de Sades Schädel hat eine tödliche Faszination

Der Schädel des Marquis de Sade
Der Schädel des Marquis de Sade

Er ist widerlich. Er ist abstoßend. Er ist faszinierend und er ist auch anziehend. Dieser Marquis de Sade, der am 2. Dezember 1814 in einer Irrenanstalt gestorben ist, gehört zu den historischen Figuren, die in jeder Generation neu entdeckt und verdammt wird. Alle setzen sich mit dem Lüstling und Philosophen, mit dem Revolutionär und Irrenhaus-Insassen auseinander.

Der mittlerweile verstorbene französischsprachige Autor Jacques Chessex aus der Schweiz hat das in seinem letzten Roman getan. Wobei Roman für die 127 Seiten eigentlich nicht der richtige Begriff ist. Das Buch handelt vom Schädel des Marquis, der nach seinem Tod ein Eigenleben entfaltet hat. Denn schon sein letzter Arzt hatte fest im Blick zu untersuchen, ob sich an und im Schädel die Abartigkeiten des Sadisten, Sodomisten und vor allem unbändigen Freigeistes materialisiert ablesen lassen. Deshalb bemächtigt er sich des Schädels, um ihn zu sezieren.

Chessex orientiert sich an historischen Begebenheiten. Er schildert den Insassen und Wüstling, der seinen sexuellen Passionen dank gut gefüllter Schatullen immer ausleben konnte. Er erzählt von den pathologischen Experimenten. Und er forscht dem Schädel nach. denn nicht nur der Arzt erliegt dem Totenkopf. Immer wieder bemächtigen sich unterschiedliche Mensches des Knochenstücks. Und immer wieder geschehen Unglücke in seiner Nähe; meist tödliche. Der erste Ausländer als Prix-Goncourt-Preisträger formt so eine Reihe von Episoden zu einer Erzählung über die Strahlkraft und Faszination des Marquis de Sade, die im nekrophilen Glauben an dessen Schädel gipfelt. Das passt natürlich zu dem Mann, der zu den schillerndsten Figuren der Aufklärung gehört.

Chessex verdichtet und verknappt historische und fiktive Begebenheit so sehr, dass dabei ein erstaunliches Porträt de Sades entsteht, obwohl der nur im ersten Viertel des Buches als Person beschrieben wird. „Der Schädel des Marquis de Sade“ ist ein faszinierender, abstoßender und dennoch fesselnder Solitär. Ein Buch, das schnell, in einem Zug gelesen wird und den Leser seltsam erregt und verwirrt zurücklässt.

Fundstücke aus meinem Rucksack (4) – USB-Sticks

USB-Sticks aus meinem Rucksack
USB-Sticks aus meinem Rucksack

Der alte Rucksack ist schon nicht mehr im Einsatz. Ich habe ihn vollkommen geleert. Und dabei auch diese USB-Sticks gefunden. Sie sind ein netter Überblick dienstlichen Geschehens in den vergangenen drei bis vier Jahren.

Der größte Stick hat die kleinste Kapazität. Er stammt auch vom kleinsten Unternehmen, der Lausitzer Verlagsservice GmbH, einer Tochter der Lausitzer Rundschau, in der die günstigeren Arbeitnehmer eingestellt werden. 20cent ist da auch erschienen. So wie sich der Firmennamen abgewetzt hat, verblasst auch die Zeit bei der ambitionierten und vollständig unterfinanzierten Zeitung. Nur der Zusammenhalt mit den Kolleginnen und Kollegen von damals ist nach wie vor recht eng.

Südwest Presse und Vorarlberger Nachrichten erinnern an zwei Dienstreisen nach Ulm und Schwarzach zu einem netten Medienstammtisch. Der trifft sich, um unabhängig von Ressort-, Redaktions- oder Verlagsstrukturen über neue Produkte und Konzepte nachzudenken. Im hektischen Alltag kommt das ja immer zu kurz. Und so sind solche Ausflüge nicht nur für phantastische Schlittenfahrten im Anschluss oder wunderbares Essen in urigen Wirtschaften gut, sondern vor allem auch, um das Hirn für Neues zu öffnen.

Einige Fragen stellen sich aber angesichts der USB-Sticks: Was ist da eigentlich drauf? Warum sammeln sie sich alle im Rucksack und nicht in der Schreibtisch-Schublade? Und lohnt es sich überhaupt, Sticks mit sagenhaften 256 MB aufzuheben? Und wenn nicht, wie entsorgt man USB-Sticks fach- und sachgerecht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich die positiven Erinnerungen an all die dienstlichen Erlebnisse auf der grauen Festplatte hinter der Brille gespeichert habe.

