Die Tatarenwüste raubt den Soldaten von Dino Buzzati das Leben

Dino Buzzati: Tatarenwüste
Dino Buzzati: Tatarenwüste

Endlich Offizier. Endlich die erste Verwendung. Die ist zwar kein Traum für einen jungen Mann. Aber so eine Festung, die zur Grenzsicherung hoch oben in den Bergen vor der Tatarenwüste seit Jahrhunderten eine wichtige Funktion hat, bietet zumindest einen sinnvollen Einsatz. Und so zieht Giovanni Drogo auf seinem Pferd in die Berge.

Dino Buzzati hat seinen Leutnant, die Festung und das Land des Feindes von Zeit und Raum getrennt. Sie sind in einer prototypischen Welt, die an kein Land gebunden ist. Auf den ersten Seiten ist das noch etwas seltsam. Aber es wird, je länger man das Buch liest, umso intensiver- Die seelische Dimension der Geschichte wirkt genau deshalb so stark.

Denn genau darum geht es Dino Buzzati, der 1940 nach 18 Jahren Faschismus in Italien diesen Roman über Ordnung geschrieben hat. Darüber, wie das geregelte Dasein in einem totalitären System, das jede Form von Militär zwangsläufig sein muss, so den Menschen vereinamt, dass irgendwann das geregelte Dasein für die Seele, für den Menschen wichtiger wird, als die Sehnsucht nach Liebe oder einem aufregenden Leben.

Dino Buzzati macht das sehr anschaulich. Dazu nutzt er die eigentlich unwichtige Festung. Der Blick in die Tatarenwüste, von wo der Feind kommen müsste, beherrscht die Hoffnungen der Soldaten. Irgendwann muss der Dienst und die Entsagung doch sinnvoll werden. Der Durst der Seele nach einem Sinn des eigenen Tuns muss gestillt werden. Die Hoffnung auf das Ereignis von außen wird wichtiger als das eigene Ich. Und so verlieren die Soldaten Schritt für Schritt das eigentliche Leben, auch wenn der geordnete Dienst kein echter Lebensinhalt sein kann.

„Die Tatarenwüste“ ist eine Parabel auf alle totalitären Systeme. Den besonderen Reiz macht darin die Haltung Buzzatis aus. Er denunziert niemanden, denn der Leser muss ich auf Drogo so stark einlassen, dass er von ihm in einen Sog gezogen wird, der die Aussichtslosigkeit als Lösung fast akzeptabel macht.

Dino Buzzati: Die Tatarenwüste. Die Andere Bibliothek.

Georg-Michael Schulz schreibt die erste Biografie über Walter Mehring

Georg-Michael Schulz: Walter Mehring
Georg-Michael Schulz: Walter Mehring

Georg-Michael Schulz hat eine viel zu lang klaffende  Lücke geschlossen: Vor wenigen Tagen ist die erste Biografie Walter Mehrings (1896 – 1981) erschienen; mit dem schlichten Titel „Walter Mehring“. 22 Jahre nach dem Tod des Dichters, Kabarettisten, Journalisten – oder wie er selbst ganz einfach sagte „Schriftstellers“ wird damit ein wichtiger Beitrag zur Erschließung des Werkes und des Lebens des Berliners und Exilanten geschaffen.

Das allein wäre schon verdienstvoll. Dank der präzisen und knappen Form, in der Schulz Leben und Werk zusammenfasst, ermöglicht er aber vor allem all jenen, die Mehring neu für sich entdecken einen perfekten Einstieg. Denn er hat all das weit verstreute Material, das es über Mehring in Nachworten, Rezensionen, Interviews, Briefen, Erinnerungen und vielen anderen Arten gibt, erstmals richtig gebündelt. Dabei schafft er es, sich nicht zu verzetteln, sondern einem stringenten Erzählweg zu folgen.

