Brandenburg ist kulturell gespalten

Ein Kommentar

Die Wahlergebnisse in Brandenburg sind einschneidend. Die AfD triumphiert, die Grünen legen kräftig zu – und die drei Parteien, die im Land seit 1990 regiert haben, verlieren massiv. Und das in einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit auf Rekordtief ist, die Haushaltseinkommen steigen, die Kriminalität sinkt und die Renten im Osten überproportional gestiegen sind.  Aber für solche Erfolge werden Regierungsparteien offenbar nicht mehr belohnt.

Das Ende eines Schulexperiments – Unser erstes Abitur

Das erste Schulexperiment ist abgeschlossen. Der Älteste hat heute seine Abiturnote bekommen. Nach zwölf Jahren Schule hat er die Hochschulreife. Das ist auf jeden Fall ein Grund zur Freude und zum Feiern.

Auch wenn sich nach wie vor die Frage stellt, warum junge Menschen schon mit 17 Abitur machen müssen? Auch wenn wir uns fragen, was die Verkürzung von 13 auf zwölf Jahre Schule gebracht hat? Schlauer ist er nicht. Er weiß bestimmt auch nicht mehr, als wenn er noch ein Jahr länger auf die Schule gegangen wäre. Und ob er reif genug für die Hochschulreife ist, wenn er sich selbst noch nicht einmal an der Uni einschreiben dürfte, ist ebenfalls mehr als fraglich.

Was also hat diese Schulreform tatsächlich gebracht? Der Sohn ist ein Jahr früher fertig. Er wird die Zeit, bis er 18 ist, sicherlich mit einer sinnvollen Beschäftigung überbrücken. Aber ist das der Sinn des Abiturs? Dass man noch ein wenig wartet, bis man selbst entscheiden kann und nicht in Begleitung der Eltern zur Immatrikulation und in die Sprechstunden der Professoren geht? Der Sohn hat mehr Stunden am Tag Unterricht gehabt, als wir damals. Das hat den Druck erhöht und Freiraum zur eigenen Entfaltung geraubt. Außerdem musste er deutlich mehr Stoff lernen. Auswendig lernen. Denn wie soll man auch sonst in weniger Zeit mehr Stoff unterbringen? Das geht nur durch das Abfragen von auswendig Gelerntem. Nicht mit Verstehen, Verständnis oder gar vertieftem Diskutieren. Mit echter Bildung hat das nichts zu tun. Wenn überhaupt, dann nur mit Wissens-Maximierungs-Lernen.

Das heißt nicht, dass der Abiturient jetzt nicht doch stolz sein kann. Er hat es geschafft, sich geschickt durch ein Schulsystem, ein zu Tode reformiertes Schulsystem zu lavieren und genau dafür seine Reife attestiert zu bekommen. Es gab Lehrer, die ihm geholfen haben, Lehrer, die ihn motiviert haben, Lehrer, die ihn ernst genommen haben. Aber es gab auch Lehrer, die Kinder und Jugendliche nicht mögen, Lehrer, die selbst nicht verstanden haben, was Bildung ist (und das an einem Humboldt-Gymnasium) und Lehrer, die vor allem über „Elite“ schwafelten, statt selbst ein guter, aufgeschlossener und den Schülern zugewandter Pädagoge zu sein. All das hat er überstanden. Und darauf kann er stolz sein.

Aber profitiert hat er davon nicht wirklich. Profitiert hat von all den Schulreformen nur einer – der Staat. Das Land Brandenburg hat durch den Wegfall der 13. Klasse im wahrsten Sinne des Wortes gespart. Lehrer hat es eingespart und so Geld gespart. Obwohl SPD und Linke seit Jahren vom Vorrang von Bild sprechen, sieht die Politik tatsächlich anders aus. Wenn Lehrer krank sind, gibt es keine ausreichende Reserve, um Unterrichtsausfall zu verhindern. Stattdessen „Stillarbeit“, die nicht als Ausfall in die Statistik einfließt. Jetzt, wo der Sohn das Abitur hat, werden in der ganzen Republik mit Anzeigen Lehrer geworben. Aber davon hat er nichts. Und ob seine Geschwister etwas davon haben, ist fraglich. Denn alle Bundesländer kämpfen um junge Lehrer. Ob Brandenburg mit seinem bildungspolitischen Sonderweg da mithalten kann? Hier ist das Kurssystem de facto abgeschafft worden. Echte Leistungskurse gibt es nicht mehr. Die Wahlfreiheit bei der Fächerwahl de facto auch. Auch diese Reform hat er überstanden. Zum Glück.

Das liegt vor allem an ihm selbst. Auch wenn das Schulsystem es immer wieder versucht hat, seine Neugier auf Neues konnte es ihm nicht austreiben. Seine Lust am Diskutieren – auch zum Erkenntisgewinn – ebenfalls nicht. Genau das feiern wir heute. Dass mit dem Abitur eine Schulzeit der verpassten -Bildungs-Möglichkeiten beendet wurde. Und dass er das alles unbeschadet und selbstbewußt überstanden hat.

AfD rauf, Linke runter – so wählte Ostbrandenburg

Alle reden nach den Wahlen in Ostbrandenburg von der AfD. Die Anti-Europartei hat aus dem Stand vor allem bei der Europawahl tatsächlich ein erstaunliches Ergebnis erzielt. In Frankfurt holte sie gar mit 12,8 Prozent nach dem schwäbischen Pforzheim das zweitbeste Ergebnis überhaupt in Deutschland. In der Region, in der das Thema Grenzkriminalität den Alltag bestimmt, spielt der Verdruss über die zögerliche Landespolitik bei der Reform der Polizeireform sicherlich eine große Rolle. Viele Ostbrandenburger wollen mehr Polizei. Und sie wollen, dass sie von den etablierten Parteien ernst genommen werden.

Den Eindruck haben sie vor allem bei den Linken offenbar nicht mehr. Sonst ließen sich die dramatischen Verluste bei den Europa- und den Kommunalwahlen für die Linken nicht erklären. Sie stehen in Potsdam in der Verantwortung – und genau dafür werden sie jetzt bestraft, Hinzu kommt, dass viele ältere Linke nicht mehr kandidiert haben. Bei den Jungen ist die Partei aber bei weitem nicht so verwurzelt, wie bei den Alten.

