Wenn junge Männer Tagebücher junger Frauen vorlesen

Theodor Schmidt liest in N>eukölln aus einem Tagebuch.
Theodor Schmidt liest in Neukölln aus einem Tagebuch.

Gut 50 Zuhörer auf 50 Quadratmeter drängen sich in einem ehemaligen Ladenlokal in Neukölln. Die Enge macht die eisige Kälte erträglicher, wenn die Tür aufgeht und noch mehr zu dieser Lesung in den Raum drängen. Die Frauen tragen Nasenring oder mindestens Nasensticker. Die Wände lassen ehemalige Tapeten und Anstriche erahnen. Die Beleuchtung zierte einst eine Chouchgarnitur mit Nierentisch. Und das große Bild des Malers dieses Ateliers hängt nicht an der Wand, sondern trocknet auf Bierkästen.

An einem kleinen Tisch sitzt ein hagerer junger Mann ganz in weinrot gekleidet. Zum Vortrag bringt er ein Tagebuch. Eine Hilde hat es mit knapp 18 Jahren 1928/29 in Mannheim geschrieben. Theodor Schmidt liest den Text als sei es ein Roman. Eine Geschichte vom Verliebtsein einer jungen Frau in einen Schauspieler am Theater. Die Zuhörer erleben den ersten Kuss, sie fiebern bei der ersten Knutscherei im Auto des zweiten Schauspielers und sie lachen, wenn Hilde ihre nächsten Küsse plant.

All die Gefühle sind aus der eigenen Jugend irgendwie vertraut. Aber die Sprache ist doch manchmal etwas seltsam. Eine eigenartige Spannung baut sich auf, die durch den lesenden Mann der Frauengedanken noch verstärkt wird. Etwa wenn er über Wörter wie „Busserl“ oder „Gspusi“ stolpert. Dann wird die Nähe, wie sie bei der Lesung eines Autors seines eigenen Textes immer zu spüren ist, gestört. Dann verschwindet für einen Moment der Eindruck, als höre man doch ein Buch von Schmidt, das als Hildes Tagebuch getarnt wird.

Die Geschichte von Hildes Eroberungen und dem Abgewiesen-Werden ist mehr als eine gute Abend-Unterhaltung. Die Spannung der Authentizität überträgt sich trotz aller Irritationen. Und so erträgt der Zuschauer auch das schwarze Einhorn, das auf den Bierkisten trocknet. Obwohl Hilde nur küsste – und sich nicht traute, es mit einem der Einhörner vom Theater wirklich aufzunehmen.

Und das passierte zur gleichen Zeit:

Zwischenhalt auf dem Küchentisch

Filzblume aus Cottbus
Filzblume aus Cottbus

Büroblumen im Wartestand. Derzeit ist der heimische Küchentisch der Platz für das freche Blühen der Filzblume aus Cottbus, die ich dort einst zu an einem Geburtstag geschenkt bekam. Seitdem steht sie auf dem Schreibtisch neben dem Monitor. Doch sowohl Schreibtisch als auch Monitor gibt es in dieser Zwischenzeit nicht. Dennoch lässt die Blume ihren Kopf nicht hängen. Schon in der kommenden Woche wird sie wieder platziert.

Abschiedsgeschenk aud Frankfurt (Oder)
Abschiedsgeschenk aus Frankfurt (Oder)

Schwerer hat es diese Pflanze. Sie stand noch nie in einem Büro, wurde mir aber genau dafür vor einer Woche überreicht. Jetzt wartet sie, um wieder zurück nach Frankfurt (Oder) zu fahren. Den Aufenthalt in der Küche hat sie bislang gut verkraftet. Dass die Blätter hängen, gehört bei ihr zum Konzept.

Schnee in Brandenburg – Winter in Chorin

Schnee in Brandenburg! Ich habe ihn gesehen. Am Wochenende in Chorin. Angesichts des Dauerregens und Schmuddelwetters ist das eine echte Nachricht. Der Anblick war völlig überraschend. Denn auf dem Weg dorthin regnete es ohne Unterlass. Ich war schon versucht den Ausflug abzubrechen. Und dann das! Schnee knirscht unter den Schuhen. Die Luft schmeckt frisch. Und die ganze Klosterruine ist bis auf uns frei von Besuchern. Die haben sich wohl vom Regen auf dem Weg in den Barnim abschrecken lassen…

Kurt Tucholsky sieht 1919 in Walter Mehring eine literarische Hoffnung

Die Ansicht der Deutschen, daß es keine <Kunst> sei, ein Couplet zu schreiben, hat diese Liedgattung hierzulande so niedrig sein lassen, wie sie eben ist. Ein Couplet … das ist eine mehr oder minder roh zusammengehauene Sache, ein Sammelsurium faulster Witze, ein grobes Gedicht – zum Schluß mit dem unvermeidlichen Refrain, der möglichst zweideutig und möglichst unsinnig zu sein hat, damit er zieht. Ist das ein Couplet? Es könnte anders sein.

