Was wäre wenn die DDR noch existierte? Dann dürfte Simon Urban bestimmt nicht einreisen

Simon Urban: Plan D
Simon Urban: Plan D

Was wäre wenn? Diese Frage muss sich der Historiker verkneifen. Der Schriftsteller aber darf sie nicht nur stellen, er kann sie auch beantworten. Aber nur, wenn der erzählen kann. Simon Urban kann erzählen. Und wie!

Für einen Debüt-Roman ist es fast schon zu gut, was der Marketing-Texter Urban (Jahrgang 1975) da abgeliefert hat. Ich muss gestehen, dass ich mich zunächst nicht so recht an das Buch wagte, weil mir der Klappentext doch etwas zu krude vorkam. Doch kaum hatte ich angefangen, wollte ich nicht mehr aufhören. Die Folge:  Vier eindeutig zu kurze Nächte!

Simon Urban lässt im Oktober 2011 einen Mord geschehen. Das könnte ja in jedem Krimi passieren. Aber eben nicht in der DDR. Die existiert nach der bekannten Krise von 1989/90 bei Urban noch immer. Egon Krenz ist noch immer Staatsratsvorsitzender, Sarah Wagenknecht ist Schauspielerin und Oskar Lafontaine Kanzler der Bundesregierung in Bonn. Dieses Szenario wirkt anfangs etwas seltsam, entfaltet aber dann auf den mehr als 500 Seiten eine immer größere Faszination.

Das Mordopfer ist ein Professor, der vor der „Wiederbelebung“, so nennt Urban die Phase nach der zweiten Mauerschließung 1992, in die DDR ka, um Krenz zu beraten. Gefunden wird das Opfer erhängt an einer Gazprom-Pipeline in Köpenick. Hintergrund des Mordes sind Verhandlungen über neue Erdgaslieferverträge.

Neben dieses wunderbar skurrilen und bis ins Detail ironisch-überzeugenden Rahmens überzeugen vor allem die Figuren. Der ermittelnde Hauptmann Wegener und sein scharf beobachtetes Liebesleid, an seiner Ex, in die er alle Verlustängste und erotischen Phantasien legt, ist ebenso großartig wie die alle anderen Figuren vom Stasi-Major bis hin zum Terroristen in der DDR. All das ist wirklich wunderbar, packend erzählt. Und neben de m eigentlichen Thriller eine feine intellektuelle Herausforderung. Schließlich will ständig überprüft werden, ob das „Was-wäre-wenn“ auch stimmen könnte. Und siehe da: es könnte! Immerzu. Deshalb: Lesen! Unbedingt! (Und danke Mathias für den Tipp und da Buch!)

Gabriele Riedle blickt in einem Tunnel auf eine depressive Generation

„In ihrer Nutzlosigkeit sind schließlich alle
Menschen wieder gleich. So wie sie es ganz
früher in ihrer Nacktheit waren, am
sechsten Tag der Schöpfung.“

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen
Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen

Von „Überflüssigen Menschen“ erzählt Gabriele Riedle in ihrem neuen Roman. Vor allem von Natalie, einer Übersetzerin aus dem Russischen, die sich einst von der schwäbischen Kleinstadt in die Großstadt Berlin aufmachte und jetzt ein Theaterstück von Tschechow für das Ulmer Theater neu in Deutsche bringen soll. Doch statt des neuen Textes entsteht ein innerer Monolog, der sich vor allem an die drei Schwestern des Stückes richtet. Und damit mehr als ein ganzes Jahrhundert Geschichte auf eine ganz spezielle Art in den Blick nimmt.

Dieser Blick ist ein Tunnelblick, den Natalie leidet an einer Erbkrankheit, die ihr das Augenlicht nimmt. Und sie leidet an einer Depression. Denn alles, was sie da aufschreibt ist eine hoffnungslose Gesamtschau auf die Menschheit, auf die eigene (Nachkriegs-) Generation und auf sie selbst. Unfähig zu arbeiten, unfähig zu genießen, unfähig Beziehungen einzugehen und zu leben, unfähig Freude aus dem Leben zu ziehen, igelt sich Natalie ein, denkt nur über den Mann, eine frühere Jugendliebe, der ihr den Übersetzungsauftrag erteilt hat, nach – ohne sich aufzuraffen ihr auch zu treffen. Und somit auch echt zu leben – und nicht nur in ihrem gedanklichen Tunnelblick.

