Eine Heimkehr vor 60 Jahren

Heimkehr nach elfeinhalb Jahren in Aschaffenburg

Jeden Tag fahre ich mit dem Zug nach Frankfurt (Oder). Meistens dauert es 31 Minuten, nämlich dann, wenn er nur dreimal auf dem Weg hält. Vor 60 Jahren ist mein Großvater auch nach Frankfurt (Oder) gefahren. Allerdings legte er 3600 Kilometer zurück. Am 10. Oktober ist er mit 600 weiteren Kriegsgefangenen aus dem Arbeitslager in Asbest im Ural aufgebrochen. Gut zehneinhalb Jahre nach dem Kriegsende fuhren sie voller Hoffnung und freudiger Erwartung zurück in die Heimat, nach Deutschland. Für Ernst Oppermann waren es gar elfeinhalb Jahre. Im Mai 1944 war er auf der Krim bei Sewastopol in sowjetische Gefangenschaft geraten.

Als er 1941 Frankfurt mit dem Zug in die andere Richtung passierte, war er auf dem Weg von Fallingbostel an die Ostfront bei Brest. Es war der Beginn seines langen, furchtbaren Wegs nach Osten. Frankfurt war da noch eine prosperierende Stadt, die vor allem als Eisenbahnknotenpunkt und Verwaltungssitz der Provinz Brandenburg von Bedeutung war. Auf dem Rückweg von Asbest nach Friedland im Süden Niedersachsens und dann weiter in das für seine Familie zur Heimat gewordene Aschaffenburg war Frankfurt dann die Grenzstadt, in der er erstmals wieder deutschen Boden betrat. All die Städte und Dörfer, die bei seinem Aufbruch an die Front östlich der Oder noch deutsch gewesen waren, waren nun polnisch. Umso größer war die Erwartung an den Grenzübertritt und die Ankunft in Deutschland nach immerhin sieben oder acht Tagen Zugfahrt vom Ural quer durch die europäische Sowjetunion mit den Republiken Russland und Weißrussland und anschließend quer durch das nach Westen verschobene Polen. Dessen Ostgrenze war genau dort, wo Ernst Oppermann und all die vielen anderen Wehrmachtssoldaten den Krieg gegen die Sowjetunion begannen, an der damaligen Grenzlinie des Hitler-Stalin-Paktes mitten im Vorkriegs-Polen.

In Weißrussland, in der Ukraine, in Russland, und sogar im Kaukasus führte mein Großvater Krieg. Überall forderte dieser unendlich viele Menschenleben. Städte wurden zerstört, Dörfer niedergebrannt, Menschen als Zwangsarbeiter versklavt. Und die Einsatzgruppen mordeten Juden, Zigeuner und Kommunisten per Genickschuss zu Abertausenden. Dennoch war die Fahrt der Kriegsgefangenen auf dem Heimweg kein Spießrutenlaufen. Im Gegenteil. Mein Großvater erzählte wenig von der Gefangenschaft. Was ihn aber so beeindruckte, dass er davon sprach, war die Offenheit, mit der sein Transport mit den 600 deutschen Soldaten auf dem Weg in die Freiheit überall aufgenommen wurde. An den Bahnhöfen hielten die Züge. Die Türen waren offen und nicht verriegelt. Sie konnten aussteigen, einen Tee oder anderen Proviant kaufen. Und Hass, so erzählte er, schlug ihnen weder in der Sowjetunion noch in Polen entgegen.