Der besteht vor allem aus der Analyse aller Werke Mehrings in chronologischer Reihenfolge. Dabei betrachtet er auch die Bücher und Texte, die bislang etwas stiefmütterlich behandelt wurden. Das gilt vor allem für die Prosa Mehrings, da die Dramen in den vergangenen Jahren – auch von Georg-Michael Schulz – verstärkt interpretiert wurden. Von der Lyrik ganz zu schweigen, die schon immer am stärksten rezensiert und wissenschaftlich analysiert worden war.

Neben der Fülle an Verweisen und Informationen besticht vor allem die offensichtliche Sympathie Schulz‘ für Mehring. Dessen ausgefeilte Sprachakrobatik, dessen nahezu unerschöpfliche Fülle an formaler Varianz und dessen unglaubliche Bildung nötigen Schulz nicht nur Respekt ab – bei begeistern ihn offenbar. Für die Biografie ist das gut, denn der Leser wird so trotz der vielen Fakten immer wieder mitgerissen, um das ganze Buch zu lesen und nicht nur die Passage, für die er sich gerade interessiert. Dabei wird Schulz aber nicht zu einem bedingungslosen Mehring-Jünger. Er wahrt die nötige Distanz, um das Werk und das Leben Mehrings fundiert einordnen zu können. Dazu gehört auch, dass er Mehring in seiner Zeit und und in seiner Zerrissenheit, vor allem im Alter gerecht wird. Ein 70 Jahre alter Mann könne nicht mehr wir ein 30-Jähriger schreiben, meint Schulz einmal – und nimmt Mehring damit ikn jedem Lebensalter sehr ernst.

Das einzige, was dem Buch fehlt, ist eine Einordnung des Ehemanns Walter Mehring. Über die Ehe mit Marie-Paule, geborene Tessier, schreibt Schulz wenig. Dabei wird nicht klar, ob es über diese ziemlich unbekannte Phase wirklich keine Quellen gibt, oder ob es dazu im Nachlass von Marie-Paule Mehring, doch noch einiges zu finden wäre. Aber dies ist wirklich nur ein Nebenaspekt, der den Verdienst der ersten Mehring-Biografie keinesfalls schmälern soll.

P.S. Im Vorwort nimmt Georg-Michael Schulz auch Bezug auf den Blog walter-mehring.info. Da er von mir ist, hat mich das natürlich sehr gefreut.

Georg-Michael Schulz: Walter Mehring; Werhan Verlag: 19,80 Euro.

Christoph Ransmayr kartografiert die Ängste eines Mannes

Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes
Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes

70 kurze Erzählungen hat Christoph Ransmayr in seinem neuen Buch versammelt. Alle beginnen mit „Ich sah“. Alle schildern Begebenheiten, die Ransmayr selbst erlebt hat. Bis auf eine. Sie beruht auf einem Erlebnis seiner langjährigen Partnerin, die sie als Kind erlebte. Aber auch sie hat mit ihm zu tun. Mit seiner Wahrnehmung einer bestimmten Ecke Österreichs am Inn. Und mit Ängsten.

„Atlas eines ängstlichen Mannes“ heißt das Buch, das sehr persönlich ist. Lediglich in einigen dünnen Bänden seiner Reihe „Spielformen des Erzählens“ gibt er so viel von sich preis, wie in diesem außergewöhnlichem Band. Die Ereignisse, die Ransmayr zu Parabeln über die Angst, die Hoffnung und vor allem über die besonderen Augenblicke des Lebens verdichtet, spielen in der ganzen Welt. Ransmayer sah auf den Osterinseln und in Tibet, in der österreichischen Heimat und in Sibirien, in Peru und in China und in vielen anderen Weltgegenden. Wann er sah und beschrieb, ist nicht so wichtig. Ransmayer hebt die Begebenheiten in eine dichterische Gegenwart, die sich oft nicht real zeitlich festmachen lässt. Fast so, wie in seinem zweiten Roman „Die letzte Welt„, der zwar in der römischen Antike spielt, aber dennoch Kinovorführer und andere Dinge der Gegenwart kennt.