Gabriele Riedle schildert eine Frau, die es geschafft hat, aus der Enge der schwäbischen Provinz, aus der Familie mit SA- und SS-Angehörigen auszubrechen. Natalie ist eines dieser Nachkriegskinder, denen es die Bildungsoffensive der SPD in den 70er-Jahren ermöglicht hat zu studieren und so die Welt für sich selbst zu erobern. Natalie studiert Russisch, sie sympathisiert mit der RAF, sie erliegt auf ihre Art der Faszination der Gewalt, die ihr Großvater in der SA und später auf seinem Marsch nach Moskau auslebte.

All das bündelt Riedle in knappe 34 Kapitel, die in einem Strudel aus Widerholungen von Gedanken, die allerdings immer wieder in neue Zusammenhänge gestellt werden, einen ganz eigenen Sprachrhythmus erzeugen. So werden ganz kleine, persönliche Erlebnisse in den großen Gesamtkontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts gestellt. Und auch in den unseres ersten Jahrzehnts. In dem in der Finanzkrise Banker aus Fenstern springen, weil sie überflüssig sind. So wie sich Natalie fühlt, die aber nicht springt, sondern sich in ihren Gedanken vergräbt.  Und den Leser so verwirrt, und dennoch fesselt.

Gabriele Riedle: Überflüssige Menschen. Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, 32 Euro.

Umberto Ecos „Friedhof in Prag“ verblüfft und verwirrt

Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
Umberto Eco: Der Friedhof in PragSimon Simonini

Simon Simonini ist die einzige frei erfundene Figur i n Umberto Eco neuestem Roman. Alle anderen Figuren haben gelebt, haben geschrieben, was Eco zitiert, haben gesagt, was Simonini in seinem Tagebuch aufschreibt. Insofern ist „Der Friedhof in Prag“ vor allem ein Geschichtsbuch und weniger ein Roman.

Auf der einen Seite ist die Gewissheit, dass Eco profund recherchiert, faszinierend. Auf der anderen mindert die Faktenlast immer wieder das Lesevergnügen. Denn Eco hat zwar einen Roman über die wirkungsmächtigste Verschwörungstheorie der Geschichte geschrieben, aber die Spannung, die in dem Stoff liegt, kann er nicht entfalten.

Und das, obwohl dieser Simonini als Fälscher, Geheimagent, Notar und Mörder alle Zutaten enthält, die für einen guten Thriller nötig sind. Nur der Sex fehlt, weil Eco ihm diesen offenbar nicht gegönnt hat. Simonini ist über viele Jahre damit beschäftigt, für unterschiedliche Auftraggeber Dokumente zu produzieren, die die Freimaurer und vor allem die Juden denunzieren sollen. Dazu schreibt der bei Alexandre Dumas, Henri Joly und vielen anderen ab. Er sortiert Versatzstücke neu und überprüft die Plausibilität. Am Ende fertigt er für den russischen Geheimdienst einen Text, der unter dem Titel „Die Weisen von Zion“ das zentrale Dokument des Antisemitismus im frühen 20. Jahrhundert wird.

All das ist wahr. Nur diesen Simonini gab es nicht. Aber all die Texte und ihre Beziehungen stimmen. In der Figur des Fälschers führt Eco unzählige Stränge zusammen. Denn er ist auch derjenige, der die Dokumente fälscht, die die Dreyfus-Affäre auslösen. Eco spielt die Möglichkeiten durch und konstruiert dabei zu sehr. Wobei er es aber dennoch schafft, den Leser ständig zu verblüffen. Denn selbst die absurdesten Figuren und Begebenheiten sind für sich ja historisch belegt. Nur das literarische Scharnier, das alle miteinander verbindet eben nicht.

Dennoch habe ich das Buch gern gelesen. Weil es zu viel enthält, was fasziniert und erschreckt. Weil Eco sich immer in die Karten schauen lässt und den Leser damit dann doch noch mitnimmt.

Umberto Eco: „Der Fredhof in Prag“. Roman. Aus dem Italienischen von Burkhard Kroeber. Hanser Verlag, München 2011. 519 S., geb., 26,- €.

