Mein Kopf ist von gestern

Ertappt. Da habe ich mich bei einem Gedanken ertappt, den ich bei allen anderen immer als – nun ja, nicht gerade zeitgemäß – einordnen würde. Das Flugzeug von Berlin nach Ankara ist ziemlich voll. Ein Blick in die Kabine und ich denke: Wahnsinn, ich bin der einzige Deutsche. Doch bei der Einreise wird alles anders.

Die Schlange vor dem Schalter für Türken und dem für die anderen Nationalitäten ist gleich lang. Vor mir wird fleißig deutsch gesprochen. Die Pässe sind auch alle EU-rot. Die Türken sind gar keine Türken mehr. Sie sind Deutsche. Auch wenn ich auf diese Selbstverständlichkeit erstmal gar nicht gekommen bin. Deutschland ist bunter. Das wollten wir doch immer. Aber der Kopf ist leider noch nicht so selbstverständlich bunt. Der sortiert noch immer nach fragwürdigen Äußerlichkeiten.

Affront beim Schulfest in Eichwalde

Schulfest an der Grundschule in Eichwalde. Welch besseren Zeitpunkt zur offiziellen Übergabe der neuen Sporthalle an die Öffentlichkeit könnte es geben? Hunderte Eltern und Schüler sind da, staunen über die Auftritte der Kinder und die meisten halten dabei sogar den Mund. Wobei sich dies weniger auf die Kinder bezieht als auf Mütter, die ihren Wochenendtratsch trotz der Vorführungen auf der Bühne ungehindert hinausschmettern müssen.

Im Hintergrund steht der stellvertretende Bürgermeister. Er hat seine Kladde mit der kurzen Rede in der Hand. Doch vorher hat der Rektor das Wort. Er verteilt Bücher an die Jahrgangsstufenbesten und sagt den Satz, den alle Kinder gern hören: „Auch wenn wir jetzt überzogen haben, werden wir das Schuljahr dennoch nicht überziehen.“ Erleichterung bei allen. Die bleibt auch noch, als er sagt: „Jetzt machen wir fünf Minuten Pause und dann übergibt der Bürgermeister die Halle.“

Dieser harmlose Satz ist ein Affront. Denn natürlich rennen jetzt alle Kinder raus, die Eltern hinterher. Als der Bürgermeister nach fünf Minuten die Halle, die vor allem für die Grundschule gebaut wurde, übergeben will, ist diese fast leer. Nur die Sportler, die zur feierlichen Übergabe ein Programm einstudiert haben, sind noch da. Und deren Eltern. Der Rest ist weg. Samt Rektor. Der Gipfel der Unverschämtheit sind die Aufräumarbeiten. Während der Bürgermeister auf der Bühne versucht, seine Rede zu halten, räumen die Lehrer diese leer. Schließlich ist jetzt Feierabend.

Was soll man da noch warten? Respekt? Fehlanzeige! Rücksichtnahme? Warum! So wie der Chef ist das Kollegium. Und der Rest ist verärgert. Wegen der Kinder, die Tänze vorführen und weil er sich fragt, ob diese an dieser Schule das Wesentliche fürs Leben lernen?

Ob Essad Bey oder Kurban Said, Lev Noussimbaums Leben ist mehr als ein Roman

Tom Reiss: Der Oriantalist als Hörbuch
Tom Reiss: Der Oriantalist als Hörbuch

Das Leben dieses Schriftstellers passt eher in einen Roman als in eine Biografie. Unter seinem richtigen Namen kannte Lev Noussimbaum kaum einer. Dass der Jude aus Baku Essad Bey und Kurban Said war, hat der amerikanische Journalist Tom Reiss rekonstruiert. Und damit das Leben eines faszinierenden Autoren entschlüsselt. In den 30er-Jahren waren Essad Beys Bücher Bestseller in Deutschland, den USA und halb Europa.