Der „Atlas eines ängstlichen Mannes“ ist keine klassische Reise-Literatur. Auch wenn die Geschichten auf Reisen ihren Ausgangspunkt nehmen. Wenn überhaupt ist es Buch über die Lebensreise von Christoph Ransmayr, das verdeutlicht, wie das Beobachten, das Sehen das Leben bestimmt, wenn man seine Umgebung wahrnimmt. Ransmayr schildert keine Höchstleistungen, auch wenn er zum Beispiel 1500 Kilometer durch Tibet und China wanderte. Er schildert zwar auch extreme Situationen, etwa den Beschuss durch einen Kampfjet in Peru. Aber all das sind nur Momente, in denen er beobachtet, was das Leben mit ihm und den Menschen, der Natur macht. Und dieses „nur“ ist so packend, dass die Geschichten trotz des immer gleichen Anfangs einen ungeheuren Sog entwickeln, weil sie den Leser teilhaben lassen. Und das im Wortsinne. „Atlas eines ängstlichen Mannes“ ist ein großes Buch, wieder in einer neuen erzählerischen Form – wie alle Bücher von Christoph Ransmayr.

Mehr von Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Unsichtbare
Die Wolfsjäger

Eveline Hasler erinnert an den großen Fluchthelfer Varian Fry

Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff
Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff

Varian Fry war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. In Zeit größter Not setzte er sich großer Gefahr aus, um Menschen zu retten. Schriftsteller, Maler, Wissenschaftler, die vor den Nazis nach Frankreich geflohen waren und 1940/41 versuchten über Marseille den Sprung ins sichere Amerika zu schaffen. Varian Fry kam ist nach Marseille gekommen und hat mit legalen Mitteln Visa für die USA beschafft- und mit illegalen Mitteln Pässe und Ausreisegenehmigungen für seine Schützlinge. Zu ihnen gehörten Heinrich Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Hannah Arendt, Walter Mehring oder Max Ernst. Am Ende waren es mehr als 2000 Menschen.

Diesem Varian Fry, amerikanischer Journalist und später auch Lehrer, setzt die Schweizerin Eveline Hasler mit ihren neuen Roman „Mit dem letzten Schiff – Der gefährliche Auftrag von Varian Fry“ ein kleines Denkmal. Das ist richtig und gut, auch wenn sich Hasler nicht ganz entscheiden kann, ob sie einen Roman oder doch eher eine biographische Skizze schreiben will. Der Verlag Nagel & Kimche nennt dies dokumentarischen Roman. Das stimmt insofern, als dass sie sich aus der Fülle des vorhandenen Materials über das Emergency Rescue Committee bedient, um ein sehr glaubwürdiges Buch zu schreiben. Aber der Roman kommt dabei dann doch etwas kurz.

Das ist aber nicht unbedingt schlimm. Vor allem für all jene, die noch nichts über Varian Fry oder gar dessen autobiografischen Bericht „Auslieferung auf Verlangen“ gelesen haben. Für sie ist Haslers Buch ein packender Text über Mut, Verzweiflung, Grausamkeit und die Kraft der Hoffnung und der rettenden Tat in einer eigentlich ausweglosen Situation. Ihnen öffnet sie einen neuen Blick auf den menschenverachtenden Irrsinn des Nationalsozialismus und die Kollaboration französischer Behörden, die in ihren Lagern die Deportation derer vorbereiteten und organisierten, denen es gelungen war, zwischen 1933 und 1940 Deutschland in Richtung Freiheit in Frankreich zu verlassen.

Aber für all jene, denen all dies bekannt ist, denen die Schicksale Varian Frys und seiner Schützlinge bekannt sind, erzählt sie nichts Neues. Und da, wo die Form des Romans die Kraft hätte, auszuschmücken, sich in das Denken und Fühlen der Betroffenen zu versetzen, also mit Phantasie und literarischer Kraft etwas Neues zu Formen, da bleibt Eveline Hasler seltsam bedeckt. Anders als Sabine Friedrich in ihrem großen Roman über den deutschen Widerstand – „Wer wir sind“. Das ist schade. Aber angesichts des wichtigen und an sich schon sehr dramatischen Stoffes, nicht so schlimm, dass es Leser vom Griff nach diesem Roman abhalten sollte.

Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff – Der gefährliche Auftrag von Varian Fry. Nagel & Kimche

Herrn Kukas Empfehlungen für gute Tage in Wien

Radek Knapp: Herrn Kukas Empfehlungen
Radek Knapp: Herrn Kukas Empfehlungen

Waldemar. Der Pole heißt Waldemar und kommt aus Warschau, um nach Wien aufzubrechen. Ganz schön viele Ws wollen da auf wunderbarliche Weise Witz und Wahrhaftigkeit weismachen. „Herrn Kukas Empfehlungen“ von Radek Knapp trägt manchmal schon ein weinig dick auf. Dann drückt der Roman auf das Gemüt wie ein Kaiserschmarrn, der in zu viel Butterschmalz zu lange ausgebacken wurde, auf den Magen.

Und dennoch ist die Geschichte von Waldemars ersten vier Wochen in Wien ein amüsantes Buch. Denn Radek Knapp, der vor fast 30 Jahren selbst aus der Hauptstadt Polens in die Österreichs aufbrach, spielt wunderbar mit den Klischees die Polen vom Westen, Österreicher und Deutsche von Polen und alle zusammen von sich selbst haben. Nur manchmal trägt er zu dick auf. Aber das ist dann zwei Seiten später schon wieder vergessen, weil dann ein schöner neuer Einfall ein Schmunzeln erzeugt.

Waldemar steht in der Tradition vieler Schelmen, die ganz naiv in die Welt stolpern und den Lesern so zu amüsanter Erkenntnis verhelfen. Nach 250 Seiten ist er erwachsen geworden – mit allem was dazu gehört: der erste Sex, die erste Liebe, der erste Job – und das alles fern der Heimat. Dass der Roman schon 1999 erschienen ist, stört nicht. Die Geschichte ist heute genauso wahrscheinlich wie damals – mit samt dem Inventar Wiens. Kein Wunder, dass das Buch vor fünf Jahren auch verfilmt wurde. Wer Polen, Wien, Österreich und oder Schelmenromane mag, der wird seinen Spaß mit Radek Knapps „Herrn Kukas Empfehlungen“ haben.

Radek Knapp: Herrn Kukas Empfehlungen; Piper

Der Trafikant ist das beste Buch von Robert Seethaler

Robert Seethaler: Der Trafikant
Robert Seethaler: Der Trafikant

Die Phase, in der aus Buben in der Provinz junge Männer werden, hat es Robert Seethaler angetan. In „Die weiteren Aussichten“ erzählte er von Herbert Szevko, der mit seiner resoluten Mutter eine Tankstelle am Rande der Landstraße führt – und der aus dieser Enge ausbricht. Getragen von der Liebe in eine junge ungestüme Frau. In „Jetzt wird’s ernst“ bricht ein Junge aus der Enge des väterlichen Friseursalons in die faszinierende Welt des Theaters auf; natürlich auch aus Liebe. Und in seinem neuen Roman „Der Trafikant“ geht es um Franz aus dem Salzkammergut, der aus dem Fischerhäuschen am Rande des Sees von seiner Mutter nach Wien geschickt wird, um bei einem Trafikanten zu lernen.

Im Laden dieses Zeitungs- und Tabakhändlers entdeckt er die Welt durch die bedruckten Seiten. Die ist in den Jahren 1937 und 1938 alles andere als ruhig. Wien taumelt dem Ende der Unabhängigkeit entgegen. Der „Anschluss“ kommt, Nazis übernehmen die Macht, beschmieren den Trafik. Die Gestapo verhaftet den Chef und ermordet ihn schließlich.