Die Begabung, ein gutes Couplet zu schreiben, ist vereinzelt, und eine Angelegenheit, die nur wenig mit sonstigen Begabungen zu tun hat. Sicher ist, daß ein sonst untadliger Literat, ein Verskünstler, ein Humorist nicht durchaus brauchbare Couplets zu liefern braucht.

Der ganze Tucholsky-Text steht unter walter-mehring.info: 

Kapitelle im Kreuzgang der Klosterruine Chorin

Im Kreuzgang der Klosterruine Chorin (Barnim) finden sich schöne Beispiele von Kapitellen. Es gibt ganz alte und neue. Die Mischung ist schön. Die Reduktion des roten, gebrannten Tons auf klare Motive ist vor allem auch bei den neuen gut gelungen. Es lohnt sich genau hinzuschauen. Manche erzählen auf knapp zehn mal zehn Zentimetern ganze Geschichten.

Wenn dem Arzt der Anstand fehlt

„Das Melanom ist der gefährlichste Krebs.“ Da sagt der Hautarzt mit dem nötigen ernst. Lediglich zwei oder drei andere wären vergleichbar fatal. Deshalb sei die Vorsorge auch so wichtig. Das leuchtet ein. Deshalb lässt man sich die Haut vom Spezialisten absuchen. Mit dem bloßen Auge macht das der Herr im weißen Kittel. Denn die Benutzung einer Lupe würde 15 Euro extra kosten.

Nun mag es schon absonderlich sein, dass die Gebührenordnung für Kassenärzte die Verwendung der Lupe nicht vorschreibt. Vielleicht wird sie sogar bewusst ausgeschlossen, weil das die Ärztelobby durchgesetzt hat. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass der Arzt ernsthaft darauf verzichtet sie einzusetzen. Wie würde er denn reagieren, wenn der Handwerker sagt: „Elektrische Bohrmaschine kostet extra. Wir bohren von Hand!“

Wahrscheinlich würde genau dieser Arzt am Verstand des Handwerkers zweifeln. So wie ich am Anstand des Weißkittels. Wenn das Melanom so gefährlich ist, wie er und die Fachliteratur es sagen, dann müsste er die Suche danach doch so ernst nehmen, dass er dafür nicht die Hand extra aufhält.

Carl von Ossietzky über Mehrings “Kaumann von Berlin”

“Der Kaufmann von Berlin” war einer der größten Theaterskandale der Weimarer Republik. Das lag zum einen an dem Text, den Walter Mehring geschrieben hatte. Aber auch die Inszenierung von Erwin Piscator trug einen erheblichen Teil dazu bei. Carl von Ossietzky, der Herausgeber der “Weltbühne”, hat dies in seiner Rezension des Stückes gut analysiert. Aber er beschäftigt sich nicht nur mit der Inszenierung, sondern auch mit den Mechanismen des Geldverdienens im Theater und bei S. Fischer, dem Verlag des Stückes:

DIE KAUFLEUTE VON BERLIN

“In einer Bahnhofshalle, nicht für es gebaut”, nämlich für das Drama, spielt Piscator ein Stück, das gewiß Beschleunigung und Straffung verlangt, aber keine Apparatur, deren Knirschen seine innere Musik übertönt. Der alte Streit zwischen Regisseur und Dichter’ wird hier jusqu’au bout (A.O.: bis zum Ende) ausgefochten, wobei der Regisseur den Erbfeind des Theaters siegreich schlägt. Piscator benutzt die Gelegenheit zu einer Mustermesse seiner technischen Errungenschaften. Die Bühne rotiert, versinkt, entschwebt. Oberhalb der Szene fliegt Wanderschrift vorüber. Film in doppelter Ausfertigung – auf einem Gazevorhang und einer zweiten Leinewand dahinter. Selige Beruhigung fürs Auge tritt ein, wenn für Minuten nur ein paar Personen auf dem Laufband vorübergleiten. Aber blickst du zufällig nach oben, so kommt schon ein drohendes Eisenskelett herunter, eine kolossale Hängebrücke, eine gespenstische Brooklyn-Brücke, ‘ein Vorortbahnhof von Metropolis.

Carl von Ossietzkys Text ist vollständig im Walter-Mehring-Blog zu lesen:

Englische Fußball-Reportagen als Soundteppich beim Bier

In etlichen Kneipen wird der Toilettengang mit Hörbüchern aus Lautsprechern – ja was? Erleichtert? Oder eher aufregender gemacht? Oder doch nur akustisch so überlagert, dass Geräusche anderer nicht zu vernehmen sind? Nun ja. Auf jeden Fall war das in dieser Kneipe auch der Fall.