Konkurrenz für die Linken kommt zudem von vielen lokalen Wählergruppen, die sich wie die Gegner der Altanschließergebühren in Bernau oder eine Gruppe junger Familien in Fürstenwalde von der grau gewordenen Partei der Linken nicht mehr vertreten fühlt. Sie haben entweder ganz konkrete Anliegen, gegen die sie protestieren. Und wenn sie protestieren, dann auch immer gegen die Verantwortungsträger der Linken. Oder sie haben neue Ideen und können mit den alten Strukturen von Parteien nichts anfangen.

Genau das könnte auch der Grund sein, weshalb die AfD auf kommunaler Ebene deutlich schlechter abgeschlossen hat als auf europäischer. Hier wirkt sich auch das dürftige Personalangebot massiv aus. Ein Personal, das sich wie mit dem Frankfurter Wilke Möller vorstellen kann, mit der rechtextremen NPD zusammenzuarbeiten.

 

Matthias Platzeck: „Ich wollte aus meiner DDR etwas machen“

Matthias Platzeck hat gestern seinen Rücktritt als Ministerpräsident erklärt. Im Mai 2009 konnte ich ein längeres Interview mit ihm führen. Der Anlass: ein Rückblick auf die Ereignisse 20 Jahre zuvor, als die Bürgerbewegung in Potsdam und in vielen anderen Städten und Orten in der DDR widerständig wurde.

Die friedliche Revolution des Jahres 1989 hat Deutschland, die Öffnung des Eisernen Vorhangs die Welt verändert. Im Interview erinnert sich der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) an die bewegten Zeiten vor 20 Jahren – und erklärt, warum mancher Traum von damals nur ein Traum geblieben ist.

Herr Platzeck, wie war heute vor 20 Jahren Ihre persönliche Perspektive?

Das war eine sehr bewegte Zeit. Die Phase bis zum 4. Juni war mit viel Hoffnung verbunden, weil sich überall was tat. Ich war Anfang Mai in Ungarn. Dorthin bin ich immer wieder zu Freunden geflüchtet, wenn es mir in Potsdam zu dicke wurde. Als ich dort war, verkündete Ungarns Regierung, dass der Schießbefehl an der Grenze abgeschafft wird. Das war so ein Punkt Hoffnung, auch wenn das Land unsere Leute bei der Entdeckung des Fluchtversuches noch an die DDR auslieferte. Auch der 1. Mai war für mich im positiven Sinne ein innerer Vorbeimarsch. Mein ungarischer Freund wollte mit mir zur Demonstration.

Zur jährlichen Mai-Demonstration?

Ich sagte: Ich bin doch extra hier, um da nicht hinzumüssen. Doch er bestand darauf. Wir sind zuerst zu den Kommunisten und haben uns den üblichen Aufmarsch angeschaut. Dann sind wir zu den Grünen, die eine völlig freie Kundgebung machten. Das war für einen DDR-Bürger wie mich nicht vorstellbar. Und dann sind wir auch noch zu den Sozialdemokraten, haben Peter Glotz getroffen, der in Budapest als SPD-Generalsekretär auftrat. Das muss man sich mal vorstellen. In Ungarn `89! Die Polizei stand dazwischen. Aber nicht wie bei uns, um irgendetwas zu unterbinden. Die Polizei regelte nur den Verkehr und sicherte die Umzüge.

Das ist heute schwer vorstellbar, wie außergewöhnlich das für Sie gewesen sein muss.

Wir sind völlig beschwingt zurück nach Potsdam.

Beschwingt? Oder nicht doch voller Angst, weil es in der DDR noch kein Zeichen für eine solche Öffnung gab?

Nein, beschwingt. Es tat sich doch noch mehr. In Polen tagte der Runde Tisch. Ich erinnere mich noch an die kleine Meldung in der Märkischen Volksstimme, in der ganz verschämt am Ende stand, dass nicht nur die PVAP, sondern auch Vertreter von Solidarnosc am Tisch sitzen. Wir von Argus hatten im April nach Potsdam uns bekannte Umweltgruppen aus der DDR eingeladen. Aus 23 Städten kamen Gleichgesinnte, die wir privat unterbrachten und verpflegten. Wir gründeten das erste Mal nichtkirchliche landesweite Verbünde jenseits des legalen Apparats. Ich baute mir dann ein Informationsnetzwerk auf. Das war für uns ein Quantensprung. Das erste Mal haben wir gesehen, dass wir nicht nur in Potsdam Probleme hatten und dagegen versuchten vorzugehen. Was Mut machte, war zu sehen, dass es in anderen Städten Gleichgesinnte mit ähnlichen Zielen gab.

Wie groß war die Angst, dass der Staat, dass die Partei oder die Stasi diese Entwicklung unterdrückt?

Wir hatten keine Angst. Erst später habe ich in den Akten gelesen, dass schon diese Veranstaltung beobachtet wurde. Da stand die Formel: „Feindlich negative Kräfte haben sich am Heiligen See getroffen.“ So haben wir uns selbst gar nicht gesehen. Wir wollten ja nichts zerstören. Wir wollten diese DDR ein Stück offener gestalten, ein Stück besser machen. Wir wollten in dieser DDR zu Hause sein. An Westdeutschland hat von uns damals kaum jemand gedacht. Die meisten von uns gehörten zu den Hier-Bleibern. Es gab zwar auch unter uns spätere Botschaftsbesetzer und Ausreisewillige, aber wie gesagt die meisten wollten nicht weg.

Die Frage nach der Ausreise hat sich Ihnen nie gestellt? Sie waren in Budapest und hätten es doch wagen können.

Einmal hat sie sich mir gestellt. Ich war auch am 10. September in Ungarn. Da schauten wir um 20 Uhr Nachrichten, und mein Freund begann zu übersetzen, was Gyula Horn, der ungarische Außenminister, sagte. Wir glaubten zuerst an einen Übersetzungsfehler, aber er verkündete wirklich, dass ab sofort jeder DDR-Bürger mit seinem Personalausweis von Ungarn nach Österreich reisen kann. Einfach so. Mein Freund sagte zu mir, komm doch morgen mit nach Wien. Doch ich wollte zurück. Tausende nutzten noch in der Nacht die offene Grenze. Auf meinem eigentlich ausgebuchten Rückflug blieben fast alle Plätze leer.