Schon in den 20er-Jahren veröffentlichte er Reportagen in der Weltbühne und anderen wichtigen Berliner Blättern. Deutsch konnte er, der Sohn eines einstigen Ölbarons aus Baku von seinem deutschen Kindermädchen. Auf der Flucht vor Stalins Mordbanden über Usbekistan, den Iran, später die anderen Kaukasusländer nach Istanbul und von dort weiter nach Paris und Berlin kamen ihm seine Sprachkenntnisse sehr zu gute. Und er begriff für sich, dass Identität etwas ist, was man nicht unbedingt jedem erzählen sollte. Essad Bey reiste mit Walter Mehring nach Algier. Er schrieb die erste Biografie über Stalin, eine über Mohammed. Und wer diese Bücher heute in die Hand nimmt und liest, wird erstaunt sein, wie gegenwärtig die Sprache ist, wie modern die Gedanken, wie packend der Stil.

Das gilt auch für seine Romane. „Ali und Nino“ ist in etliche Sprachen übersetzt worden. Der Liebesroman über die Blütezeit Bakus und die kulturellen Einflüsse im Kaukasus geht heute noch zu Herzen. Und das nicht als Kitsch, sondern wegen der wunderbaren Sprache und der großartigen Symapthie für die Figuren. Tom Reiss hat eine faszinierende Erzählung über das Europa vor und nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Anhand des Lebens Lev Noussimbaums wird deutlich, was Nationalismus, Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus zerstört haben. Wie die Vielfalt Europas gestutzt und ausgedünnt wurde.

In der Hörbuch-Inszenierung lebt dieses Buch zusätzlich auf. Der kürzlich bei einem Unfall gestorbene Dietmar Mues liest den Text wunderbar. Nina Hoger und Stephan Schad ergänzen Wolfgang Stockmanns Regie. Ein Muss für alle, die mehr über Europa und den Orient erfahren wollen. Und für alle, die diese Weltgegenden erkunden wollen. Die Musik von „Klezmer meets Derwisch“ bringt das zusätzlich zum Ausdruck.

6 CDs sind in schöner Aufmachung bei Griot erschienen und sollen gut 30 Euro kosten.

Lustvolle Trennung

Abschiedsbild vom Mini
Abschiedsbild vom Mini

Trennungen sind schmerzhaft. Das ist eine Binsenwahrheit. Dass sie auch lustvoll sein können, ist eher selten. Heute habe ich mich mit nur etwas Wehmut getrennt. Vor allem aber mit viel Zuversicht für die Zukunft.

Der kleine Mini war zwei Jahre eine praktische Erleichterung des Alltags. Er stand immer zur Verfügung, machte keine Scherereien und lud immer wieder zu Spontanität ein. Damit ist jetzt Schluss. Der Schlüssel ist abgegeben. Der Weg zurück versperrt. Das Übergabeprotokoll regelt etwaige Zahlungen. Und das alles ganz unbürokratisch.

Ab jetzt heißt es wieder Rad fahren. Und noch mehr Bahn. Und damit wieder mehr Zeit fürs Lesen. Mehr Bewegung. Mehr Offenheit und konkrete Beobachtung des Lebens. Das ist gut. Und allemal eine Trennung wert.

Heinz Erhard begleitet den Bahnreisenden

Heinz Erhard im DB-Reclamheft
Heinz Erhard im DB-Reclamheft

Die Bahn verwöhnt ihre Kunden. Zumindest in der 1. Klasse auf Fernreisen. Es werden nicht nur Zeitungen gereicht und Getränke am reservierten Platz serviert. Jetzt verteilt die Bahn auch Bücher.

In der DB-Sonderedition gibt es Reclam-Heftchen für den (be-)gierigen Reisenden, der bei Geschenken nicht Nein sagen kann. Für mich lag Heinz Erhard obenauf. Und siehe da, die Abwechslung ist gelungen. Wer bereit ist, in die Enge der 50er- und 60er-Jahre einzutauchen, kommt in den Genuss witziger Weisen.

