Achim Reichel als vom Kitsch befreiter Folk-Archäologe

Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahren wagten es die ersten Bands, traditionelle deutsche Lieder neu erklingen zu lassen. Das war vor allem in Bayern der Fall, wo sich auf den Kleinkunstbühnen die Biermösl Blosn, Georg Ringsgwandl und andere dagegen sträubten,
dass der Akustikmüll der Volksmusik-Stars tatsächlich als Volksmusik verkauft wird, obwohl er damit nichts zu tun hat.

Achim Reichel (62), in den 60ern mit seinen Rattels der erste deutsche Rockstar von internationalem Rang, hat jetzt eine CD mit Volxliedern gemacht. Die subversive Kraft dieser Lieder wird hörbar. Das, was deutsche Irland-Urlauber so lieben, wenn im Pub zu Traditionals gesungen und getanzt wird, kann man sich beim Hören der Reichel-CD auch in Deutschland vorstellen. Er befreit selbst Lieder wie „Röslein auf der Heiden“ von jedem Kitsch. Er arbeitet mit Rhythmus und Melodie, um einen richtig guten Folk-Song daraus zu
machen. Das klingt dann fast wie Johnny Cash (1931 bis 2003) auf seinen letzten Alben – nur eben auf deutsch. Damit leistet er musikalische Archäologen-Arbeit, die für den Hörer ein Gewinn ist. Sein Booklet mit allen Noten lädt zum Nachahmen beim Kneipenbesuch
ein.

Rainald Grebe singt für die Versöhnung

Rainald Grebe und die Kapelle der Versöhnung
Rainald Grebe und die Kapelle der Versöhnung

Rainald Grebe (35) hat den Deutschen Kleinkunstpreis 2005 zu Recht bekommen. Seine aktuelle  CD „Rainald Grebe & die Kapelle der Versöhnung“ strotzt vor Witz. Und das nicht nur bei den Texten.

Grebe gehört zu der seltenen Gattung Kabarettisten, deren Lieder auch musikalisch gut sind. Kombiniert mit diesen wunderbaren Texten entsteht so ein Album, das sowohl den Musik- als auch den Kabarettfan begeistert. Der Knüller auf der Scheibe ist zweifelslos „Brandenburg“. Das Lied über das Land, das Berlin umgibt, ist alles andere als eine Hymne. Es ist ein Abgesang, der traurige Wahrheiten benennt – und dadurch Trauer hervorruft.

„Ich-AG“, „Beckenbauer“, „Guido Knopp“ oder „Mittelmäßiger Klaus“ haben die Gegenwart auf ganz andere Art im Blick. Grebes Stärke ist es, dass er mit Ich-AG, Beckenbauer, Guido Knopp oder Mittelmäßiger Klaus und Marcus Baumgart zwei wunderbare Musiker an der Seite hat, die seine Schärfe, seinen Zorn und seine Traurigkeit mitfühlen. Sie machen zusammen mit Grebe aus satirischen Texten kraftvolle Musik, die immer den richtigen Sound hat. Wer also Lust hat, zu lachen und richtig gute, abwechslunsgreiche Musik zu hören, der kommt an dieser CD wirklich nicht vorbei.

Diese Rezension ist am 5. September 2006 in 20cent erschienen. 

Schön rundreisen mit Jazzamor

Jazzamor: Travel
Jazzamor: Travel

Von Brasilien bis Tibet, von Frankfurt am Main bis in die Antarktis entführt das Easy-Listening-Duo Jazzamor die Hörer auf seinem dritten Album. Travel heißt das Stück dann auch völlig zurecht. Die 16 Tracks von Bettina Mischke und Roland Grosch schaffen es, sowohl die einwandfreie Hintergrundmusik zum Abhängen an heißen Tagen zu liefern, als auch musikalisch zu überraschen.

Easy-Listening klingt für viele nach Fahrstuhl-Musik und lästigem  Hintergrundrauschen beim Einkaufen. Doch jazzamor bieten mehr. Zum einen sind da die wirklichguten Texte. Wann ist es Liebe bringt die Sehnsucht nach Nähe und die Angst vor der Zurückweisung auf den Punkt. Hier kommt die Melancholie, die das gesamte Album trägt, besonders gut zum Tragen. Travel in Order not toarrive schildert ebenfalls diesen Zwischenraum, der von der Angst des Daseins und der Melancholiedes Nicht-Daseins gefüllt ist, wie er das Reisen oft begleitet.

Musikalisch bietet jazzamor einen Mix aus den Rhythmen der Welt. Moll-Töne dominieren, und so treibt der Hörer über die Tracks. Gepackt von der Stimme Bettina Mischkes, die ein trauriger, aber treuer Begleiter auf dieser Reise ist.

Sam Ragga Band schwingt in Situations

Sam Ragga Band: Situations
Sam Ragga Band: Situations

Ragga, Reggae und Ska aus Deutschland sind inzwischen nicht nur richtig gut, die Musik der heimischen Seeed, Culture Candela oder Sam Ragga Band sind auch richtig erfolgreich. Situations nennt sich das dritte Album der Sam Ragga Band. Der Titel der CD fasst die elf Tracks gut zusammen. Und die Rolle der karibischen Musik in Deutschland.