Sie hatten nie den Drang, auf die andere Seite der Mauer zu schauen? Immerhin lag Potsdam ja direkt an der Westberliner Grenze.

Na klar wollte ich die Welt sehen, aber nie rüberziehen. Für mich war Westdeutschland nicht das Ziel meiner Wünsche. Es war mir fremd. Mein Land war die DDR. Ich bin hier groß geworden, war nie irgendwo im Westen. Ich wollte zusammen mit anderen aus diesem, meinem Land DDR etwas machen.

Was hat Sie an der DDR am meisten gestört?

Vieles. Aber ich hole mal etwas aus. Ich stamme aus einem christlichen Elternhaus. Mein Großvater war Pfarrer, mein Vater Arzt am katholischen Krankenhaus. Er war sehr sozialdemokratisch und gegen die DDR eingestellt. Bei mir hat sich daraus – wie das ja oft so ist – ein Gegenimpuls entwickelt. Ich war zu Hause der Rote, ein überzeugter Sozialist.

Und wann wurde aus dem Roten ein Dissident? Wann begruben Sie Ihre Staatstreue?

In den 70er-Jahren hat die sich in einem schleichenden Prozess aufgelöst. Die Biermann-Ausbürgerung spielte dabei eine große Rolle. Der Endpunkt war für mich erreicht, als das sogenannte Bruderland in Afghanistan einmarschierte. In den 80er-Jahren diskutierten wir in der Küche bei schlechtem Rotwein mit Freunden immer wieder Fragen wie: Welche Zukunft haben wir und unsere Kinder? Dabei differenzierten sich Hier-Bleiber und Antragssteller aus. Die einen wollten oder konnten nicht mehr, hatten mit der DDR Schluss gemacht. Wir anderen sagten uns immer: Was werden uns unsere Kinder später einmal fragen? Und was antworten wir auf die Frage: Was habt Ihr damals eigentlich gemacht? Wir selbst hatten unseren Eltern diese Frage im Bezug auf die 30er- und 40er-Jahre ja auch gestellt.

Das klingt sehr theoretisch. Störte sie nicht das praktische Leben in der DDR?

Weniger. Ich habe ein fröhliches Wesen und lasse mich von welchen Umständen auch immer nicht so beeindrucken. Aber anderes hat mich gestört: Ich arbeitete im Umweltschutz und habe gesehen, was los war. Luft, Wasser und Boden waren dramatisch belastet. Wir hatten uns in der DDR schon daran gewöhnt, dass auf Flüssen Schaumkronen schwammen. Viele dachten schon, das gehört dazu. Hinzu kamen viele Kollegen aus den Betrieben, die sagten: Das geht nur noch ein paar Jahre gut. Einen weiteren wichtigen Impuls lieferte der schleichende Verfall unserer Altbausubstanz. Wir Potsdamer erlebten, dass die Innenstadt leer gezogen wurde. Wir wussten damals zwar noch nicht warum, aber später haben wir erfahren, dass sie die komplette, barocke Innenstadt abreißen und mit Plattenbauten ersetzen wollten. Im Sommer 1989 haben sie damit begonnen.

Das war in Cottbus ähnlich, mit dem Wendischen Viertel hatte die Partei schon begonnen.

Ja, das war überall so. Für uns in Potsdam war das 1986/87 auch ein Punkt, weshalb wir uns organisierten. Wir wussten zwar nicht wie, aber Ende 1987 gründeten wir dann eine erste Bürgerinitiative, die sich um den Erhalt des Pfingstberges kümmerte. Wir waren 20 bis 25 Gleichgesinnte.

Angesichts der Probleme, die ja nicht nur Sie wahrnahmen, waren das aber sehr wenige.

So war’s halt. Wir waren Ende 20, Anfang 30, also in dem Alter, indem man anfängt, gründlicher über das Leben nachzudenken. Die Kinder waren aus dem Gröbsten raus, jetzt stellte sich die Frage: „Was mache ich mit meinem Leben?“ Wir waren außerdem nicht in die Parteistrukturen eingebunden, waren also für DDR-Verhältnisse relativ freie junge Leute. Im Frühjahr 1988 hat ein Teil dieser Initiative gesagt, dass er es politischer will. Daraus entstand dann im April ’88 die Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz und Stadtgestaltung, kurz Argus, die sich nicht mehr nur um ein Projekt kümmerte. Für die Staatssicherheit war dies das Signal, uns zu beobachten.

Dennoch waren Sie im Mai 1989 nur positiv gestimmt?

Ja. Durch unsere schon erwähnte Tagung der DDR-Umweltinitiativen am Heiligen See im April hatte ich viel Mut gewonnen. Wir merkten, dass die Leute überall ähnlich tickten. Außerdem waren wir in der Vorbereitung des Pfingstbergfestes, des ersten großen alternativen Kulturfestes, zu dem dann am 10. Juni mehr als 3000 Leute kamen – aus der ganzen DDR. Allein 20 Theater- und Musikgruppen reisten an und spielten kostenlos, als sie hörten, um was es geht. Auf dem Pfingstberg war eine Stimmung, wie ich sie in der DDR bis dahin noch nicht erlebt hatte.

Das hat die Stasi zugelassen?

Die Staatssicherheit saß nachts noch zusammen und schrieb in einem Bericht: „Leider war es für die Organisatoren ein Erfolg.“ Obwohl sie das Fest hintertrieben hatte. Wir durften davor keine Plakate kleben. Aber wir haben viele Ladenbesitzer gefunden, die die Plakate ins Schaufenster hingen. So war die Stimmung schon. Für die Leute wurde das Fest dadurch noch interessanter. Jedem war klar, dass es keine staatliche Veranstaltung sein würde. Die Auflagen der Stadt, Versorgungssicherheit zu gewährleisten, garantierten wir über den sowjetischen Stadtkommandanten. Dem sagten wir, dass wir keine Küche und so weiter haben. Er antwortete: „Ich helfe Euch.“

Der sowjetische Stadtkommandant hintertrieb die Auflagen der SED?

