Saša Stanišić schaut in „Fallensteller“ auch wieder nach Fürstenfelde

Sasa Stanisic: Fallensteller„Fallensteller“ heißt das aktuelle Buch von Saša Stanišić. Es enthält eine Reihe von Erzählungen. Nach dem großen Roman „Vor dem Fest“ hat der Autor sich jetzt für die kürzere Form entschieden. Auf den ersten Blick wirkt das nicht wirklich überzeugend, weil einige Erzählungen im Band mit Folgeerzählungen fortgesetzt werden. Und weil die Erzählung „Fallensteller“ eine Art Fortsetzung des preisgekrönten Romans ist. Da könnte leicht der Eindruck entstehen, Stanišić habe es nicht geschafft, die entsprechenden Stoffe zu ganzen Romanen zu bündeln. Doch trotzdem ist das Buch ein Gewinn für alle begeisterten Leser. Denn seine Sprache ist ein Fest.

Saša Stanišić hat inzwischen einen ganz eigenen Ton entwickelt, der unsere vermeintliche Realität mit Mythen, alten Geschichten, Sagen, Träumen und anderen Erfindungen oder Erklärungsmustern der Welt durch unseren Geist und unsere Seele verbindet. Bei ihm ist immer mehr in der Sprache als reine Beobachtung oder Beschreibung dessen, was als Realität bezeichnet wird. Er legt nicht nur weitere Schichten dessen frei, was uns auch noch ausmacht. Saša Stanišić schafft es mit seinen Sätzen auch eine etwas andere Wirklichkeit zu imaginieren. Er befreit uns beim Lesen als auch aus der Vorstellungswelt des nur Möglichen.

Stanišić nimmt seine Leser wieder mit nach Fürstenfelde in der Uckermark, diesen imaginierten Ort, der dennoch in unserer Welt als Fürstenwerder real, aber anders existiert. Wir begegnen dem Personal aus „Vor dem Fest“ wieder. Und einer mysteriösen Figur, die den Ort durcheinander bringt, dem Fallensteller. Der gibt vor mit Fallen Probleme lösen zu können. Er sieht aus wie ein aus der Zeit gefallener Mann in altmodischen Klamotten. Und er spricht auch wie eine Figur aus einem mindestens 200 Jahre alten Roman in Versform. Denn alle seine Antworten sind kleine gereimte Gedichte. Der Fallensteller wirkt fast wie ein Schatten des Autors, der sich über den Ort gelegt hat. Der mit seinem Roman das echte Fürstenwerder bekannt gemacht und auch verändert hat. Dass Saša Stanišić diese Veränderung nicht als Reportage, sondern als echte Literatur reflektiert, lohnt allein die Anschaffung des Bandes. Mit mehr als 100 Seiten macht die Erzählung auch den größten Teil des Buches aus.

Aber Stanišić verarbeitet nicht nur seinen eigenen literarischen Erfolg. Seine anderen Figuren sind ein alter Sägewerkarbeiter, der sich als Zauberer versuchen will. Oder ein Paar, das sich teils als Hochstapler, teils als Kunstdiebe durch Köln, Stockholm und Lappland schlägt. Und da ist der Geschäftsreisende, der Dank einer Verwechslung in Brasilien nicht zu seinem Termin gebracht wird, sondern in die Natur eintauchen kann. Allen gemeinsam ist, dass sie der Normalität entfliehen. Die einen wollen es, den anderen geschieht es, bis sie sich so darauf einlassen, dass sie erkennen, dass die Welt mehr ist als die uns so vertraute Normalität.

Sabine Rennefanz sucht das Dunkle in der Familiengeschichte

Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner MutterSabine Rennefanz wurde 1974 in Beeskow geboren. Aufgewachsen ist sie in Eisenhüttenstadt. In ihrem Buch „Eisenkinder“ hat sie davon schon viel erzählt. In ihrem neuen Buch „Die Mutter meiner Mutter“ spielt die Heimat der jetzigen Berlinerin in Ostbrandenburg erneut eine ganz wichtige Rolle. Links der Oder kommt ihre Großmutter Anna mit Stiefmutter und zwei Brüdern in einem Dorf nach der Vertreibung aus dem jetzigen Westpolen an, um nach dem Krieg ein neues Leben zu beginnen.

Wie schwierig dieses Leben für Anna tatsächlich war, ahnt Sabine Rennefanz ganz lange nicht. In ihrem autobiografischen Text nähert sie sich ihrer Familie an, ergründet, weshalb Anna immer so abweisend war. Weshalb sie Berührungen und Herzlichkeit vermied und immer so anders war, als die Großmütter ihrer Freunde. Sie sucht nach den Gründen, weshalb auch ihre Mutter und deren Schwestern seelische Narben haben, die auch ihnen das Leben erschweren. Der Text, der dabei entsteht, liest sich wie ein Roman, ist aber ein Blick in die historische Wahrheit und die Gedanken- und Seelenwelt von Sabine Rennefanz.

Großmutter Anna arbeitet in dem ostbrandenburgischen Dorf als Magd auf dem Hof eines kinderlosen Ehepaars als Magd. Bald schon ist sie mehr als nur eine Bedienstete. Die Wendlers schließen sie ins Herz, werden eine Art Ersatzeltern. 1949 kommt Friedrich aus russischer Gefangenschaft zurück. Er gehört auch ins Umfeld der Wendlers, hat am Ende des Krieges seine Frau verloren. An einem Schlachttag vergewaltigt er Anna, die sich daraufhin umbringen will. Die Wendlers bringen Friedrich dazu, Anna zu heiraten. Mit ihm bekommt sie noch zwei weitere Kinder. Aber sie schläft immer in einem anderen Zimmer und zieht sich immer weiter zurück. Selbst auf die Straße in dem kleinen Dorf geht sie kaum.