Sie ist aus den großen Multikulti-Events wie der Fußball-WM nicht wegzudenken. Diese Musik ist die richtige für solche Situations. Sam Ragga Band ist inzwischen etwas weicher geworden. Wo Seeed den Weg Richtung Dancehall weitergeht, besinnen sich die sechs Männer und Frauen aus Hamburg und London auf die Wurzeln des Reggae. Das ist positiver und doch auch gesellschaftskritisch. Die wunderbare Stimme von Seanie T. ist klar, warm und doch bestimmt. Ganz so wie die gesamte Band.

Situations ist das erste Album, das auf dem eigenen Label erscheint. Auch hier unterscheidet sich Sam Ragga Band von Seeed. Musikalisch hat sich der Mut zur Unabhängigkeit von den Majors gelohnt. Hoffentlich lohnt er sich auch finanziell. Auch, um den deutschen Multikulti-Ragga-Bands neue Perspektiven aufzuzeigen.

Die ungeheure Kraft von Leningrad

Leningrad: Hleb
Leningrad: Hleb

Live muss diese Band unglaublich gut sein. Diese Kraft, diese Wucht, die von Leningrad auf das aktuelle Album Hleb gepresst wurde, ist schon der Hammer. Live bläst die 16-Mann-Combo das Publikum ganz sicher um.

Wer bei russischer Musik an Don Kosaken denkt, ist völlig falsch gewickelt. Leningrad ist eine echte Independent-Band. Hier klingt nichts nach weich gespültem Gitarren-Sound wie bei den Britpoppern von Kaiser Chiefs oder Franz Ferdinand. Die anarchische Kraft der Musik ist der Treibstoff der russischen Band aus St. Petersburg. Losgelöst von Plattenlabels und offizieller Unterstützung ersang sich Sänger Shnur echten Kultstatus in Russland.

Das hängt ganz sicher mit der ungeheuren Mischung aus Ska, Punk, R’n’B und tatsächlich auch Folklore-Elementen zusammen. Und mit der Fülle an Instrumenten. Fünf Musiker widmen sich dem Schlagwerk. Fünf weitere bilden den Bläsersatz. Und dann singt über der klassischen Rockinstrumentierung dieser Shnur oder grölt oder rotzt seine Botschaften.
Leningrad ist ein Lichtblick für Freunde kraftvoller Musik, die die x-fache Neuauflage der immer gleichen Riffs nicht mehr ertragen können.

Trikont geht auf Zeitreise mit kreativen Outlaws

Heute ist es kaum noch vorstellbar, wie radikal sich die Musik in den 1960er-Jahren veränderte. Die Explosion der Kreativität in den USA hat das Münchner Label Trikont
auf einem faszinierenden Sampler eingefangen.

„Creative Outlaws – US Underground 1962-1970“ ist der Titel der CD. Auf ihr versammelt sind Jimi Hendrix und der von seinem Freund Frank Zappa produzierte Captain Beefheart. MC5, die ersten echten Punks überhaupt, sind ebenso zu hören wie die großartige Grace Slick. Ihr Song ist ein echtes Fundstück. Denn sie ist nicht mit Jefferson Airplane, sondern mit einem Vorläufer-Projekt zu hören.

Alle 22 Songs der bekannten und auch der weniger bekannten Interpreten lassen den Sound der Revolte, des Abstreifens ermüdender Traditionen und den Wunsch nach der selbständigen Erkundung des Lebens erklingen. Wer sich in das Album einhört, begibt sich an die Wurzeln einer inzwischen 40 Jahre alten Rock-Tradition, die junge Bands mit neuen Songs oft richtig alt aussehen läßt. Die Musik des Samplers ist noch echt. Sie ist noch nicht zur gut abgemixten Pose verkommen, mit der zurzeit vor allem langweilige Brit-Popper
als neue Entdeckung angepriesen werden.

John Peels kuriose Schellack-Legenden

John Peels Sampler
John Peels Sampler

Für viele Radiohörer war er der Mann, der den eigenen Musikgeschmack prägte. John Peel († 65). Bei der BBC legte er auf und hatte es in der Hand, ob aus Newcomern Stars (Sex Pistols, White Stripes, Laibach, The Cure) oder enttäuschte Hoffnungen wurden.

In seinen Sendungen legte er auch stets ein Stück aus seiner Schellack-Sammlung auf. Die kuriosesten davon sind jetzt als Sampler bei „Trikont“ erschienen. „The Pig’s Big 78s“ enthält Aufnahmen von 1908 bis 1955. Da erklingt frühe Musik-Comedy, da werden Hits der frühen Radiozeit vor dem Vergessen gerettet, da macht ein Geräusch-Imitator ein anfahrendes Auto nach. Kurz: Hier hat der Klang, der Ton in all seinen Farben seine Chance.