Er war ein Gorbatschow-Mann, den wir schon kannten. Er wusste, um was es ging und hat uns dann eine Gulaschkanone mit Soldaten gestellt. Das wiederum hat die SED-Leute in der Bezirks- und der Stadtverwaltung völlig nervös gemacht. Denn noch immer war es sakrosankt, den sowjetischen Stadtkommandanten zu kritisieren.

Aber die SED verweigerte diese vorgelebte Kooperation dennoch?

Ja. Die Staatssicherheit zog sogar die Zügel noch einmal an.

Doch die Initiative war gestärkt?

Ja, obwohl es im Sommer nochmal eine Phase der Unsicherheit gab. Das hing auch mit den Ereignissen in Peking von Juni zusammen. Einige Freunde nutzten in der Zeit auch Chancen zur Ausreise. Ab September ging es dann aber Schlag auf Schlag. Ich war wieder, wie gesagt, in Ungarn. Am 11. oder 12. kehrte ich zurück. Am 13. hat sich das Neue Forum gegründet, am 16./17. September haben wir für dessen Zulassung Unterschriften gesammelt und schon am 4. Oktober die erste Protestveranstaltung auf dem Weberplatz in Babelsberg gemacht. Das war noch vor dem 40. Jahrestag der DDR und noch vor den Großdemonstrationen in Leipzig und Berlin. Wir hatten mit 300 Teilnehmern in einer Kirche gerechnet. Aber der Weberplatz war voller Menschen. Die Bereitschaftspolizei, die sich im nahen Karl-Liebknecht-Stadion vorbereitete, wurde richtig heiß gemacht. Aber auch sie rechnete maximal mit 400 bis 600 Leuten. Als es dann einige Tausend waren, traute sie sich nicht mehr herüber. Abends saßen wir dann im Pfarrhaus und haben Spendengeld gezählt.

Für was haben Sie gesammelt?

Wir sammelten für Inhaftierte. In den Spendenbüchsen waren fast nur Scheine. Schon daran sieht man, wie die Leute drauf waren. Der Pfarrer meinte scherzhaft, das sei in etwa die Kollekte der letzten zehn Jahre, die da an diesem Abend zusammengekommen war.

Die Spender wussten, dass für politische Gefangene in der DDR gesammelt wird?

Ja, das haben wir allen klipp und klar gesagt. Es war ja eine Veranstaltung, auf der sich das Neue Forum öffentlich vorstellte. Von diesem Tag an ahnten wir, das Rad lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Ich werde nie vergessen, wie ich mich mit dem Inhaber einer privaten Autowerkstatt unterhielt. Dem ging es eigentlich gut. Ich fragte ihn, was er hier mache. Wenn er gesehen würde, bekäme er vielleicht Ärger. Er setze seine Existenz aufs Spiel. Aber er sagte, das sei ihm egal. Er wolle jetzt nicht mehr zurückschauen, sondern nur noch nach vorn. Überall war der Wille zur Veränderung zu spüren.

Ihnen ging es aber nach wie vor um eine reformierte DDR.

Am 7. Oktober hatten wir wieder Vertreter der Umweltgruppen aus den 23 Städten zu Gast, die schon im April da waren. Nachts verabschiedeten wir eine Willenserklärung, in der wir schrieben, dass wir in einer solchen Atmosphäre nicht mehr leben wollten. Dabei ging es uns nicht um die Einheit Deutschlands. Es ging tatsächlich um eine bessere DDR. Bis auf eine Stadt haben alle die Erklärung unterschrieben. Dann kam die Demo am 9. Oktober in Leipzig. Und da war uns klar: Wir sind durch! Wir konnten uns nicht mehr vorstellen, dass sich das Blatt noch einmal wenden könnte. Wir wussten zwar nicht, wie es werden würde. Aber dass es anders als zuvor sein wird, war nach der großen Demonstration in Leipzig klar.

Wie konnten Sie sich die ganze Zeit motivieren? Immerhin sind aus Ihrer Generation auch sehr viele gegangen. Die meisten Flüchtlinge waren zwischen 20 und 35, also aus der Generation, die zum Aufbau eines anderen Staates dringend benötigt wird.

Zum einen sind ja auch viele geblieben. Und zum anderen war das für mich keine Frage. Der Osten war spannend. Er war aufregend.

Wenn man für politische Gefangene sammelt, muss man doch selbst damit rechnen, von der Stasi verhaftet zu werden.

Später haben wir erfahren, dass schon unsere Bettnummern für das Internierungslager verteilt waren. Die DDR war ein ordentliches Land. Da war alles schon sortiert.

Wie gingen Sie als Familienvater von drei Kindern mit der Angst davor um?

Einmal ist mir richtig mulmig geworden. Das war auch im Mai, als wir Eingaben gegen die Ergebnisse der Kommunalwahlen machten. Da kamen eines Tages zwei Offiziere der Staatssicherheit. Der eine davon hatte riesige Pranken. Auf die musste man immer schauen, wenn er sie auf den Tisch legte. Die machten Sprüche wie: „Jetzt ist unsere Geduld mit Ihnen endgültig vorbei.“ Sie verlangten, dass ich in einer Kirche öffentlich Abbitte leisten sollte. Sie meinten, dass einige Leute auf mich hörten. Und deshalb sollten ich und einige andere erklären, dass die Wahl in Ordnung gewesen sei. Zusätzlich bauten sie Druck über die Kinder auf. Meine geschiedene Frau war stark in der kirchlichen Opposition engagiert und deshalb auch im staatlichen Sinne „nicht zuverlässig“. Aus diesem Grund sei es doch besser, die Kinder kämen in ein Heim. Da würden die drei Mädchen dann wenigstens gut erzogen, drohten die Stasileute. Dass ich keine Abbitte leisten würde, stand für mich fest, aber ins Grübeln bin ich schon gekommen. Abends traf ich mich dann mit Freunden. Dabei einigten wir uns darauf, ringsrum zu erzählen, dass die Stasi da war und was sie wollte.

Sie haben also den heimlichen Druck öffentlich gemacht.