Das wurde erst an der Oder anders. Statt in Frankfurt erstmals wieder deutschen Boden betreten zu können, mussten die 600 im Zug bleiben. Der Bahnhof war mit Volkspolizei oder Grenztruppen, wer genau, das wusste er nicht mehr, umstellt und abgeriegelt. Die Uniformierten hatten die Maschinenpistolen im Anschlag. Und der Zug, der die 3600 Kilometer von Asbest bis Frankfurt (Oder) immer offen war, wurde verriegelt. Das war für ihn, der in den Gefängnissen und Arbeitslagern der Sowjetunion immer wieder kommunistischer Agitation ausgesetzt war, nicht komplett verwunderlich. Aber geschmerzt hat es ihn dennoch sehr. Die ganze Fahrt durch die DDR, südlich an seiner Geburts- und eigentlichen Heimatstadt Berlin vorbei und dann weiter bis an den Grenzübergang in Herleshausen waren die Waggons von außen abgeschlossen. Nach so vielen Jahren in Haft, war der letzte Abschnitt, die letzten gut 400 Kilometer auf dem Weg in die Freiheit noch einmal ein Aufenthalt in einem – rollenden – Gefängnis. Erst in Herleshausen und dann natürlich bei der Begrüßung nach der Ankunft in Friedland änderte ich das.

Wenn ich heute mit dem Zug abends von Ost nach West von Frankfurt (Oder) nach Erkner fahre, auf der wahrscheinlich gleichen Strecke wie mein Großvater am 18. Oktober 1955, kann ich mir das schwer vorstellen. Manchmal sehe ich zwei oder drei Bundespolizisten, die ihren Dienst auf dem Bahnhof machen. Aber dass Dutzende den ganzen Bahnhof komplett abriegeln? Das gibt es nicht. Und dass Menschen, die nach zehn oder mehr Jahren auf dem Weg in die Heimat weggeschlossen und abgeriegelt werden, das ist wirklich unvorstellbar.

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Aschaffenburg gedenkt 1954 der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion

Heimat (20) – Erinnerungen in Aschaffenburg

Markt in Aschaffenburg auf dem Schlossplatz

Als Kind gehörten die Fahrten nach Aschaffenburg zum Familienalltag. Die Großeltern lebten dort, der Vater war hier aufgewachsen. Die Mutter verbrachte ihre Jugend in der Stadt am Main. Und bei vielen Schwimmwettkämpfen waren die Becken von Hallen- und Freibad der Ort für jugendliche Niederlagen und Siege, wenn Poseidon Aschaffenburg als Veranstalter auftrat.

VieDie ehemalige Schlosserei Chevalierle Jahre später beim Spaziergang durch Aschaffenburg prasseln  Erinnerungen an etliche Momente von damals ins Gedächtnis. Es sind vor allem Töne, die dieses Gefühl von Heimat auslösen. Es ist der Klang des Dialektes, der so sehr Hessisch ist und doch auch fränkische Anteile hat. Einer Mundart, die aus dem Namen der Schlosserei, in der mein Vater als 14jähriger in die Lehre musste, um zum Ernährer der Familie zu werden, ein völlig anderes Wort formte. Beim „Schwalje“ hat er gelernt. Dass der Betrieb hinter dem Theater, in der gleichen Gasse wie der  „Schlappeseppl“ eigentlich „Chevalier“ hieß, habe ich erst bei einem späten Besuch als Erwachsener begriffen. Es ist der Tonfall, den mein Vater nie ablegte. Und so höre ich bei jedem aufgeschnappten Wort auch ihn.

Pompejanumstraße 4 in Aschaffenburg

Vor dem Haus, in dem meine Mutter in Aschaffenburg wohnte, beschäftigt mich ein anderer Gedanke. Hier war ich nie. Ihre Familie lebte nur relativ kurz in Aschaffenburg. Dennoch steckt auch in diesem Haus, das schräg gegenüber dem Pompejanum liegt, ein Keim von Heimat. Hätte sie hier nicht gelebt, hätte sie meinen Vater nicht kennengelernt. Ich kenne das nur aus Erzählungen, aus der mündlichen Familiengeschichte, die hier in den Steinen eines Hauses, das ich nicht kenne, Gestalt annimmt. Und so geht es mit vielen anderen Orten in der Stadt weiter. Aus dem Klang des Dialekts, den Eindrücken von den Gebäuden und der Erinnerung an Erlebtes und sehr viel nur Erzähltes formt sich ein wohliges Gefühl.

Blick aufs Pompejanum in Aschaffenburg

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