Nette Verse, deftige Dialoge und treffende Sentenzen erheiterten auch mich. Da waren Texte über das Wetter, Worte über das Dichten, Sätze wider den Irrsinn des Lebens zu finden. Nur das Reisen, vor allem das mit der Bahn, kam in dem Büchlein nicht vor…

Susannes seltsame Spreewald-Erziehung

Dieses Kind war nicht auf den Heuschober
Dieses Kind war nicht auf den Heuschober

Der Heuschober ist schön. Er lädt die Kinder zum Spielen ein. In in hinein dürfen sie, doch nicht auf ihn hinauf. Allerdings steht das nirgends. Aber das Erklimmen erquiklicher Höhen ist ein Fest für Buben. Deshalb tun sie es auch. Bis Susanne von Susannes Barfuß-Park in Burg/Spreewald es mitbekommt. Schon erstaunlich, wie aus einer behäbigen Frau eine schnell agierende und laut lamentierende Furie reifen kann: „Wenn Du noch kleiner wärst, würde ich Dich an beiden Ohren ziehen und Knoten reinmachen.“

Was für ein Satz, was für eine Wut, was für eine Maßlosigkeit der schreienden Susanne. „Aber Du bist ja zu groß. Jetzt muss ich mir was anderes einfallen lassen.“ Der Bub ist neun oder zehn. So groß ist er also nicht. Aber für Barfuß-Susanne schon zu groß. Zum Glück sind seine Ohren auch normal gewachsen. Sonst würde sie noch auf die Idee kommen, tatsächlich dran zu ziehen. Doch so lässt sie wutschnaubend ab. Und lässt sämtliche Gäste mit offenem Mund hinter sich auf ihrem Weg zurück in die Küche.

Soll man jetzt gehen? Soll man jetzt einschreiten? Soll man Susanne sagen, dass sie Maß und Takt verloren hat? Oder soll man nur überall erzählen, dass Susannes Barfuß-Park in Burg/Spreewald ein Ort ist, den man unbedingt meiden sollte? Wer für letzteres ist, kann den Text ja auf Facebook etc. teilen.

P.S. Wer Susannes Refugium dennoch sucht: Sie hat auf das sonst übliche Apostroph zum Glück verzichtet, dafür schreibt sie Barfuß-Park so: Barfuss-Park.

Pamuk lesen – Türkei verstehen

Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne
Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne

In Berlin war es. Im März. Da hat Orhan Pamuk sein aktuelles Buch vorgestellt. Die Situation war komisch. Denn „Cevdet und seine Söhne“ ist fast 20 Jahre alt. Der reife Autor musste also seinen Erstling präsentieren, der in Deutschland noch nicht zu haben war, weil derselbe Autor eine Übersetzung lange nicht wollte. Dem war das Buch zu traditionell. Eine Familiensaga, die stark an die Buddenbrocks erinnert. Die sehr chronologisch eine große Gesellschaftsgeschichte anhand einer Familie erzählt. Das ist tatsächlich große Literatur. Der Roman ist eine Mentalitätsgeschichte der Türkei in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts.

Wer die Türkei in ihrer Zerrissenheit zwischen Orient und Okzident, zwischen europäischer Moderne und orientalischer Tradition begreifen will, ist bei dem Debüt Pamuks gut aufgehoben. Dennoch ist es auch gut verständlich, weshalb Pamuk sich mit der Übersetzung so schwer tat. In der Türkei werde er immer auf den Erstling angesprochen, erzählte er. Und das, wo er doch anschließend literarisch ambitioniertere Bücher geschrieben habe. Auch in Deutschland wird dieses Buch geliebt werden. Es ist so schön überschaubar, so klar in den Personen und Dialogen. Es ist gut erzählt und öffnet eine neue Welt. Das ist alles fein. Und dennoch ist es auch etwas langweilig. Man muss die 660 Seiten fressen, um im Geschehen zu bleiben. Ansonsten verschwinden die vielen Details sehr schnell wieder aus dem Bewußtsein.

Mit Espresso schmeckt der neue Veit Heinichen noch besser

Veit Heinichen: Eine Frage des Geschmacks
Veit Heinichen: Eine Frage des Geschmacks

Proteo Laurenti ist inzwischen eine bekannte Krimi-Figur. Dank der Verkörperung durch Henry Hübchen in der ARD ist der Commisario aus Triest einen großen Publikum bekannt. Doch anders als im Fernsehen ist in den Büchern von Veit Heinichen die Stadt Triest der eigentliche Star. Und nicht der Polizist.