Ringsgwandls Geschichten sind nichts für leise Leser

Georg Ringsgwandl: Das Leben und Schlimmeres
Georg Ringsgwandl: Das Leben und Schlimmeres

Jetzt sind es bald schon 25 Jahre, dass Georg Ringsgwandl den Salzburger Stier verliehen bekam. Solange gehört er zumindest in Bayern zu den Stimmen, die mit ihrem schrägen Blick die Wirklichkeit graderücken. Bei ihm gilt zudem das Wort von der „Stimme“ nicht im übertragenen Sinn. Aber als Autor ist er bislang nicht in Erscheinung getreten.

Leider. Denn sein erstes Buch „Das Leben und Schlimmeres – Hilfreiche Geschichten“ verursacht eine Art Phantomschmerz, weil man diese wunderbaren Texte erst jetzt lesen darf. Warum hat uns der Ringsgwandl so lange warten lassen? Weil die CDs nicht die Verkaufszahlen erreichen, die sie verdient hätten? Oder weil ihm das Leben – früher auch als Arzt – als Familienvater und Rampensau keine Zeit ließ?  Zumindest auf die Frage nach den CD-Verkäufen gibt es in dem Buch eine Antwort.

Ganz nah an den Menschen sind seine Beobachtungen. Ganz lakonisch ist sein Ton. Und ganz großartig ist der Witz, der in diesem Spannungsfeld entsteht. „Das Leben und Schlimmeres“ ist eines dieser Bücher, die in der Bahn die Mitreisenden belästigen können, weil man lauthals lachen muss. Ringsgwandl ist ein Meister in der Offenlegung des Absurden im Alltag. Etwa wenn er den ehemaligen Schulfreund beschreibt, der fest davon überzeigt ist, dass seine Songs besser in großen Stadien funktionieren würden als die der großen Bands. Aber da er sich lieber in Gram vergräbt, bleibt er unentdeckt und leidet als kleines Licht an seinem Größenwahn.

Wunderbar sind auch die Beobachtungen über Liebe im Niedrigenergiehaus, „das Knie“ als biomechanischem Drama in drei Akten oder den „Tiroler Rundfunk“. Jeder Text für sich ist ein feines Meisterstück. Da in dem rororo-Band 32 Texte sind, wächst dieser zu einem großen Buch.

Ringsgwandl: Das Leben und Schlimmeres – Hilfreiche Geschichten. rororo, 9,99 Euro.

 

Olga Grjasnowa rollendes „r“ macht Mascha sympathisch

Olga Grjasnowa  kurz nach der Lesung von "Der Russe ist einer, der Birken liebt" in der Berliner Buchhandlung "Moby Dick".
Olga Grjasnowa kurz nach der Lesung von „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ in der Berliner Buchhandlung „Moby Dick“.

Ihr „r“ rollt so schön. Und ihre Betonung der zweiten statt der ersten Silbe erzeugt einen ganz eigenen Lesefluss.  Olga Grjasnowa hat sich gut auf ihre gut einstündige Lesung vorbereitet. Sie liest nicht eine Passage am Stück, sondern hat etliche kleinere Szenen aus ihrem gesamten Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, die den Handlungsstrang erkennen lassen.

Leicht aufgeregt wird die Anspannung der Autorin durch mehrere Mikrophon-Aussetzer noch verstärkt. Dann wird ihr Deutsch mit dem schönen leichten Akzent leider etwas monoton. Die Konzentration des Zuhörers darf sich dann nicht von den Bücher- und CD-Regalen der der schönen Buchhandlung „Moby Dick“ in Prenzlauer Berg ablenken lassen. Denn dann wird es schwer zu folgen.

Deutlich wird das vor allem am Ende. Sie habe Mascha, die Protagonistin, ursprünglich noch böser angelegt, als sie dann im Roman wurde, meint Olga Grjasnowa auf eine Frage der Buchhändlerin. Doch Mascha kam bei der Lesung als überhaupt nicht böse an. Eher als Opfer, die einen Todesfall zu beklagen hat und bei der Einreise nach Israel bei der Kontrolle so sehr schikaniert wird, dass sogar der Laptop zerstört wird. Als eine Frau mit bösen Neigungen, wird Mascha nicht greifbar. Im Gegenteil: Die Lesung sorgt für viel Sympathie mit ihr.