Franz nimmt das alles wahr, aber ihn treibt die Liebe zu einer Cabaret-Tänzerin, die ihn verführt, verlässt und sich dann auf einen Nazi einlässt. Halt findet der junge Held in diesen verwirrenden und sich so radikal verändernden inneren und äußeren Umständen bei Sigmund Freud. Der kauft in dem Trafik seine Zigarren. Dem Franz gelingt es, mehrfach mit Freud zu sprechen und letztlich zu erleben, wie er sein Wien am Westbahnhof verlässt, um ins Exil zu gehen.

Robert Seethaler formt aus der Mannwerdung einen Roman voller Humor und Tragik, der dennoch nie lächerlich wird. Angesichts der Zeit, in der der Roman spielt und Sigmund Freunds ist das allein schon eine große Leistung. Wie Seethaler Freuds Traumdeutung, den Niedergang Österreichs und den naiven Blick von Franz mit dem weisen Freuds kombiniert, das ist große Literatur. Von Buch zu Buch wird Seethaler ernsthafter, ohne dabei seine Leichtigkeit zu verlieren. „Der Trafikant“ ist sein bestes Buch. Bisher.

Robert Seethaler: Der Trafikant; Kein & Aber

Teresa Präauer hat einen ganz eigenen Rhythmus in der Jurte

Thersa Präauer in der Jurthe
Thersa Präauer in der Jurthe

Teresa Präauer liest ganz betont. Jedes Wort bekommt genau das Gewicht, das sie ihm beim Schreiben geben wollte. Das verwirrt am Beginn ihrer Lesung in der Jurte am Potsdamer Platz. Doch schon nach kurzer Zeit entsteht ein ganz eigener Sound, der aus dem Roman fast ein Prosa-Gedicht formt.

„Für den Herrscher aus Übersee“ erzählt von einer Liebesgeschichte eines österreichischen Fliegers und einer japanischen Fliegerin. Ganz fremd sind sie sich, als sie sich nach einem Absturz kennenlernen. Seine Enkel wollen diese Geschichte hören, für die die Großmutter kein Verständnis hat. So wenig wie für die Biere, mit denen er die Erinnerung an seine große Liebe wegspült. Was anfangs naiv klingt, bekommt eine erstaunliche Tiefe – oder besser Höhe, denn die hat Teresa Präauer im Blick, wenn sie schreibt.

Dieses von oben Wahrnehmen, um Strukturen zu erkennen, die sich dann beim Annähern auflösen, fasziniert sie. In ihrer Lesung am Potsdamer Platz bei den Geschichten in Jurten gelingt es ihr trotz der Enge das zu vermitteln. Obwohl sie selbst nach fast elf Stunden im Zug gerade rechtzeitig ankam. Der Schnee in Wien hatte den Flug verhindert. Doch dann sitzt Teresa Präauer in einer Jurte, die mollig warm ist, und dem Winter trotzt. Das ist ein bisschen wie der Stoff ihres Buches, in dem sich das Besondere in einer warmen, schönen Erinnerung bündelt, um die Kälte und die Wirrnisse des Lebens und Liebens im Besonderen zu konservieren.

Teresa Präauer: Für den Herrscher aus Übersee, Wallstein Verlag

Wer wir sind (8) – Wut und Trauer über das Scheitern

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Die letzten 250 Seiten von „Wer wir sind“ gehen an die Nieren. Sabine Friedrich gelingt es, den Leser emotional so zu packen, dass Wut, Trauer, Verzweiflung aufsteigen. Diese Wut beim Lesen der Passagen über die Verhandlungen des Volksgerichtshofs. Diese Wut über Roland Freissler, dessen Vorsitzenden, der es nicht einmal zugelassen hat, dass sich die Angeklagten verteidigen können. Oder die Wut über Hanns Martin Schleyer, den Sabine Friedrich exemplarisch für all diejenigen auftreten lässt, die sich am Unrecht der Nazis bereicherten. Auf den Seiten 1828 und 1829 schildert sie ganz kurz, wie sich der spätere Arbeitgeberchef eine Villa in Prag unter den Nagel riss, weil die vorherigen Bewohner, die sich selbst schon bereichert hatten, wegen ihres aufrechten Sohnes in Ungnade gefallen waren.

