Wenn Respekt kein Wert der Schulleitung ist

Abizeugnis mit Rose beim Abiball im Maritim
Abizeugnis mit Rose beim Abiball im Maritim

Noch ist der offizielle Teil nicht vorbei. Aber die Direktorin macht sich schon auf den Heimweg. Im noblen Berliner Hotel „Maritim pro Arte“ feiert das Humboldt-Gymnasium Eichwalde die Ausgabe der Abiturzeugnisse. Ein großer, festlicher Rahmen, wie ihn sich die Schulleitung im Vorfeld mehrfach wünschte. Zu melancholischer Klaviermusik vom Band, die eher an eine Trauerfeier als an ein freudiges Fest erinnert, wurden Zeugnisse überreicht. Und Rosen, deren Dekoration teurer war als die Blumen selbst. Schüler der 11. Klassen trugen Gedichte u.a. von Schiller vor, weil sie dafür noch eine Note kurz vor Notenschluss bekommen. Und andere Schüler singen oder musizieren auf der Bühne, in der die Abiturienten aufgereiht sitzen. Die Eltern, Großeltern und Freunde, die sie begleiten, sitzen weiter hinten um große Tische gruppiert und hoffen, etwas erkennen zu können.

Die Direktorin hat eine Rede gehalten, in der sie sich bei den Schülern bedankt und bei den Eltern und natürlich bei den Lehrern. Sie referiert, dass 25 Prozent der Abiturienten einen Einser-Schnitt haben und einige einen Dreier. Sie zitiert wahllos die Humboldts, nach denen die Schule benannt wurde. Da kommen auch schon mal zwei Zitate ohne eigene Text-Verbindung hintereinander. Vor allem aber wird die Reife der Schüler betont. Und die Werte, die vermittelt wurden. Allerdings immer nur als abstraktes Wort. „Werte“ wird nicht inhaltlich aufgeladen. Außer dem Verweis auf Fleiß und Lernen fällt ihr nichts ein. Respekt zum Beispiel taucht nicht auf. Oder Verständnis, Verstehen oder Begreifen. Auch diese Begriffe spielen bei der Reife, wie sie die Schulleiterin versteht keine Rolle.

Dass das seine Berechtigung hat, wird klar, als die Abiturienten noch mit ihrem Teil des Programms beschäftigt sind. Als nach der aufgesetzten Feierlichkeit und einem guten Buffet die Kreativität und der Witz des Abijahrgangs 2014 aufblitzen. Als Schüler mit Humor geehrt und sich von Lehrern mit Charme verabschiedet wird. Denn da macht sich die Rektorin schon auf den Heimweg. Sie schleicht sich aus dem Saal. Wahrscheinlich glaubt sie, genug Fleiß in diesen Abend investiert zu haben. Da erübrigt sich für sie dann wohl der Respekt vor den Abiturienten, von denen sie sich in ihrer tragenden Rede mit den Worten verabschiedete: „Viel Erfolg uns ein bisschen Glück.“

Das Ende eines Schulexperiments – Unser erstes Abitur

Das erste Schulexperiment ist abgeschlossen. Der Älteste hat heute seine Abiturnote bekommen. Nach zwölf Jahren Schule hat er die Hochschulreife. Das ist auf jeden Fall ein Grund zur Freude und zum Feiern.

Auch wenn sich nach wie vor die Frage stellt, warum junge Menschen schon mit 17 Abitur machen müssen? Auch wenn wir uns fragen, was die Verkürzung von 13 auf zwölf Jahre Schule gebracht hat? Schlauer ist er nicht. Er weiß bestimmt auch nicht mehr, als wenn er noch ein Jahr länger auf die Schule gegangen wäre. Und ob er reif genug für die Hochschulreife ist, wenn er sich selbst noch nicht einmal an der Uni einschreiben dürfte, ist ebenfalls mehr als fraglich.

Was also hat diese Schulreform tatsächlich gebracht? Der Sohn ist ein Jahr früher fertig. Er wird die Zeit, bis er 18 ist, sicherlich mit einer sinnvollen Beschäftigung überbrücken. Aber ist das der Sinn des Abiturs? Dass man noch ein wenig wartet, bis man selbst entscheiden kann und nicht in Begleitung der Eltern zur Immatrikulation und in die Sprechstunden der Professoren geht? Der Sohn hat mehr Stunden am Tag Unterricht gehabt, als wir damals. Das hat den Druck erhöht und Freiraum zur eigenen Entfaltung geraubt. Außerdem musste er deutlich mehr Stoff lernen. Auswendig lernen. Denn wie soll man auch sonst in weniger Zeit mehr Stoff unterbringen? Das geht nur durch das Abfragen von auswendig Gelerntem. Nicht mit Verstehen, Verständnis oder gar vertieftem Diskutieren. Mit echter Bildung hat das nichts zu tun. Wenn überhaupt, dann nur mit Wissens-Maximierungs-Lernen.

Das heißt nicht, dass der Abiturient jetzt nicht doch stolz sein kann. Er hat es geschafft, sich geschickt durch ein Schulsystem, ein zu Tode reformiertes Schulsystem zu lavieren und genau dafür seine Reife attestiert zu bekommen. Es gab Lehrer, die ihm geholfen haben, Lehrer, die ihn motiviert haben, Lehrer, die ihn ernst genommen haben. Aber es gab auch Lehrer, die Kinder und Jugendliche nicht mögen, Lehrer, die selbst nicht verstanden haben, was Bildung ist (und das an einem Humboldt-Gymnasium) und Lehrer, die vor allem über „Elite“ schwafelten, statt selbst ein guter, aufgeschlossener und den Schülern zugewandter Pädagoge zu sein. All das hat er überstanden. Und darauf kann er stolz sein.

Aber profitiert hat er davon nicht wirklich. Profitiert hat von all den Schulreformen nur einer – der Staat. Das Land Brandenburg hat durch den Wegfall der 13. Klasse im wahrsten Sinne des Wortes gespart. Lehrer hat es eingespart und so Geld gespart. Obwohl SPD und Linke seit Jahren vom Vorrang von Bild sprechen, sieht die Politik tatsächlich anders aus. Wenn Lehrer krank sind, gibt es keine ausreichende Reserve, um Unterrichtsausfall zu verhindern. Stattdessen „Stillarbeit“, die nicht als Ausfall in die Statistik einfließt. Jetzt, wo der Sohn das Abitur hat, werden in der ganzen Republik mit Anzeigen Lehrer geworben. Aber davon hat er nichts. Und ob seine Geschwister etwas davon haben, ist fraglich. Denn alle Bundesländer kämpfen um junge Lehrer. Ob Brandenburg mit seinem bildungspolitischen Sonderweg da mithalten kann? Hier ist das Kurssystem de facto abgeschafft worden. Echte Leistungskurse gibt es nicht mehr. Die Wahlfreiheit bei der Fächerwahl de facto auch. Auch diese Reform hat er überstanden. Zum Glück.

Das liegt vor allem an ihm selbst. Auch wenn das Schulsystem es immer wieder versucht hat, seine Neugier auf Neues konnte es ihm nicht austreiben. Seine Lust am Diskutieren – auch zum Erkenntisgewinn – ebenfalls nicht. Genau das feiern wir heute. Dass mit dem Abitur eine Schulzeit der verpassten -Bildungs-Möglichkeiten beendet wurde. Und dass er das alles unbeschadet und selbstbewußt überstanden hat.