Weitere Fundstücke aus meinem Rucksack:
GPRS-Modem
Ein Button
Blasenpflaster

Schrecksekunden beim Laufen im Wald

Laufen am Morgen. Die Schritte legen regelmäßig das gleiche Stück Weg zurück. Der Puls hat sich auf einen schnelleren, aber geregelten Schlag eingestellt. Der See links neben mir bewegt sich in der immer gleichen, ganz sanften Dünung. Die Lunge saugt die Luft in einem Zug ein und pumpt sie in drei kurzen Stößen aus. Alles ist ruhig.

Doch dann kommt ein kläffender Hund von der Seite angerannt. Meine Schritte stoppen. Das Herz beginnt zu rasen. Der Atem stockt. Der Hund springt mich an. Will er beißen? Ich weiß es nicht. Nicht in dieser Schrecksekunde und nicht später. Ein Mann ruft den Köter zu sich. Er hörtr erst beim dritten Mal. Zu meiner Beruhigung trägt das nicht bei.

Und dann kommt der Satz, der mich explodieren lässt: „Er will ja nur spielen.“ „Und ich will in Ruhe laufen! Woher soll ich denn wissen, dass das Vieh nicht beißt?“ Der Mann ist verdutzt. Schaut mich an, als sei ich von einem anderen Stern. Und dreht sich wortlos um. Ich beginne wieder zu laufen. Die Schritte sind schwer. Das Herz schlägt zu schnell. Der Atem ist unregelmäßig, Seitenstechen ist die Folge. Und das alles nur wegen dieses Hundes. Nicht, nicht wegen des Hundes ermahne ich mich selbst. Wegen des Mannes, der seinen Hund nicht unter Kontrolle hat.

Als ich mich beruhigt habe, als ich den Rhythmus wiedergefunden habe, als das Seitenstechen vorbei ist, kommt ein Mann mit Fahrrad entgegen. Die Hundeleine hat er um den Nacken gelegt. Hinter ihm rennt ein Hund, der so groß ist wie das Fahrrad. Ich stocke, bleibe wie angewurzelt stehen. Der Mann erschrickt. Ruft den Hund zu sich und fährt zwischen Hund und mir an mit vorbei. Der Lauf bleibt danach unruhig. Ruhig sind nur die Hundebesitzer, die mit ihren Tieren nur spielen. Und sich gar nicht vorstellen können, dass man Angst vor ihnen hat. Begründete Angst, wenn man schon zweimal gebissen wurde.

Tagwerk – Ein Trampolin

Das Trampolin
Das Trampolin

Das Haus ist leer. Im Garten ist Ruhe. Nur das Nachbarskind schreit ab und an. Und die üblichen Geräusche von Häcksler bis Pool-Planschen schwappen herüber. Wenn sich das Haus morgen wieder füllt, sollen die Nachbaren auch etwas davon haben. Dann wird die Kinder dieses Trampolin überraschen. Seit genau einem Jahr wollen wir an dieser Stelle eines haben. Jetzt, wo niemand bei Kauf und Aufstellen stört, geschieht es endlich. Ich bin gespannt, wie sie schauen. Und wie laut es dann wieder in unserem Garten wird.

Fundstück im Antiquariat (2): Ludwig Börnes Verhaftung

Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820
Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820

Dieses Stück Papier ist eine fast 200 Jahre alte Zeitung. Ich habe sie heute gefunden und musste sie kaufen. Die wenigen Euro wären es schon wert gewesen, nur um so eine alte Zeitung zu besitzen. Richtig spannend ist aber, dass in ihr von der Verhaftung und Entlassung Ludwig Börnes berichtet wird. Der war 1820 im ständigen Kampf mit der Zensur. Nach Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse 1819 machte sich auch in Frankfurt/Main die Zensur wieder breit. Seine Zeitung „Die Waage“ fiel dem Zensor zum Opfer. Er selbst arbeitete danach als Redakteur der „Zeitung der Freien Stadt Frankfurt“. Das erregte die Behörden allerdings so sehr, dass der Liberale entlassen werden musste. Im März 1820 war Börne dann in Paris, wo er später bis zu seinem Tod genauso wie Heinrich Heine im Exil bleiben sollte. Ein Student wurde mit verbotenen Flugblättern aufgegriffen. Als Hersteller gab es Börne an. Das tat er, weil er den Schriftsteller und Journalisten noch in Frankreich wähnte. Doch er war schon wieder daheim. Und so sperrten ihn Polizei und Zensor ein. Es dauerte einige Tage, bis er verhört wurde und sich alles aufklärte.

Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820
Augsburgische Ordinari Postzeitung vom 8. April 1820

Für Börne war die Verhaftung ein Einschnitt in sein Leben. Von da an orientierte er sich endgültig weg aus Frankfurt, wo er in der furchtbaren Judengasse geboren und aufgewachsen war und nach seinem Studium, das für den Juden nur dank der Besatzung durch Napoleon möglich war, als Journalist arbeitete. Es ist heute wirklich nicht mehr vorstellbar, was Deutsche einst auf sich nehmen mussten, nur weil sie eine eigene Meinung hatten. Besonders absurd war es, dass sich die DDR auf Börne als liberalen Vorläufer der kommunistischen Denker auch auf ihn bezog. Wie es überhaupt seltsam ist, dass sich eine  auf Exilanten bezieht. Auf Menschen also, die für den aufrechten Gang und ihre Überzeugung lieber die Heimat hinter sich ließen als in Demut vor der Obrigkeit zu buckeln. Insofern ist dieses Stück altes Papier ein kleines Lehrstück für die Wirrnisse des Lebens. Und eine Mahnung, dass wir uns immer gegen die engagieren, die uns den Mund verbieten wollen. Denn Demokratie und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Ein Blick in die Bücher und Schriften Börnes lohnt sich auch deshalb immer. Er hat über den Vorfall auch eine herrliche Satire geschrieben. Außerdem sind seine Reportagen und Feuilletons stilistisch ein Genuss.

Weitere Fundstücke im Antiquariat:
Walter Mehrings Autograph
Ludwig Börnes Verhaftung
Kostbarkeiten bei Alfred Polgar
Ein Theaterzettel von 1931
Die Verlustanzeige von Karl Frucht
Andreas Oppermann erinnert 1860 an Palermo

 


Kurban Said schrammt die Kitsch-Grenze

Kurban Said: Das Mädchen vom Goldenen Horn
Kurban Said: Das Mädchen vom Goldenen Horn

Er steckt an, dieser Kurban Said alias Essad Bey alias Lew Noussimbaum.Wer seine Biografie kennt und das bekannteste Buch von ihm, „Ali und Nino“ gelesen hat, will mehr von ihm lesen. Und mehr über ihn wissen. „Das Mädchen vom Goldenen Horn“ ist ein weiterer Liebesroman, der sich mit den unterschiedlichen Vorstellungswelten in Orient und Okzident auseinandersetzt.

Der Roman spielt nach dem Untergang des Osmanischen Reiches. Asiadeh ist die Tochter eines vormaligen Ministers. Sie lebt mit ihrem Vater in Berlin und studiert die Sprachen, die im einstigen Großreich des Goldenen Halbmonds gesprochen wurden. Vater und Tochter trauern Istanbul nach. Aber Asiadeh lässt sich dennoch auf einen jungen Arzt aus Wien ein, der ihr den Hof macht und sie schließlich heiratet. Das geht für die junge Frau aber erst, nachdem sie der Mann, dem sie einst versprochen worden war, freigibt.

Der lebt als Drehbuchautor in New York und ist eigentlich ein türkischer Prinz. Spätestens jetzt wird klar, dass der Roman erhebliches Kitsch-Potenzial enthält. Doch wie so oft liegt es am Autor, ob der Kitsch zu einer klebrigen Soße wird, oder ob aus dem Kitsch ehrliche Gefühle und etliche kluge Gedanken destilliert werden. Kurban Said beherrscht das Destillieren. Das liegt an seiner klaren Sprache. Er hat es nicht nötig Gefühle durch Adverbien zu erzeugen. Seine Sätze sind Beobachtungen der Figuren, die diese nachvollziehbar beschreiben. Seine intimen – in diesem Fall trifft dieser Begriff es wirklich – Kenntnisse von Orient und Okzident verblüffen den Leser immer wieder mit ihren modernen und nach wie vor gültigen Erklärungsmustern. Bei Kurban Said taucht man in einen Orient ein, den es so nicht mehr gibt, dessen mentale Grundlagen aber auch heute noch vielfach anzutreffen sind.

Natürlich begreift der Prinz irgendwann, dass sein Leben voller Alkohol und Filmen leer ist. Diese Leerstelle soll Asiadeh füllen. Da ist viel vorhersehbar. Und dennoch legt man das Buch am Ende zur Seite und bereut die Lektüre nicht. Als das Buch Ende der 1930er-Jahre erschien, hatte Lew Noussimbaum schon etliche Jahre in Berlin, Wien und New York verbracht. Seine Beobachtungen des Lebens und der Lebenslügen der Menschen sind das Nachhaltige. Und die Modernität. Zwar werden noch keine SMS verschickt, aber Telegramme können die gleiche Wirkung entfalten.