Und das hat gewirkt. Welchen Sinn hätte es noch gehabt, wenn ich mich auf die Kanzel gestellt hätte? Alle hätten ja gewusst: Die arme Sau macht das nur, weil sie ihm sonst die Kinder wegnehmen. Diese Art der Dekonspiration half immer am besten. Das ist bei allen Geheimdiensten so. Sobald etwas öffentlich ist, sind ihnen die Hände gebunden.

Für Kinder und Jugendliche, die die DDR nicht erlebten, ist so etwas kaum mehr vorstellbar. Wie haben Sie sich eine andere DDR vorgestellt?

Da ging es vor allem um Freiheit und Selbstbestimmung. In unseren Debatten spielten auch unabhängige Gerichte eine große Rolle. Es gab ja in der DDR keine Möglichkeit, eine Verwaltungsentscheidung anzufechten. Obwohl auf der ganzen Welt Menschen mit Verwaltungsentscheidungen unzufrieden sind. In der DDR konnte man sich nur mit einer Eingabe an Erich Honecker wenden. Ob man damit Erfolg hatte, hing vom Gutdünken ab. Aber es gab keinen Rechtsweg. Eine zweite Frage war die Möglichkeit in alle Welt zu reisen. Das Gefühl, es zu können, war wichtig. Ich selbst habe nach dem Fall der Mauer Wochen gebraucht, um das erste Mal etwas im Westen richtig anzuschauen. Die Zeit war viel zu spannend. Aber das Gefühl, nicht eingesperrt zu sein, sondern jederzeit losfahren zu können, war ganz wichtig. Und dann natürlich andere Zeitungen. Ich war schon damals ein Zeitungsmensch, habe selbst in der DDR mehrere Zeitungen gelesen, obwohl da nicht viel Unterschiedliches drinstand. Lesen bestand nur aus Zwischen-den-Zeilen-lesen. Das alles zusammen vermittelte ein bedrückendes Gefühl: Wir verleben die Substanz, und es wird immer enger – auch geistig.

Diese Bilanz ist tatsächlich sehr deprimierend.

Ja. Als Summe blieb, dass wir für diese DDR keine Perspektive mehr sahen. Soll es noch grauer, noch enger werden? Angst vor Hunger hatten wir keine. Aber es war außerhalb von Familie und Freunden nichts Lebendiges, nichts Kreatives mehr zu spüren. Ich glaube auch nicht, dass der Kapitalismus der Weisheit letzter Schluss ist, aber ich will eine Gesellschaft, die nach vorne offen ist. Ich will, dass ich mich einbringen kann. Und wenn ich das tue, will ich eine Chance, es zu ändern. Genau das war nicht mehr möglich. Christa Wolf hat 1982 geschrieben: „Über alles und alle legt sich Mehltau, Resignation breitet sich aus.“ Genau das war das Gefühl. Ich erwarte nicht, in einem Land zu leben, das ideal ist – das gibt es nicht. Aber ich will in einem offenen Land leben, in dem man die Chance hat, etwas zu machen.

Hat Sie die SED noch interessiert? War sie noch ein potenzieller Partner, oder hatten Sie die SED schon völlig abgeschrieben?

Als Partner haben wir sie 1989 nicht mehr gesehen. Manches war richtig skurril: Da hat das neue Politbüro im November getagt und gesagt, es wolle nun in die Offensive kommen. Solche Sprüche waren so weit weg vom Volk. Das hat keinen mehr interessiert. Aber die Partei machte noch immer ihre mechanischen oder mechanistischen Dinge. Für uns spielte die SED keine Rolle mehr.

Ein ganz zentraler Auslöser für die friedliche Revolution, waren die Kommunalwahlen. Erstmals gingen Bürger hin und zweifelten die SED massiv an. Hatten Sie Bedenken wegen des Protestes gegen die Kommunalwahlen?

Wir waren im Sonderwahllokal vorher wählen, wegen der anstehenden Ungarnreise. Es war im Mai in bestimmten Kreisen schon zum Volkssport geworden, in die Kabine zu gehen – also nicht öffentlich zu falten. Wer in die Kabine ging, wurde aufgeschrieben. Wir haben die Aufschreiber dann fröhlich gegrüßt – sie waren deutlich verunsichert. Die Wahlbeobachter mussten nur zählen, wie viele Wähler in die Kabine gegangen sind, und schon wussten sie, wie viele gegen den Einheitsvorschlag stimmten oder sich enthielten. Und es waren mehr denn je. In dieser Situation ein Wahlergebnis von 99 Prozent zu verkünden, war schon skurril.

Sie sprechen auch jetzt noch mit spürbarem Enthusiasmus von der Zeit. Warum und wann hat die DDR-Opposition, zu der Sie ja gehörten, die Deutungshoheit über die Ereignisse aufgegeben?

Im Dezember 1989. Ich habe gerade ein Buch geschrieben über die Zeit und genau auch darüber nachgedacht Ich glaube, wir – damit meine ich die Bürgerbewegung im weitesten Sinne – haben uns mit Fragen beschäftigt, die große Teile des Volkes nicht mehr interessierten. Themen wie eine neue Verfassung, die Sicherung von Freiheitsrechten, die Sicherung von Umweltrechten, alles richtig, aber die Debatten drehten sich längst um Wiedervereinigung und Währungsunion. Im März 1990 machten wir noch Wahlkampf unter dem Slogan: „Kein Anschluss unter dieser Nummer – Artikel 23“. Die Einführung der D-Mark sollte bei uns nach einer langen Phase der Selbstständigkeit kommen. Das war blauäugig. Schon im Dezember gab es bei den Demonstrationen in Leipzig Streit. Wenn ein Redner zur Vernunft aufforderte und sagte, geht doch nicht gleich in den Westen, dann wurden Pfeifkonzerte veranstaltet. Kurz darauf waren dann überall die Deutschlandfahnen. Und damit war der langsame Übergang gegessen.

Was die Wahlen im März 1990 ja auch zeigten.