Selbstverständlich lief im Gastraum ebenfalls Musik; in diesem eine Mischung aus erträglichem Pop und Indie. Im gar nicht mehr stillen Örtchen kam der Gast in den Genuss von Star Wars. Und dann gab es da noch einen weiteren Sound-Teppich. Englische Fußball-Reportagen tönten stets verhalten leise. Zunächst wirkten sie wie ein originieller Song-Auftakt. Doch der Reporter blieb im Untergrund. Er wurde nicht ausgeblendet. Auch nachdem schon mindestens fünf weitere Lieder vor+ber waren.

Da fragte der Tischgenosse, ob nur er diesen Fußball-Reporter höre? Seltsamerweise erreichte das stete Gebrabbel nur die Ohren der Männer, die nebeneinander saßen. Die Frauen auf der anderen Seite des Tisches taten so, als hörten sie nichts. Später gab eine zu, den Reporter nun auch im Ohr zu haben. Aber was das solle, wisse auch sie nicht.

Beim Zahlen am Tresen, die Jacke war schon angezogen, veränderte sich die Lautstärke. Je nach dem, in welche Richtung der Kopf sich drehte, war der Reporter lauter oder leiser. Aber da, wo er laut war, da waren gar keine Boxen. Dann ein Griff an die  Brust. An die Tasche in der Jacke, in der das mobile Gerät steckt. Ganz heiß ist es da. Und siehe da, das eigene iPhone tönt englischen Fußball. Die 90elf-App hat sich selbst eingeschaltet. Und nicht nur mich einen ganzen Kneipenabend lang verwirrt.

Mehr vom defekten iPhone…

 

Literatur hören in Jurten zwischen Stahl und Glas

Andreas Scheffler in einer der Jurten am Potsdamer Platz
Andreas Scheffler in einer der Jurten am Potsdamer Platz

Als man noch mit der Milchkanne direkt im Bauernhof Milch kaufen durfte, da gab es einen ganz besonderen Geruch in den Melkstuben neben dem Kuhstall. Da vermischten sich Aromen von Tier und Milch zu einem etwas süßlichen Geruch, der auch etwas Fettes hatte.

Mitten in der großstädtischen Glas- und Stahlarchitektur des Potsdamer Platzes hatte ich genau diesen Geruch wieder in der Nase. Nicht in einem zu glatten Lokale oder der vielen Büroräume. Es war in einer der Jurten, die da gerade stehen. Etwas verlassen stehen die drei Zelte aus der mongolischen Steppe da. Aber genau das ist es ja, was sie so reizvoll macht.

In ihnen verliert sich der Zuhörer nicht. Im Gegenteil: Nur 44 können einer der Lesungen zuhören; vielleicht auch 48 mit ganz viel quetschen. Egal wie kalt es draußen ist, innen ist es in kürzester Zeit so warm, dass jede nur noch so dünne Jacke zu dick ist.

Jurten auf den Potsdamer Platz
Jurten auf den Potsdamer Platz

Der Geruch der Filzzelte verschwindet dann auch. Ob das an den Ausdünstungen der vielen Menschen liegt, oder dem abnehmenden Sauerstoffgehalt der Luft? Ich weiß es nicht. Nur, dass es nach der Lesung nur fünf Minuten dauert, bis er wieder in die Nase drängt.

Die Jurtendeckel oben sind geschlossen. Doch wenn sie etwas verrutscht sind, dann erblickt man durch sie ein kleines Stück Glas- und Stahl eines der hohen Häuser. Dann kommt die Kälte des Außen als Bild in die Wärme des Innen. Die Lesung wird so zu einem sinnlichen Eindruck ganz eigener Art. Und der ist so stark, dass selbst peinlich unvorbereitete Moderatoren, die keinen Autorennamen kennen, gut zu ertragen sind.

Mit dem Bahntower im Hintergrund
Mit dem Bahntower im Hintergrund

Neben der Gefahr dass laut grölende italienische Touristen direkt neben der Zeltwand die leise Stimme der Autorin übertönen, ist das der einzige Minuspunkt einer wunderbaren Art, mit Literatur in Kontakt zu kommen.

Andreas Scheffler war übrigens sehr amüsant, auch wenn er etwas zu sehr in dem einen oder anderen Klischee badete. Katharina Hacker erzählte nett vom Odenwald, auch wenn es da bestimmt niemanden gibt, der Blaubeeren isst. Wenn schon, dann Heidelbeeren. Judith Poladjan hat wunderbar gelesen, auch wenn die Ich-Erzählerin etwas blass blieb. Und Thomas Melle hat bestimmt einen guten Roman geschrieben. Aber mit dem Vorlesen hat er es nicht so. Dennoch haben alle Runden Spaß gemacht.