Über die Grenze von Berlin und Brandenburg

Die Grenze zwischen Berlin und Eichwalde
Die Grenze zwischen Berlin und Eichwalde

So sieht die Grenze zwischen Berlin (links) und Brandenburg (rechts) aus. Links ist die Straße gepflastert. Rechts ist sie märkische Sandwüste mit Schlaglöchern. Links zeugt sie von einst besseren Zeiten. Rechts sagt sie uns, dass Zivilisation ein beschränktes Gut ist. Links stehen große Häuser, Villen gar. Rechts ducken sich kleinere Häuser, eher Datschen als Paläste. Links haben die Häuser Seeblick. Rechts verstecken sie sich auf fast bewaldeten Grundstücken.

Die Straße hat auf Berliner und auf Brandenburger Seite den gleichen Namen. Doch die Grenze ist mit der Fahrbahnmitte und dem Übergang von Kopfsteinpflaster zu Sand klar markiert. Weil die Straße eine Grenzstraße ist – eine „Grenzallee“ gibt es übrigens an anderer Stelle zwischen Schmöckwitz (Bezirk Treptow-Köpenick) und Eichwalde (Landkreis Dahme-Spreewald) auch noch – fühlt sich keine der beiden Seiten so richtig für sie verantwortlich. Diese Straße sieht schon seit Generationen so aus.

Und so wie es aussieht, wird sie ihr Gesicht auch in den nächsten Jahrzehnten nicht verändern. Für das große Berlin liegt sie zu abseitig, um den eigenen Anteil zu sanieren. Für das Brandenburger Eichwalde ist sie nur eine von vielen noch nicht befestigten Straßen. Warum also sollte ausgerechnet diese in Angriff genommen werden? Noch dazu müssten sich dann ja nicht nur die angrenzenden Anwohner einig sein, sondern auch die Landesregierungen. Das sind sie aber eigentlich nie.

Es sei denn, es geht um den Großflughafen. Dann sind sich Berlin und Brandenburg einig, dass Lärm für die Anwohner weniger wichtig ist als vermeintliche Wirtschaftlichkeit von Fluglinien. Hauptsache das Minus des Niemals-ein-Drehkreuz-werdender-Flughafen bleibt möglichst gering. Sowohl Schmöckwitz als auch Eichwalde werden Fluglärm von der Fehlinvestition BBI/BER abbekommen. Da spielt die Grenzstraße keine Rolle. Ob links oder rechts von ihr – alle sind betroffen. Und so steht dies Straße exemplarisch für den Umgang der beiden Länder mit den Flughafengemeinden: Erst vergessen, dann verlärmen.

Danke für die Ruhe, lieber Kopfhörer

Heute hat sie jeder im Ohr. Heute sind sie eigentlich auch weiß. Wer auf sich hält, hat entweder die Originale von Apple oder die Derivate anderer Hersteller, die einen auf Apple machen. Früher waren sie immer schwarz. Ganz früher waren sie sogar mit Bügel und so Dingern, die nicht ins Ohr gesteckt, sondern ans Ohr gepresst wurden. Ganz coole Zeitgenossen tragen inzwischen auch schon wieder solche Teile. Allerdings sind das dann richtige Kopfhörer, die für die schalldichte Abschottung von der Umwelt garantiert sorgen.

Jetzt ist es ja so, dass diese Stöpsel viele feine Dinge ermöglichen. Man kann Musik hören. Oder ein Feature vom Deutschlandfunk über die Lage in Berg-Karabach und die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Oder einen BBC-Sprachkurs zur Auffrischung der Englisch-Kenntnisse. Hörbücher etwa über Essad Bey oder eine Lesung der Metamorphosen von Ovid. Alles ist möglich. Die Zeit in der Bahn wird verkürzt. Der Stöpsel im Ohr erzählt von der Welt. Direkt ins Gehirn, ohne Umwege durch Zimmer und Räume.

Das beste, was der Stöpsel aber leistet, ist etwas ganz anderes: Wer ihn im Ohr hat, wird nicht gestört, wird nicht angequatscht. Der kann sich ganz auf sich konzentrieren, selbst wenn er sinnlos, weil geräuschlos im Gehörgang stöpselt! Vor allem auf Zugfahrten kann diese Leistung der unscheinbaren und dennoch so unentbehrlich gewordenen Kopfhörerchen nicht überbewertet werden. Und deshalb lobe ich die Dinger heute hier. (Meine sind übrigens wieder schwarz, weil die weißen nur zur stillen Andacht, dauerhaft aber nicht zum Hören der Feature taugen…)