Sabine Rennefanz sucht das Dunkle in der Familiengeschichte

Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner MutterSabine Rennefanz wurde 1974 in Beeskow geboren. Aufgewachsen ist sie in Eisenhüttenstadt. In ihrem Buch „Eisenkinder“ hat sie davon schon viel erzählt. In ihrem neuen Buch „Die Mutter meiner Mutter“ spielt die Heimat der jetzigen Berlinerin in Ostbrandenburg erneut eine ganz wichtige Rolle. Links der Oder kommt ihre Großmutter Anna mit Stiefmutter und zwei Brüdern in einem Dorf nach der Vertreibung aus dem jetzigen Westpolen an, um nach dem Krieg ein neues Leben zu beginnen.

Wie schwierig dieses Leben für Anna tatsächlich war, ahnt Sabine Rennefanz ganz lange nicht. In ihrem autobiografischen Text nähert sie sich ihrer Familie an, ergründet, weshalb Anna immer so abweisend war. Weshalb sie Berührungen und Herzlichkeit vermied und immer so anders war, als die Großmütter ihrer Freunde. Sie sucht nach den Gründen, weshalb auch ihre Mutter und deren Schwestern seelische Narben haben, die auch ihnen das Leben erschweren. Der Text, der dabei entsteht, liest sich wie ein Roman, ist aber ein Blick in die historische Wahrheit und die Gedanken- und Seelenwelt von Sabine Rennefanz.

Großmutter Anna arbeitet in dem ostbrandenburgischen Dorf als Magd auf dem Hof eines kinderlosen Ehepaars als Magd. Bald schon ist sie mehr als nur eine Bedienstete. Die Wendlers schließen sie ins Herz, werden eine Art Ersatzeltern. 1949 kommt Friedrich aus russischer Gefangenschaft zurück. Er gehört auch ins Umfeld der Wendlers, hat am Ende des Krieges seine Frau verloren. An einem Schlachttag vergewaltigt er Anna, die sich daraufhin umbringen will. Die Wendlers bringen Friedrich dazu, Anna zu heiraten. Mit ihm bekommt sie noch zwei weitere Kinder. Aber sie schläft immer in einem anderen Zimmer und zieht sich immer weiter zurück. Selbst auf die Straße in dem kleinen Dorf geht sie kaum.

So einfach, so brutal ist die eigentliche Geschichte. Aber die kennen die Kinder und Enkel gar nicht. Denn sie wird verschwiegen. Sie kennen Friedrich nur als liebevollen Vater und Großvater. Erst nach seinem Tod im November 1989 kommt die Geschichte heraus, weil sich die einzige damalige Freundin, der sich Anna damals anvertraut hatte, gegenüber Sabine Rennefanz Mutter verplappert. In der Folge beginnt sich die Autorin immer wieder mit dem schwarzen Fleck in der Familiengeschichte zu beschäftigen. Ihre Gedanken kreisen um das Thema, bis sie sich zum vorliegenden Text formen. Dabei wird aus der eigenen Familiengeschichte dann doch eine Art Roman, der immer wieder an Oskar Maria Grafs „Aus dem Leben meiner Mutter“ erinnert. Denn Rennefanz bindet das Geschehen auch in die Geschichte ein. Die Vergewaltigung geschieht zeitgleich mit der Gründung der DDR. Der Vergewaltiger stirbt, als die DDR im November 1989 untergeht. Als die Bürger der DDR die Lügen der Autoritäten nicht mehr ertragen, endet die Autorität des Vaters.

Es macht die besondere Qualität des Buches von Sabine Rennefanz aus, dass solche Parallelitäten nicht aufgesetzt wirken, sondern schlüssig sind. Denn wesentlicher Teil der Dorf- und Familiengeschichte ist es ja auch, dass Wahrheiten generell nicht ausgesprochen wurden. Und wenn doch, dann haben sie negative Konsequenzen. Wie für Mutter Monika, die sich in der Schule positiv zum Prager Frühling äußert und dafür beim Fahnenappell vorgeführt und gedemütigt wird. Und so erzählt Sabine Rennefanz de facto eine furchtbare Heimatgeschichte, sich über Generationen auswirkt und die Seelen mehrerer Generationen belastet und krank macht.

Fundstück im Familienalbum: Großmutter 1929 in Eichwalde

Großmutter im Juni 1929 in Eichwalde
Großmutter im Juni 1929 in Eichwalde

Die Qualität des Bildes ist recht schlecht. Deshalb überblättere ich es in einem alten Familienalbum auch zunächst. Doch dann entdecke ich meine Großmutter (2. v.r.). Ich löse es vorsichtig, so dass die Ecken des Albums nicht ausreißen, in denen das Foto fixiert ist. Und dann: „Eichwalde am 29. Juni 1929“ steht da auf der Rückseite.

Schon wieder eine dieser Verschränkungen von Vergangenheit und Gegenwart. Wieder einer dieser Zufälle, die in einem Roman dafür sorgen, dass alles logisch, alles schlüssig ist. Bezüge zu Berlin gibt es in der Verwandtschaft ja mehr als genug. Aber dass es sogar Bilder meiner Familie aus den 20er Jahren aus dem Eichwalde gibt, in dem ich nun schon zehn Jahre lebe, das ist doch wieder einer dieser Momente, bei denen man denkt: Vielleicht gibt es ja doch einen größeren Plan in all diesem Leben.