da gehe ich nicht hin, als könnte ich mir eine ansteckende Krankheit holen.
Wollen Sie hier in Holland beerdigt werden?
Ja, auf dem jüdischen Friedhof in Amsterdam, neben meiner ersten Frau. Ich bin Mitglied der liberalen jüdischen Gemeinde in der Nähe von Amsterdam.
Hat der Tod für Sie seinen Schrecken verloren?
Dass ich meine Eltern nicht retten konnte, bereitet mir heute noch Pein. Das ist furchtbar. Und wenn ich meine Tochter, sie ist 35, mit ihren Kindern sehe, dann wird für mich der Abschied schwer. Es geht nicht um den Tod, es geht um den Abschied. Meine Neugierde ist so groß: Was wird aus meiner Tochter, was wird aus ihren Mädchen.
Inzwischen lösen sich die Grenzen auf. Es gibt die Europäische Union, es gibt eine gemeinsame Währung.
Es ist alles so verändert. Das nationale Moment ist nicht mehr so beherrschend.
Die Lehre aus der Geschichte?
Ja. Jetzt heißt es: Lerne, miteinander zu leben, auch mit den Problemen, Bankkonten und allem anderen. Das ist die Normalität. Das ist wunderbar.
In Ihrem ersten Buch schildern Sie, wie die Wirtschaftskrise die Existenz ihrer Eltern vernichtet. Hat die momentane Krise Ängste geweckt?
Wissen Sie, ich habe so viele Ängste in meinem Leben gehabt, dass ich jetzt etwas immun dagegen bin. Das ist so wie Zahnschmerzen.
Darf ich fragen, wie der Tagesablauf eines 100-Jährigen aussieht?
Ich fühle mich in vielen Dingen gehandicapt. Meine Augen, ich sitze zu lang und laufe nicht genug. Schon in meiner Praxis habe ich stundenlang gesessen. Und das, obwohl ich staatlich geprüfter Sportlehrer bin. In letzter Zeit tue ich dafür zu wenig. Deshalb helfe ich im Haus, mache das Schlafzimmer und helfe meiner Frau in der Küche. Das ist meine Gymnastik.
Aber Sie kochen nicht selber?
Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, dann lerne ich bestimmt kochen. Es ist ein Fehler von mir, dass ich nicht kochen kann.
Das Gespräch führte Andreas Oppermann. Er ist Redakteur bei der Märkischen Oderzeitung
„El dorado“ heißt das neue Album der 17 Hippies aus Berlin. 20cent hat sich mit Sängerin Kiki Sauer (43) über die Musik der Hippies und das neue Album unterhalten.
Die 17 Hippies waren gerade in den USA auf Tour. Wie kommt die Band da an?
Super. Amis haben schon viel gesehen. Sie haben keine Scheu vor genreübergreifenden Sachen. Das, was wir machen, kennen sie noch nicht – vor allem unsere Energie auf der Bühne.
Gibt es auch Widerstand, weil Deutsche versuchen, jüdische Traditionen zu beleben?
Das haben wir bisher nicht erlebt.
Und wie ist es in anderen Ländern, in Frankreich?
Frankreich hat viele Bands, die ähnliche Musik wie wir machen. Im Gegensatz zu uns Deutschen leben die Franzosen eine Tradition, auf die sie stolz sind. Jedes Dorf hat eine Band, die bei Festen für Party sorgt.
Was ist in Deutschland anders?
Unsere Tradition ist gebrochen. Wir können keine deutsche Volksmusik spielen. Das will keiner hören. Jedes Land braucht eigentlich seine Volksmusik, um sich zu identifizieren. Bei den Deutschen ist das abgeschnitten worden. Mittlerweile lässt das nach.
Woran liegt das?
Zum Beispiel an Berlin. Berlin ist der Hotspot in Europa. Egal, wo wir hinkommen, ob wir in Montreal oder in Chicago spielen, alle wollen, dass wir von Berlin erzählen, weil es so toll sein soll. Auch in Frankreich ist Berlin ganz wichtig.
In Deutschland gibt es auch andere Bands wie La BrassBanda aus Bayern, die traditionelle Musik mit Balkanbeats kombinieren.
Die Hälfte der Band kommt aus der Rockmusik. Wir wollten eigentlich was anderes machen. Doch dann haben wir uns akustische Instrumente zugelegt. Und versucht, etwas
anderes, etwas Neues zu machen.
Wie entsteht aus unterschiedlichen Einflüssen ein Album?
Wir sind halt wir. Ich stelle mir das immer vor wie einen großer Topf. Da wird immer was reingeschüttet. Und umgerührt. Eigentlich ist es egal, aus welcher Tradition die Idee kommt, wenn wir es spielen, klingt es nach Hippies.
Wo kommen die Ideen her?
Eine Band, die so viel tourt – auch weltweit, nimmt viele Einflüsse auf. Jetzt waren wir in Amerika, im Herbst in China, im Mai in Algerien. Dazu kommt immer Europa mit
Frankreich, Spanien und ganz neu auch England. Dabei sind wir lang zusammen. Das führt dazu, dass wir wie eins denken. Wenn einer ein Stück schreibt oder wir Stücke von außerhalb – aus Polen oder Russland – dazunehmen, müssen wir etwas damit anfangen können. Dann wird es gut.
Wenn ich Ihre Stimme höre, tauche ich in Melancholie ein.
Ja, das ist meine zweite Seite. Ich weiß auch nicht, woher das kommt. Ich empfinde das meist dann gar nicht so melancholisch, wie es rüberkommt.
Dieses Interview mit Kiki Sauer ist am 5. Februar 2009 in 20cent erschienen.
Seit einigen Jahren sind zwei Musikarten voll im Trend. Das ist zum einen die Weiterentwicklung des Tangos und zum anderen alles, was aus Osteuropa kommt. Ob Balkan-Musik oder Russen-Disko, die anarchische Kraft von Bläsern und treibenden Rhythmen ist faszinierend. Bucharest Tango ist ein neues Juwel aus dem Hause Asphalt Tango. Die junge rumänische Sängerin Oana Catalina Chitu singt darauf Tango aus der Zwischenkriegszeit.
Zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg blühte Bukarest auf. Vergleichbar mit dem Berlin der 20er-Jahre war es ein Zentrum der Lebenslust und des Experiments. Musikalisch setzte sich der Tango neben anderen Trends durch. Denn seine erotische Kraft, seine Melancholie und seine dennoch vorhandene Lebenslust ist die musikalische Hülle, in die sich auch traditionelle Musik vom Balkan gut integrieren ließ – und nach wie vor lässt.
Genau das beweist Oana Catalina Chitu auf ihrem Album. Sie lebt in Berlin und weckt mit ihrer Stimme alte Zeiten und vor allem aktuelle Gefühle. Das klingt etwas nach Kaffeehaus, mehr nach Salon und vor allem nach ganz viel Gefühl. Und enormen Schwankungen im
Tempo.