Oder die Verzweiflung, weil Dietrich Bonhoeffer es nicht wagt aus dem Gefängnis zu fliehen, weil inzwischen auch sein Bruder verhaftet wurde – und er nicht will, dass sich an ihm gerächt wird. Die Verzweiflung über die Ignoranz, mit der den Überlebenden des Attentats in der Bundesrepublik begegnet wurde. Und die Trauer über all die Toten, die sich durchgerungen hatten, endlich etwas gegen die braunen Mörder zu unternehmen – und die dafür mit dem Leben bezahlten. Das Mitgefühl mit den Hinterbliebenen, die im untergehenden Dritten Reich, im Bombenhagel und im besetzten Schlesien einen Weg fürs eigenen Überleben suchten.

All das schildert Sabine Friedrich ruhig. Diese Ruhe fesselt den Leser emotional. Den Schicksalen kann man sich nicht entziehen. Friedrich dramatisiert nicht. Dieser Versuchung angesichts des dramatischen Stoffes, den sie sich ausgesucht hat, erliegt sie nicht. Genau darin liegt die Qualität des Romans. Und darin, dass sie all diese Menschen nicht nur ins Gedächtnis zurückholt, sondern sie auch Mensch sein lässt. Mit Stärken und Schwächen. Nicht unanfechtbare Helden, sondern Männer und Frauen mit Sorgen um die Kinder, Freude über ein gutes Essen oder einen besonderen Wein und Befriedigung angesichts gelungener Arbeit.

„Wer wir sind“ ist ein großer, doppeldeutiger Titel. Sabine Friedrich wird ihm gerecht. Der Leser weiß nach 2000 Seiten, wer die Menschen waren, die sich gegen Hitler und den Nationalsozialismus stellten. Er weiß, warum viele so lange dafür brauchten und andere von Anfang an dagegen waren. Aber auch die zweite Ebene, auf wen wir uns im Erinnern beziehen sollten, wird klar. Die Zeit, die das Lesen dieser 2000 Seiten kostet, ist keine vertane Zeit. Sie ist ein Gewinn. Und spätestens, wenn dieses Buch verfilmt wird, wird man den Menschen und ihrem Mut wieder begegnen. Erinnern wird man sich aber immer wieder. Beim Gang durch Berlin, wenn man die Orte passiert, in denen sie lebten und litten und starben.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
7 Das Attentat
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus

Julian Barnes erlaubt uns „Unbefugtes Betreten“

Julian Barnes: Unbefugtes Betreten
Julian Barnes: Unbefugtes Betreten

Keines seiner Bücher hat mich bisher enttäuscht. Inzwischen sind es schon fast 30 Jahre, in denen ich mich auf jede Neuerscheinung von Julian Barnes freue. „Unbefugtes Betreten“ ist ein weiterer Band mit Erzählungen rund um das Leben und das Scheitern als Paar. Ein Stoff also, zudem eigentlich alles geschrieben sein sollte. Und doch ist der spezielle Blick und der leichte, nur etwas ironische Ton von Julian Barnes auch diesmal wieder neu und unverbraucht.

Jede der 14 Geschichten ist kurzweilig. Jede ist in einem anderen Ton geschrieben. Jede befasst sich mit Menschen anderen Alters. Bis auf die vier Folgen von „Bei Phil & Joanna“, die fast ausschließlich Dialoge einer Gruppe von Pärchen sind, die sich regelmäßig bei den beiden zum Essen und Trinken treffen. Da geht es dann dank des Alkohols auch schon mal deftiger zu. Etwa wenn es um die Frage geht, ob man als Paar nach einem solchen Abend zuhause gleich einschläft oder doch noch miteinander schläft?