Wir standen im Palast der Republik und waren sauer, als die Ergebnisse über die Bildschirme flimmerten: mehr als 40 Prozent für die Allianz für Deutschland und nicht mal fünf Prozent für alle Bürgerbewegungen einschließlich Grüner Partei. Da ist uns mit einem Mal klar geworden, wo der Hammer hängt. Selbst die klugen, besonnenen Sätze des allseits geachteten Wolfgang Ullmann waren nicht mehr angekommen. Insofern war der Prozess politisch wohl nicht aufzuhalten. Hätte es schon im November Volkskammerwahlen gegeben, dann hätte das Neue Forum wahrscheinlich 60 Prozent bekommen. So schnell geht das. Im März waren es noch fünf. Also, ich bleibe dabei: Im Dezember haben wir die Deutungshoheit verloren.

Wie nennen Sie den damaligen Prozess heute? Wende oder friedliche Revolution? Oder wäre eine andere Bezeichnung treffender?

Das, was im Oktober stattfand, war eine friedliche Revolution. Immerhin ist die DDR komplett beendet worden. Eine Militärmacht mit Polizei und Staatssicherheit mit mehreren Hunderttausend Mann unter modernsten Waffen ist friedlich abgelöst und entwaffnet worden. Die Geheimdienstzentralen wurden besetzt. Freie Wahlen abgehalten. Verwaltungen wurden neu aufgebaut. Das sind die Ergebnisse einer Revolution. In unserem Falle glücklicherweise sogar friedlich. Deshalb bezeichne ich das als friedliche Revolution.

Aber der Begriff Wende hat sich durchgesetzt.

Das hat Egon Krenz gut hinbekommen. Der prägte ihn nach einer ZK-Sitzung, als er ankündigte, eine Wende eingeleitet zu haben. Sei’s drum. Mit Revolution verbinden die meisten wohl noch immer Barrikaden auf den Straßen, und genau das hat ja glücklicherweise nicht stattgefunden.

Aber Hunderttausende standen den bewaffneten Organen der DDR bei Demonstrationen doch gegenüber. Die haben doch erlebt, dass sie als friedliche Macht die Kraft hatten, den Staat aus den Angeln zu heben.

Aber das wird nicht mit dem Begriff „Revolution“ verbunden.

Und das Gefühl? Warum ist der Stolz darüber nicht geblieben? Mit Begriffen wie friedlicher Revolution kann man bei Schülern, die das nicht erlebt haben, bestimmt leichter Interesse wecken als. . .

. . . als mit dieser Wende. Tja, warum ist das Gefühl nicht geblieben? Westdeutsche Kollegen fragen mich oft, warum wir Ostdeutsche nicht in gleichem Maße demokratieaffin seien. Da muss man sagen: Wenn man, wie der Westen, über Jahrzehnte hinweg Aufschwung erlebt hat, dann verliebt man sich in diese Gesellschaftsordnung, die das ermöglichte. Zweitens darf man die Rolle der Alliierten nicht verkennen. Demokratie wurde ja verordnet und erlernt.

Aber auch erkämpft.

Zweifelsohne. Doch lange Jahre war die Bundesrepublik eine Wohlstandsgesellschaft, die mit sich im Reinen war. Dazu kam dann ein neuer Teil mit Menschen, die auch diese Ziele hatten, die dafür sogar Gefährdungen eingegangen sind. Aber diese Menschen im Osten mussten Demokratie anders lernen. Viele wurden mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. In jeder Familie gab es die. Das ist eine ganz andere Demokratieerfahrung. Völlig unterbewertet ist die Tatsache, dass für viele Menschen nichts mehr war wie zuvor. Die Qualifikationen galten nichts mehr. Das ganze Sozialverhalten musste neu gelernt werden. Alle Rechtsnormen waren neu. Die Lebensleistung zählte nichts mehr. Das, wofür man gearbeitet hatte, wurde oft sogar abgerissen. Das mag man ökonomisch logisch finden und sachlich begründen können, doch für denjenigen, den es erwischte, ist es ein Verlust. Insofern ist der Verweis auf die Milliarden aus dem Westen zwar richtig und dankenswert, aber für die persönlich Betroffenen nicht unbedingt ein Grund zur Dankbarkeit.

Dennoch ist es erstaunlich, dass die PDS als Erbe der SED so viele Wähler hat.

Wenn wir dieses Wählerverhalten analysieren, dann stoßen wir genau auf die genannten Ursachen. Man muss konstatieren, dass da etwas über den Osten gekommen ist, was meistens gut gemeint war, aber nicht immer fruchtete. In Gesprächen werde ich oft genau damit konfrontiert. Vor allem, wenn es darum geht, dass Polikliniken oder Gemeindeschwestern wieder eingeführt werden oder das zwölfjährige Abitur, Ganztagesschulen und Kitas. Dann heißt es: „Damals habt Ihr das alles weggefegt. Jetzt kommt Ihr 15 Jahre später wieder an und entdeckt das wieder, tut sogar so, als wäre es eine neue Idee. Aber das hatten wir in der DDR alles schon.“ Daran spürt man Gefühlslagen. Dieses: „Hättet Ihr uns damals nur ernster genommen.“

Dennoch geht es sehr vielen viel besser, etwa jedem einzelnen Rentner. Die leben in einem Wohlstand, den sie als DDR-Rentner nicht gehabt hätten. Von der Freiheit gar nicht zu reden. Wo kommt diese Unzufriedenheit her?

Viele leben in dem Gefühl, auch noch dankbar sein zu müssen. Das hört man bei Rentnern sehr oft. Wenn Westrentner sagen: Jetzt bekommen die von unserem eingezahlten Geld ihre Rente, dann stimmt das ja nicht. Wir wissen doch, dass wir ein Umlageverfahren haben. Da ist nichts früher eingezahlt worden, was heute verfressen wird. Aber selbst wenn man das weiß, dennoch aber das Gefühl vermittelt wird, dass es nicht deine Leistung ist, auf der dein Wohlstand beruht, dann ist das unbefriedigend. Die Entwertung von Lebensleistung macht unglücklich. Man kann nicht einfach 20, 30, 40 Jahre gelebtes Leben in den Abfall treten. Das wissen wir heute alles besser. Anfang der 90er-Jahre wurde das völlig unterbewertet. Heute spüren wir die Langzeitwirkung, gegen die wir nicht ankommen. In diesem Gefühl treffen sich viele Ostdeutsche, die früher gegeneinander standen: Ob Blockpartei, SED oder Kirche. Da haben wir Fehler gemacht.