Fundstücke aus meinem Rucksack (3) – Blasenpflaster

Blasenpflaster aus dem Rucksack
Blasenpflaster aus dem Rucksack

Im alten Rucksack hat sich einige angesammelt. Beim Ausräumen habe ich auch eine seltsame grüne Verpackung gefunden, mit der ich gar nichts mehr anfangen konnte. Erst als ich sie öffnete, war mir wieder klar, um was es sich handelt: Blasenpflaster.

Gekauft habe ich es, als ich vor gut vier Jahren einen wichtigen Termin in Saarbrücken hatte. Frühs bin ich aus Berlin losgeflogen, mittags war das Gespräch und abends ging es wieder zurück. Zum Anzug habe ich keine Haferlschuhe getragen, sondern gut geputzte schwarze Lederschuhe, die für einen solchen Anlass angemessen sind. Doch kurz nach der Landung löste sich die Sohle des rechten Schuhs.

Was nun? Natürlich bin ich in Hektik mit dem Schlappschuh durch die Saarbrücker Innenstadt getrabt. Die ist keine echte Schönheit, umso besser kann man sich dort auf die Schaufenster konzentrieren. In einem alteingesessenen Schuhgeschäft habe ich gefunden,was ich suchte: gute und tragbare Schuhe. In diesem Fall sogar ein Paar, das speziell für diesen Laden gefertigt wurde. Doch das Leder war arg hart. Die rechte Ferse schmerzte recht bald. Und fünf Minuten später war der schwarze Socken durchgeblutet. Da war ich aber schon bei meinem Gespräch. Das musste mit schmerzendem und blutendem Fuß bewältigt werden.

Wenn ich mich recht erinnere, lief es ganz gut. Im Anschluss habe ich mich vom Taxi zur nächsten Apotheke fahren lassen – und dann weiter zum Saarbrücker Flugplatz. Seitdem hatte ich keine Blase mehr. Der Schuh ist übrigens gut eingelaufen. Ich trage ihn noch immer. Inzwischen sogar gern.

Weitere Fundstücke aus meinem Rucksack:
GPRS-Modem
Ein Button
USB-Sticks

Jochen Hörischs Denken freut sich am Unreinen

Jochen Hörischs neues Buch
Jochen Hörischs neues Buch

Ohne Wasserwerke keine Demokratie. Diese These in Jochen Hörischs Aufsatzsammlung hat mir sofort eingeleuchtet. Denn ohne Wasserversorgung kein regelmäßiges Waschen. Ohne sauberes Wasser keine einfache Reinigung der Kleider. Und ohne Trinkwasser keine regelmäßiges Zähneputzen. Was das mit Demokratie zu tun hat? Sehr viel! Denn wer miteinander diskutiert, muss sich Riechen können. Der darf nicht aus dem Mund stinken und ein Würgen bei seinem Gegenüber hervorrufen. Die Nähe des Gesprächs, der Auseinandersetzung auf Augenhöhe erfordert es geradezu, dass sich die Sinne nicht von Ekelhaftem ablenken lassen, sondern sich auf das Wesentliche, auf das Argument konzentrieren können.

Jochen Hörisch geht sogar so weit zu behaupten, dass Stinken ein Privileg des Adels war. Erst die Reinlichkeit der Bürger ließ es zu, dass sich Gleichgesinnte und sich gleich Fühlende so oragnisieren konnten, dass sie ein Staatswesen übernehmen und organiseren konnten.

Solche Gedanken machen die Aufsätze Hörischs aus. Auch wenn sie nicht alle so eingängig sind wie der über die Gründung des Hamburger Wasserwerks. Der Mannheimer Germanist und Medienwissenschaftler nimmt sich auch Benjamin, Adorno und Luhmann an. Dabei interessiert ihn immer das Kommunikative und dessen Funktion. Wer Lust auf eine das Hirn etwas fordernde Lektüre in den Ferien hat, dem kann ich das Buch empfehlen. Ach ja: Der Untertitel von „Tauschen, sprechen, begehren“ ist übrigens: „Kritik der unreinen Vernunft.“ Denn für Hörisch ist nur das von Interesse, was nicht absolut, was nicht vollkommen, was nicht perfekt ist. Denn genau dann lohnt es sich mit dem Denken zu beginnen.

Jochen Hörisch: Tauschen, sprechen, begehren. Eine Kritik der unreinen Vernunft. Edition Akzente, Hanser Verlag.