Ansonsten ist Julian Barnes in den Erzählungen auch auf der Suche danach, wie man nach dem Verlust eines geliebten Menschen weiterleben kann. Dazu geht er in die Geschichte zurück, wenn er die erste Ehe Garibaldis beobachtet oder eine Arzt-Patientin-Geschichte aus dem Wien des späten 18. Jahrhunderts. Er ist aber auch ganz nah im jetzt, wenn er in Pulse (so auch der Titel im englischen Original des Buches) die gescheiterte Beziehung eines Ich-Erzählers der sich im Tod der Mutter vollendenden dessen Eltern gegenüberstellt. All das ist zart und wahr und doch auch leicht und humorvoll. Dass das Buch mit dieser Geschichte endet ist auch kein Zufall. Denn der Band ist durchkomponiert. Teils echte, meist aber Bezüge der Stimmung und des Tonfalls bauen aufeinander auf und finden ihren erzählerischen Höhepunkt in Pulse.

Wer wir sind (7) – Das Attentat

Sabine Friedrich: Wer wird sind
Sabine Friedrich: Wer wird sind

Es ist schon seltsam, wie ein Stoff, den man kennt, so in den Bann ziehen kann. Selbst um das Ende weiß eigentlich jeder. Und doch entwickelt Sabine Friedrich gerade auf den Seiten 1500 bis 1750 von „Wer wir sind“ Spannung. Der Roman nimmt Tempo auf – und das liegt eben nicht an einer anderen Art zu schreiben, sondern an der Art und Weise, wie Friedrich die Ereignisse collagiert.

Auf der einen Seite sind da die Debatten und Manifeste etwa von Carlo von Mierendorff und seiner Sozialistischen Aktion, die als Texte auch Diskussionsgrundlage beim Kreisauer Treffen an Pfingsten 1943 eine große Rolle spielen. Und damit auch die Geschichte der Moltkes, die durch die Verhaftung Helmuths am 19. Januar 1944 eine neue Dramatik bekommt. Und einen fast schon tragikomischen Aspekt: Nicht die Verschwörungspläne lassen die Gestapo anrücken, sondern eine einfache Warnung vor Verhaftung an einen Freund.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Büste von Frank Mehnert; Foto: Wikipedia.de)
Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Büste von Frank Mehnert; Foto: Wikipedia.de)

Zentrales Thema der Seiten 1500 bis 1750 ist das Attentat vom 20. Juli. Ab Seite 1525 bekommt Claus Schenk von Stauffenberg viel Platz. Eingeführt wurde er schon relativ bald, als es um den George-Kreis des Dichters Stefan George ging. Doch jetzt steht der Offizier Stauffenberg im Mittelpunkt. Mit ihm als Figur des Romans gewinnt die Debatte und dann die Planung der Beseitigung Hitlers Gewicht. Julius Leber, die Stauffenberg-Brüder und auch Peter Yorck von Wartenberg sind ab einem bestimmten Zeitpunkt dafür. Helmuth von Moltke lehnt es ab. Doch nach seiner Verhaftung kann er sich an der Diskussion darüber nicht mehr beteiligen.

Gegen Ende dieser 250 Seiten scheitert das Attentat, die Verhaftungen beginnen. Sabine Friedrich hat mit dem Juli 1944 einen Höhepunkt, den die Geschichte vorgibt. Es gelingt ihr, diesen auch literarisch zu bilden. Mit aller Dramatik, die angesichts der zuvor gescheiterten Pläne stets zunimmt. Und mit großen Einfühlungsvermögen in jene, die bereit waren, ihr Leben für die Befreiung vom Diktator zu geben.

Mehr zu “Wer wir sind”:
1 Ein verblüffend leichter Einstieg
2 Das Gewebe der Roten Kapelle
3 Das Ende der Roten Kapelle
4 Wie die Rote Kapelle und der Kreisauer Kreis verbunden sind
5 Der Weg nach Kreisau
6 Zwischen Kreisauer Idylle und Morden in Russland
8 Wut und Trauer über das Scheitern
Sabine Friedrich überzeugt im Berliner Literaturhaus