Die Buchhandlung ist übrigens fast schon überfüllt. Viele Zuhörer sind um die 30. Sie fühlen sich angesprochen von dieser Geschichte, die im multikulturellen Milieu der gut ausgebildeten, mehrere Sprachen sprechenden Deutschen mit den Migrationshintergrund spielt. Und in der damit verbundenen Bindungslosigkeit, die bis zu zwischenzeitlichen Aufenthalten in der Psychiatrie reicht. Das ist alles auch sehr verwirrend. Und wahrscheinlich ein Grund, weshalb man den Roman doch lesen sollte. Neben der nach wie vor offenen Frage, warum Russen, Birken lieben. Und dieser Titel über einem Text steht, der eine Frau in den Mittelpunkt rückt, die aus Aserbaidschan stammt. Und: rollen die dort das „r“ auch so schön?

Stuart Evers macht aus der Coolness des Rauchens wärmende Nostalgie

Stuart Evers: Zehn Geschichten übers Rauchen
Stuart Evers: Zehn Geschichten übers Rauchen

Es ist schon spannend, dass ein Buch mit diesem Titel inzwischen wie eine Provokation wirkt: „Zehn Geschichten übers Rauchen“. Noch vor einigen Jahren, als das Rauchen in Kneipen noch selbstverständlich war, wäre dieses Buch kaum aufgefallen. Doch jetzt hat es schon etwas Verruchtes, dass da Erzählungen erscheinen, in denen die Zigarette der stille, verklimmende Held ist.

Stuart Evers, ein Literaturkritiker und Lektor aus London, hat für sein Debüt zehn Kurzgeschichten geschrieben, die von Freundschaft, Liebe und Leid handeln. Sie sind jede für sich ein Kleinod. Und jede dieser Geschichten hat die Zigarette nicht unbedingt zum Helden. Da ist die Frau, die ihre erste große Liebe nach vielen Jahren der Trennung in ein Hotel bestellt. Früher da lebten sie nur für sich. Alles war Liebe. Und wie es damals so üblich war eine Liebe im Rauch. Das Date im Hotel wird nicht so wie erwartet. Denn der Mann riecht anders als damals. Sie, die nur überprüfen will, ob es richtig ist mit Mitte 40 einen anderen zu heiraten, vermisst genau diesen Geruch. Die Zigarette ist hier nur noch eine Erinnerung des Geruchssinns. Aber eine so prägende, dass sie etwas nostalgisches hat.

Stuart Evers Provokation entpuppt sich deshalb weniger als Coolness. Vielmehr ist sein gutes Stück Nostalgie. In den meisten Texten ist mit der Zigarette etwas Vergangenes verbunden. Und so macht er die Coolness zu etwas Rückwärtsgewandtem, zu einem Gefühl aus der Vergangenheit. Wie Evers aus der Erwartungshaltung des Lesers dieses Gefühl erzeugt, ist meisterhaft. Ganz nebenbei machen die Texte auch alle ganz einfach Spaß beim Lesen!

Literatur hören in Jurten zwischen Stahl und Glas

Andreas Scheffler in einer der Jurten am Potsdamer Platz
Andreas Scheffler in einer der Jurten am Potsdamer Platz

Als man noch mit der Milchkanne direkt im Bauernhof Milch kaufen durfte, da gab es einen ganz besonderen Geruch in den Melkstuben neben dem Kuhstall. Da vermischten sich Aromen von Tier und Milch zu einem etwas süßlichen Geruch, der auch etwas Fettes hatte.

Mitten in der großstädtischen Glas- und Stahlarchitektur des Potsdamer Platzes hatte ich genau diesen Geruch wieder in der Nase. Nicht in einem zu glatten Lokale oder der vielen Büroräume. Es war in einer der Jurten, die da gerade stehen. Etwas verlassen stehen die drei Zelte aus der mongolischen Steppe da. Aber genau das ist es ja, was sie so reizvoll macht.

In ihnen verliert sich der Zuhörer nicht. Im Gegenteil: Nur 44 können einer der Lesungen zuhören; vielleicht auch 48 mit ganz viel quetschen. Egal wie kalt es draußen ist, innen ist es in kürzester Zeit so warm, dass jede nur noch so dünne Jacke zu dick ist.

Jurten auf den Potsdamer Platz
Jurten auf den Potsdamer Platz

Der Geruch der Filzzelte verschwindet dann auch. Ob das an den Ausdünstungen der vielen Menschen liegt, oder dem abnehmenden Sauerstoffgehalt der Luft? Ich weiß es nicht. Nur, dass es nach der Lesung nur fünf Minuten dauert, bis er wieder in die Nase drängt.