Aber das ist doch im Kern nur eine ökonomische Begründung.

Nein, das ist auch eine seelische. Aber ganz genau weiß ich das auch noch nicht. In fünf Jahren werden wir wieder klüger sein. Wahrscheinlich kann man solche Prozesse tatsächlich nur historisch bearbeiten. Da ist Nähe falsch, weil man dann über sein eigenes Leben redet. Und das ist falsch. Man braucht Abstand, Nüchternheit und keinen Schaum vor dem Mund. Ich habe neulich einen Vortrag über die unterschiedliche Wahrnehmung von Werbung in Ost und West gehört. Ost und West sind noch heute anders. Wir haben alle vor 19, 20 Jahren gedacht, dass wir alle einfach Deutsche sind. Aber das stimmte schon damals nicht mehr. Nach 40 Jahren ist man anders. Da muss man den anderen auch mal fragen: „Wer seid Ihr eigentlich?“ Es wurde aber nicht gefragt. In der Hektik des Geschehens wurde gesagt: Wir sind das erfolgreiche System, wir haben die Mittel und Möglichkeiten, wir kommen jetzt mal über Euch.

War die Niederlage vom März traumatisch? Sie gehörten nur noch einer kleinen Minderheit an, die zwar viel bewegt hatte, aber offensichtlich schon nach wenigen Monaten von der Mehrheit ausgemustert wurde?

In der Wahlnacht haben wir uns erstmal betrunken. Wir haben bestimmt auch gedacht: So ein undankbares Volk. Aber schon am nächsten Tag mussten wir aus unseren versprengten Truppen eine Fraktion bilden – Neues Forum, Grüne Partei und andere. Ich hatte also schon in den nächsten Tagen wieder voll zu tun, wurde parlamentarischer Geschäftsführer der gemeinsamen Fraktion. Und die Zeiten blieben ja spannend.

Gibt es für Sie einen persönlichen Soundtrack der friedlichen Revolution?

Da fällt mir Silly ein. Deren Texte trafen die Stimmung. Ihr „Februar“ ist für mich die LP der beginnenden friedlichen Revolution.

Was empfehlen Sie Schüler?

Nichts einfach nur zu glauben. Immer zu fragen und neugierig zu bleiben. Und sich einzumischen. Diktatur lebt, wenn sich alle still verhalten. Demokratie geht kaputt, wenn sich keiner einmischt und keiner mitmacht. Und: Demokratie ohne Streit ist keine Demokratie!

(Dieses Interview mit Matthias Platzeck ist im Mai 2009 erschienen)

Anzeigen-Fundstücke (2) – Steinkohle

Anzeige für die Deutsche Steinkohle in der "Bild" vom 20. April 1967
Anzeige für die Deutsche Steinkohle in der „Bild“ vom 20. April 1967

1967 war es die Steinkohle, ohne die sich niemand vorstellen konnte, dass es genügend Energie für den Wohlstand geben könnte. 2012 glaubt Brandenburgs Landesregierung plus CDU- und FDP-Opposition noch immer, dass die Braunkohle Basis für den Wohlstand in der Lausitz sei. Damals wie heute hat das für die Vergangenheit gestimmt. Den deutschen Steinkohle-Bergbau gibt es nicht mehr. Er ist genauso Geschichte wie diese Anzeige. Die Braunkohle wird folgen. Und zwar schneller, als viele glauben. Nur Energie, die keine Brennstoffkosten verursacht, hat Zukunft. Und das sind Sonne, Wind und Co.

Mal schauen, wann Braunkohle-Anzeigen nur noch Geschichte sind?

Mehr Anzeigen-Fundstücke:
(1) – Mitfahren anno 1820
(3) – Lebensmittelpreise 1933
(4) – Ventilator für Dicke

Brandenburgs Politik fehlt der Mut, die Energiewende zu denken

Wenn der Strom teurer wird, liegt das an Erneuerbaren Energien. Das ist der Kern dessen, was Brandenburgs Wirtschaftsminister Ralf Christoffers nicht nur in der aktuellen Antwort auf eine parlamentarische Anfrage antwortet. Er ist davon wirklich überzeugt.

Damit beweist er, dass er  Verwalter und Bewahrer des Gegenwärtigen, nicht aber Gestalter der Zukunft ist. Denn es stimmt natürlich, dass bei einer erhöhten Stromproduktion neue Netze benötigt werden. Es sei denn, die Produktion des klimaschädlichen Stroms aus Braunkohle würde reduziert. Dann müsste zwar immer noch in die Netze investiert werden, aber erheblich weniger. Oder wenn es nicht nur den einen Energie autarken Ort Feldhain in Brandenburg gäbe, sondern Dutzende, vielleicht sogar Hunderte. Dezentral aus Erneuerbaren Energien versorgte Orte benötigen kaum Netze.

Für einen Linken müsste diese Art der Versorgung eigentlich erstrebenswert sein, da sie nicht auf die Existenz bestehender Konzerne setzt. Doch Christoffers und der Landesregierung fehlt der Mut die Energiewende zu denken. Auf Dauer kommt das die Verbraucher viel teurer zu stehen.

Deser Kommentar ist am 21. November 2011 in der Märkischen Oderzeitung erschienen…

Brandenburgs Politik verliert massiv an Vertrauen

Länder wirken lange stabil. Dann passiert plötzlich etwas und ganze Gesellschaften können ins Rutschen kommen. So weit wird es in Brandenburg wohl nicht kommen. Aber die aktuellste Umfrage zur politischen Lage im Land ist dramatisch. Sie zeigt, dass in den zwei Jahren seit der letzten Landtagswahl der Frust steigt.

Die Zahl der Frustrierten hat sich von 16 auf 30 Prozent nahezu verdoppelt. Das ist eine dramatische Zahl. 30 Prozent trauen keiner Partei zu, dass sie die Probleme des Landes lösen könnte. Oberflächlich ist Rot-Rot stabil. Die SPD legt zu, die Linke verliert etwas. Aber das sind nur die relative Zahlen. Denn ein gutes Drittel bescheinigt allen Parteien Inkompetenz. Das ist ein großes Potenzial für Rattenfänger von rechts oder links. In der diffusen Euro-Angst ist das wirlich gefährlich. Aber was machen die Potsdamer Granden?