So einfach, so brutal ist die eigentliche Geschichte. Aber die kennen die Kinder und Enkel gar nicht. Denn sie wird verschwiegen. Sie kennen Friedrich nur als liebevollen Vater und Großvater. Erst nach seinem Tod im November 1989 kommt die Geschichte heraus, weil sich die einzige damalige Freundin, der sich Anna damals anvertraut hatte, gegenüber Sabine Rennefanz Mutter verplappert. In der Folge beginnt sich die Autorin immer wieder mit dem schwarzen Fleck in der Familiengeschichte zu beschäftigen. Ihre Gedanken kreisen um das Thema, bis sie sich zum vorliegenden Text formen. Dabei wird aus der eigenen Familiengeschichte dann doch eine Art Roman, der immer wieder an Oskar Maria Grafs „Aus dem Leben meiner Mutter“ erinnert. Denn Rennefanz bindet das Geschehen auch in die Geschichte ein. Die Vergewaltigung geschieht zeitgleich mit der Gründung der DDR. Der Vergewaltiger stirbt, als die DDR im November 1989 untergeht. Als die Bürger der DDR die Lügen der Autoritäten nicht mehr ertragen, endet die Autorität des Vaters.

Es macht die besondere Qualität des Buches von Sabine Rennefanz aus, dass solche Parallelitäten nicht aufgesetzt wirken, sondern schlüssig sind. Denn wesentlicher Teil der Dorf- und Familiengeschichte ist es ja auch, dass Wahrheiten generell nicht ausgesprochen wurden. Und wenn doch, dann haben sie negative Konsequenzen. Wie für Mutter Monika, die sich in der Schule positiv zum Prager Frühling äußert und dafür beim Fahnenappell vorgeführt und gedemütigt wird. Und so erzählt Sabine Rennefanz de facto eine furchtbare Heimatgeschichte, sich über Generationen auswirkt und die Seelen mehrerer Generationen belastet und krank macht.

Vor dem Fest mit Saša Stanišić in der Uckermark

Saša Stanišić: Vor dem Fest
Saša Stanišić: Vor dem Fest

Ein Roman, der in der Uckermark spielt, sorgt derzeit für Furore. Mit dem Leipziger Buchpreis  ausgezeichnet ist  „Vor dem Fest“ von Saša Stanišić ein außergewöhnliches, sprachverliebtes und liebevoll komisches Buch. Auch, wenn es kein originärer über die Uckermark ist.

Es spielt ja  in der Uckermark. Das Fürstenfelde des Romans hat sehr starke Ähnlichkeiten mit Fürstenwerder in der Nordwest-Uckermark. Das Dorfarchiv des Romans, in das in der Nacht vor dem Fest eingebrochen wird, ist  eindeutig der „Uckermärkischen Heimatsstube“ in Fürstenwerder nachempfunden. Auch die Lage des Ortes – zwischen zwei Seen gelegen – entspricht der Wirklichkeit. Aber eigentlich ist die Uckermark für das Buch nicht wichtig. Der Roman könnte in jeder ländlichen Region Deutschlands spielen, die vom urbanen Fortschritt abgekoppelt wurde.

Saša Stanišić entwirft ein ganzes barockes Welttheater in diesem halb fiktiven Fürstenfelde. Das Dorf mit seinem jährlichen Höhepunkt, dem Annafest, wird zum Spiegel dafür, was das Leben und Zusammenleben in einem Dorf ausmacht. Die eineinhalb Tage, die er auf dem Weg zum Fest beschreibt, versammeln das Personal vom angehenden Glöckner, der Atheist ist, über die Heimatarchivarin, die jede Erwähnung des Ortes in früheren Jahrhunderten wie einen Schatz hütet (und bei der man nie ganz sicher ist, ob sie diese Quellen im streng gesicherten Archivkeller nicht selbst fälscht), den ehemaligen NVA-Offizier, der seine Rente mit Schwarzarbeit aufbessert oder die eineinhalb Neonazis, die den richtigen Moment zur rassistischen Aktion verdödeln. Alle Charaktere nimmt Stanišić ernst. Er hört ihnen  zu und gibt ihnen eine Stimme. Vor allem aber hört er ganz genau, was nicht erzählt wird. In einem Dorf ist das ja oft das wichtigste.

Das zu lesen ist ein großes Vergnügen. Es ist nicht ganz leicht, weil der Text komplex auf mehreren Abenen arbeitet. Da gibt es den Fuchs, der uns immer wieder begleitet und die Rolle hat,  das Dorf von außen für uns wahrzunehmen. Dann gibt es etliche Rückblenden in die Geschichte, die in der Sprache des 15. oder 16. Jahrhunderts geschrieben sind. Und dann beschreibt uns das kollektive Ich des Dorfes das Personal von heute. Alle Ebenen greifen ineinander und erzeugen so ein Bild von dem, was im Dorf schon immer war. Mythos und Realität vermischen sich so zu einem dichten Bild der Dorfgemeinschaft über Generationen, über Jahrhunderte hinweg. Auch die DDR, zu der die Uckermark vier Jahrzehnte gehörte, ist Teil dieses Kontinuums. Aber sie ist nicht dominant. Saša Stanišić nutzt sie vielmehr, um dem Dorf mehr Glaubwürdigkeit und auch mehr Witz zu geben.  Das alles ist wunderbar geschrieben, voller Humor und Liebe zu den Leuten und den Details.