Die Jurtendeckel oben sind geschlossen. Doch wenn sie etwas verrutscht sind, dann erblickt man durch sie ein kleines Stück Glas- und Stahl eines der hohen Häuser. Dann kommt die Kälte des Außen als Bild in die Wärme des Innen. Die Lesung wird so zu einem sinnlichen Eindruck ganz eigener Art. Und der ist so stark, dass selbst peinlich unvorbereitete Moderatoren, die keinen Autorennamen kennen, gut zu ertragen sind.

Mit dem Bahntower im Hintergrund
Mit dem Bahntower im Hintergrund

Neben der Gefahr dass laut grölende italienische Touristen direkt neben der Zeltwand die leise Stimme der Autorin übertönen, ist das der einzige Minuspunkt einer wunderbaren Art, mit Literatur in Kontakt zu kommen.

Andreas Scheffler war übrigens sehr amüsant, auch wenn er etwas zu sehr in dem einen oder anderen Klischee badete. Katharina Hacker erzählte nett vom Odenwald, auch wenn es da bestimmt niemanden gibt, der Blaubeeren isst. Wenn schon, dann Heidelbeeren. Judith Poladjan hat wunderbar gelesen, auch wenn die Ich-Erzählerin etwas blass blieb. Und Thomas Melle hat bestimmt einen guten Roman geschrieben. Aber mit dem Vorlesen hat er es nicht so. Dennoch haben alle Runden Spaß gemacht.

 

 

Nino Haratischwilis „Mein sanfter Zwilling“ zeigt die Abgründe der Liebe

Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling
Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling

Dieser Roman verstört, weil er das Zerstörungspotenzial der Liebe beschreibt. Dieses Buch fesselt, weil es die Suche nach Freiheit zum Thema hat. „Mein sanfter Zwilling“ verwirrt, weil er den Irrsinn einer Familie, einer Liebe und eines Krieges analysiert.

Nino Haratischwili ist erst 28 Jahre alt. Sie ist in Tiflis (Georgien) geboren und in Deutschland aufgewachsen. Sie hat bereits 13 Theaterstücke geschrieben, wurde dafür schon mehrfach ausgezeichnet und legt mit „Mein sanfter Zwilling“ ihren zweiten Roman vor. Für sie ist das Schreiben offenbar eine Sucht, zumindest aber eine Verpflichtung. Bei all den Stoffen, die sie bereits bearbeitet hat, ist klar, dass sie sich nicht mit der Aufarbeitung der eigenen Biografie beschäftigt. Sie sucht die großen Konflikt, die schweren Themen. Und kann sie fesselnd auf einem außerordentlichen sprachlichen und literarischen Niveau bearbeiten.

Im aktuellen Roman geht es um Ivo und Stella, die als (Stief)-Geschwister aufwachsen. Seit sie sich kennen, lieben sie sich. Allerdings ist das keine einfache, sanfte Liebe. Denn etwas steht zwischen ihnen. Deshalb ist ihre Beziehung von Trennungen und Gewalt, von Selbstzerstörung und unglaublichen Glücksmomenten geprägt. Sobald sie sich nahe kommen, können sie kein normales Leben mehr führen, dann müssen sie das Leben in Extase mit Sex und Drogen spüren, dann verschwindet das, was man gemeinhin für Glück hält. Denn in der körperlichen Pein, in der seelischen Qual, aber auch in der unglaublichen Zweisamkeit erleben sie eine ganz andere Dimension des Zusammenseins.

Die Anlage dieses Stoffes wäre den meisten Autoren zu einer klebrigen Kolportage verkommen. Nino Haratischwili formt aus der Ich-Erzählung Stellas aber einen Roman, der sämtliche Zwischentöne der Liebe gekonnt ausformuliert. Sobald der Leser weiß, dass die Beziehung von Ivo und Stella schwierig ist, wird er immer weiter in den Sog dieser Liebe gerissen. Gekonnt hält sie die Ursache offen, ohne Langeweile zu produzieren. Am Ende des Buches ergeben Aufbau und die verschiedenen Szenen ein schlüssiges Bild, das den Leser grübelnd zurücklässt. Und das, weil das Buch so klar und ergreifend ist.