Das ist faszinierend und oft auch sehr amüsant. Vor allem ist es aber sehr lehrreich. Denn vieles von dem, was heute neu klingt, haben kreative Musiker schon vor 60 oder gar 80 Jahren aufgenommen! Das schöne Booklet von Sheila Ravenscroft, John Peels Frau, die
auch fürs Radio die Schellacks mitausgewählt hatte, rundet diese feine CD ab. Damit es auch jeder versteht, gibt es das informative Booklet gleich zweimal – in Deutsch und in Englisch!

Diese Rezension ist am 6. Mai 2006 in 20cent erschienen.

Rocket/Freudental liedern starke Töne aus dem Ländle

Nicht nur die White Stripes können zu zweit so richtig einen los machen. Das Österreicher Duo Attwenger kann das auch. Und auf dessen Label Trikont ist jetzt eine Zweierkombo aus Stuttgart mit einem neuen Album vertreten: Rocket/Freudental „Wir leben wie Gespenster“ heißt das überraschende Album, das vor Kreativität und Kraft nur so
strotzt.

Musikalisch schaffen sich  die beiden einen immer tanzbaren Klangraum zwischen Punk, Techno und Krautrock. Und textlich schaffen sie es, den Alltag des arbeitenden  Individuums auf der Suche nach dem permanenten Ausbruch als Endlos-Loop in vielen originellen Formulierungen immer neu zu erfinden.

Damit grenzen sie sich von den netten Jungs der Hamburger Schule deutlich ab. Denn Rocket/Freudental sind erfrischend direkt, ohne jemals platt zu sein. Die Poesie ihrer Texte ist Bestandteil ihrer Rhythmen. Und die treiben den Hörer immer weiter und weiter
in die nächste Tanzschleife. Rocket/Freudental sind ein Lichtblick. Sie leben zwar angeblich
wie Gespenster. Tatsächlich aber nehmen sie den von ihnen gefüllten Klangraum voll in Besitz – und damit auch den verblüfften Hörer.

Die volle Wucht der Balkan Beats

Wer sich für den satten Sound von Tuba, Posaune, Trompete und Co begeistern kann, der ist bei den „Balkan Beats – Volume 3“ genau richtig. Die geballte Lebensfreude auf den 15 Tracks schreit nach einem guten Verstärker.

Bei den ersten beiden Ausgaben der Balkan Beats war nur Musik von Bands aus dem ehemaligen Jugoslawien und Österreich zu hören. Diesmal hat Robert Soko alias DJ Soko, der wieder die Auswahl besorgte, auch Bands aufgenommen, die sich den Klängen des
Balkan in Frankreich (Watcha Clan und Slovanski Bal) und den USA (Slavic Soul Party), Deutschland (Äl Jawala), Italien (Figli di madre ignota) und England (Max Pashm) widmen. Die Mischung ist so rasant, dass das Wort atemberaubend tatsächlich stimmt.

Neben dem Phänomen der Russendisko von Wladimir Kaminer (40) und Yuriy Gurzhy in Berlin ist die Musik vom Balkan das zweite große Phänomen osteuropäischer Musik, die in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern viele Anhänger findet. Wer den Balkan-Brass, die wummernden Bässe aus der Tuba und die Geschwindigkeit genossen hat, wird die Balkan Beats 3 sicherlich nicht mehr so schnell weglegen. Im Gegenteil.

Nina Hagens Swing steckt fröhlich an

Nina Hagen: Irgendwo auf der Welt
Nina Hagen: Irgendwo auf der Welt

Robbie Williams (32) hat es getan. Und das klang gar nicht schlecht. Als er mit großer Big  Band auftrat und die Klassiker des Swing sang, waren viele von dem Entertainer  begeistert. Nina Hagen (51) hat es jetzt auch getan – und bei ihr klingt es noch viel besser! Kein Wunder, bei der Stimme!

Zusammen mit dem Berliner „The Capital Dance Orchestra“  interpretiert die Hagen die Klassiker der Big Band-Ära. Selbst Schnulzen wie der Hildegard-Knef-Song „Für mich soll’s rote Rose regnen“ kommen kraftvoll daher. Ihre stimmliche Bandbreite, ihre Lust am Inszenieren, Verkleiden und in andere Rollen schlüpfen kommen ihr voll zugute. Nina Hagens Spaß an diesen für sie ungewöhnlichen Songs überträgt sich auf die Hörer. Der Swing sorgt garantiert für gute Laune. Nina Hagens Spiele mit der Stimme verstärken das noch. Wer bei Summertime nicht den Sommer riecht, der lebt verkehrt.

Für die Punk-Diva ist der Ausflug zum Swing auch eine Rückkehr. Vor ihrer Ausreise aus der DDR 1977 trat die gelernte Opernsängerin mit Schlagern auf – und zu denen spielten Big Bands auf. Wie sie an allen ihren Eskapaden gereift ist, erklingt jetzt auf dieser schönen CD.