Sie klopfen sich auf die Schulter. Wie groß der Vertrauensverlust ist, wollen sie weder im Flughafen-Umfeld noch im abgesoffenen Oderbruch wahr haben. Wenn es nur um einzelne Parteien ginge, wäre das alles nicht schlimm. Aber oft genügen nur kleine Impulse, um große Hänge ins Rutschen zu bringen.

SPD in der Zwickmühle

Für die SPD ist das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt ein schwerer Schlag. Auf der einen Seite könnte sie mit den Linken die CDU in die Opposition drücken. Auf der anderen würde sie dafür sorgen, dass erstmals ein Linker zum Ministerpräsidenten gewählt wird.

Zwar hat der sachsen-anhaltinische Spitzenkandidat Bullerjahn versprochen, nicht Juniorpartner der Linken werden zu wollen. Doch angesichts der starken strukturellen Mehrheit mit Linken, SPD und den Wahlsiegern von den Grünen wäre es schon ein Treppenwitz, wenn die Union weiter fest im Sattel sitzt. Da die FDP mit Wucht vom Wähler aus den Landtag gejagt wurde, ist das bürgerliche Lager auf ein gutes Drittel der Mandate geschrumpft.

In Baden-Württemberg blüht der SPD am Sonntag das gleiche Dilemma. Da könnten die Sozialdemokraten zum Mehrheitsbeschaffer eines grünen Ministerpräsidenten werden. Für Parteichef Gabriel stellt sich also die strategische Frage, ob die SPD für neue Mehrheitsverhältnisse sorgen oder der CDU Ministerpräsidenten sichern will. Egal wie sich die SPD entscheidet, fest steht, dass sie ihre Rolle neu definieren 
muss.

MOZ-Kommentar…

Grüne diskutieren Energiewende

Auf ihrer ersten Sommerkonferenz haben die Brandenburger Grünen am vor allem über nachhaltige Wirtschaftspolitik diskutiert. Bundeschef Cem Özdemir versprach in Beeskow: „2013, wenn wir im Bund wieder Verantwortung übernehmen, machen wir die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke wieder rückgängig.“

Dieses Selbstbewusstsein kam bei den Brandenburger Grünen sehr gut an. Auch wenn es für die meisten anwesenden Parteimitglieder noch ungewohnt ist. Nicht einmal 800 Mitglieder hat die Partei im gesamten Land. Die meisten Aktiven kennen sich. In vielen Stadtverordnetenversammlungen und Kreistagen sind sie nicht einmal in Fraktionsstärke vertreten, etwa in Cottbus oder Oder-Spree. Dort sind sie Fraktionsgemeinschaften mit der SPD eingegangen. Eine eigenständige grüne Politik ist so kaum möglich.

Die meisten der 150 Teilnehmer der Sommerkonferenz am Sonnabend in der Beeskower Burg fühlen sich fast wie auf einem Familienfest. Umso ungewohnter sind die Gäste, die mit ihnen über Nachhaltigkeit, Wirtschaft und Konflikte zwischen Naturschutz und dem Ausbau Erneuerbarer Energien diskutieren.

Ralf Christoffers (Linke), Brandenburgs Wirtschaftsminister, hat die Einladung ebenso angenommen wie Doro Zinke, DGB Vorsitzende Berlin-Brandenburg, oder Kurt-Christian Scheel vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Sie alle suchen den Dialog mit der kleinen Partei, die vor einem Jahr nach langer Pause wieder in den Brandenburger Landtag eingezogen ist. Und natürlich mit der Partei, die bundesweit in den Umfragen derzeit auf bis zu 17 Prozent kommt.

Das derzeitige Hoch der Grünen freut Cem Özdemir auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist er sich bewusst: „Unsere Programme werden jetzt mit dem Taschenrechner gelesen.“ Unrealistische Forderungen sind ihm suspekt. Aber das Beispiel Erneuerbare Energien zeige auch, dass zunächst ungewöhnliche Ideen durchaus realistisch sein können: Heute sei es Konsens, dass die Energiegewinnung vollständig auf Erneuerbare Energien umgestellt werden müsse. Es gehe nur noch um den Zeitpunkt. Als sie das Thema von 20 Jahren erstmals auf die Agenda gesetzt hätten, wären sie nicht ernst genommen worden. Dank grüner Politik wie dem Erneuerbare-Energien-Gesetz arbeiteten heute 300 000 Menschen in der Branche; viele davon in Brandenburg.

Wie diese Rahmenbedingungen weiterentwickelt werden können, bestimmte die Diskussionen des gesamten Tages. Axel Vogel, Fraktionschef der Grünen im Landtag, forderte im Einklang mit Doro Zinke, dass das Vergabegesetz ökologische und soziale Aspekte beinhalten müsse. Der Entwurf der Landesregierung bliebe hinter dem Berlins zurück.

Da der Ausbau von Wind- und Solaranlagen auch Konflikte produziert, haben sich die Grünen in Beeskow auch darauf vorbereitet. Für die Uckermark hatte Vogel dabei einen ungewöhnlichen Vorschlag. Dort gibt es eine Initiative, die den Bau einer überirdischen Hochspannungsleitung unter die Erde verlegt wissen will. In Thüringen wird genau gegensätzlich diskutiert. Deshalb sollten die Projekte einfach getauscht werden. Beide Regionen wären mit dem Netzausbau versöhnt.

Über diesen pragmatischen Ansatz musste Christoffers schmunzeln, will ihn aber aufnehmen. Einen guten Rat hatte er für die Grünen obendrein: „Bei Konflikten hilft nur reden. Nur so können die Menschen überzeugt werden. Aber dann muss auch entschieden werden.“ Für Christoffers heißt das, dass nach Abwägung aller Sicherheitsaspekte Kohlendioxid bei Beeskow gespeichert werden könnte. Auch wenn Initiativen und Grüne strikt dagegen sind.