Auch die Szenen in Georgien, die sich mit dem Bürgerkrieg 1992 beschäftigen, sind deutlich mehr als Folklore. Sie sind integraler Bestandteil der Geschichte. Und sie bringen die Auflösung des Dramas. Nino Haratischwilis Roman ist ein großer deutscher Gegenwartsroman.

Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling, Frankfurter Verlagsanstalt, 379 Seiten, 22,90 Euro.

Pamuks stilles Haus bewahrt schreckliche Familiengeheimnisse

Orhan Pamuk: Das stille Haus
Orhan Pamuk: Das stille Haus

Das stille Haus liegt direkt am Marmarameer. Als es gebaut wurde, stand es ganz allein. Doch inzwischen – 1980 – ist der schöne Fleck zu einem Ort mit Touristenrummel gewachsen. Alles verändert sich. Nur die Bewohnerin des Hauses nicht. Fatma ist 90. Aber eigentlich will sie noch immer so verstockt sein, wie als 17-jähriges Mädchen.

„Das stille Haus“ von Orhan Pamuk bündelt das Leben dieser Frau. Und aller Katastrophen, die aus ihrem Handeln gewachsen sind. Denn das Haus ist zwar still, weil es fast das ganze Jahr nur von der Tyrannin Fatma und ihrem Diener Recep bewohnt wird. Aber diese Stille birgt böse Geheimnisse.

Der Leser erfährt von diesen aus der Perspektive Fatmas, die auf ihr Leben zurückblickt. Recep ist der zweite Erzähler des Buches. Auch er blickt auf sein Leben zurück, ist aber viel stärker in der Gegenwart verankert. Denn er beobachtet seine Umgebung ganz genau. Und dazu gehören die drei Enkel Fatmas, die im Sommer 1980, kurz vor dem Militärputsch in der Türkei, wie jedes Jahr das Haus beleben. Metin, ein Student, und Faruk, ein Historiker sind die nächsten Stimmen, die dem Leser das Leben im und um das stille Haus erzählen. Enkelin Nilgün bekommt keine eigene Stimme. Sie wird vor allem als Objekt der Liebe Hasans beschrieben, der als fünfter und letzter Ich-Erzähler zu Wort kommt.

Hasan hat mit den Enkeln früher gespielt, da er der Neffe Receps ist. Und wie sich im Laufe des Romans herauskristallisiert auch mit den Enkeln verwandt ist. Denn Fatmas Mann ist Receps und Hasans Vater. In dem Roman geht es also um die großen Familienthemen Liebe, Hass, Verachtung, Gewalt und Verdrängung durch Suff. Dem verfiel Fatmas Mann, derm verfiel deren beider Sohn und Enkel Faruk ist auch auf dem besten Weg sein leben dem Raki zu weihen.

Orhan Pamuks zweiter Roman knüpft teilweise an seinen Erstling „Cevdet und seine Söhne“ an. Zum einen tauchte Fatma in diesem als Randfigur bereits auf. Zum anderen ist Cevdet auch Gesprächsthema. Dadurch wird Pamuks eigene Familiengeschichte weitergeschrieben. So wie eigentlich in allen seinen Büchern der autobiografische Anteil sehr groß ist. Sein literarischer Kniff, die Geschichte aus der Perspektive von fünf Ich-Erzählern zu beleuchten, erzeugt für eine große Spannung. Die unterschiedlichen Charaktere kommen durch ihre eigenen Worte besonders gut zur Geltung. Und ihr Denken.

Pamuks Familienroman erzeugt ein bedrückendes Bild von der Türkei, die sich dem Westen öffnete und der Tradition doch verhaftet blieb. Für diese Zerrissenheit stehen Fatma und ihr Mann. Zwei Generationen später spielt die Tradition keine Rolle mehr, aber der Faschist Hasan und die Kommunistin Nilgün stehen für eine neue Zerrissenheit, die der Militärputsch dann mit Gewalt zu kitten versuchte. All diese Dinge spielen im Roman nur eine untergeordnete Rolle – der Putsch sogar gar keine, da er erst nach Ende des Buches passiert. Aber das Private ist in diesem Buch eben immer auch gesellschaftlich relevant, ohne dass es gesagt werden muss. Diese Schicht erschließt sich dem Leser erst auf dem zweiten Blick, nachdem er einen packenden Roman gelesen hat, der sich bis zum Totschlag steigert.