Ein Lied Walter Mehrings über die Liebe: Wie lange noch?

In der Werkausgabe von Christoph Buchwald ist der Text dieses Liedes („Wie lange noch“) nicht zu finden. Dafür aber auf dieser CD und auf einer von Teresa Stratas („The unknown Weill“) In der gleichnamigen Liedersammlung wurde es auch veröffentlicht. Rita-Lucia Schneider (Mezzosporan) singt das Lied, das 1943 oder 1944 entstanden ist, hier zu einfacher Klavierbegleitung.

Walter Mehrings Rat bei Sinnkrisen

Nach Ende des 2. Weltkriegs hat Walter Mehring seine „Verlorene Bibliothek – Autobiografie einer Kultur“ geschrieben. In ihr findet sich eine schöne Passage zum Sinn des Lebens und der Kunst:

„Wenn überhaupt in unser aller Dasein etwas einen Sinn hat, so ist es der: verliebt zu sein, – und wenn überhaupt noch ein Ziel erlebenswert ist, so das eine: sich in die Schönheit zu verlieben (die jeweilig jedes Liebhabers Geschmackssache bleibt), – und wenn überhaupt ein Liebesgebot allgültig ist, so dieses: Seid fruchtbar, das heißt: schöpferisch, – und mehret Euch, das heißt: Euch selbst; aber nicht die Mehrheit politischer Viehherden oder den Reinertrag industrieller Unternehmen.

Und wenn sich all des Tagewerkes Schweiß und Plackerei noch lohnt, so nur, am Feierabend ins Bett zu gehen – mit der innig Geliebten – oder wenigstens mit dem Traum an sie, um die ungewisse Begierde mit dem genauen Ausdruck zu gatten; um sich zu ergießen und zu genießen; um einander zu berühren und gerührt zu sein; um den Orgasmus, den Moment göttlicher Wonne zu verewigen. Warum eine Klanghochzeit – eine Reimpaarung, eine Farbverbindung – künstlerisch geglückt ist, läßt sich allgemein nicht erklären, weil man seine Liebe echt bloß der einzig Geliebten erklären kann: Liebeserklärungen an Staatsväter, Vaterländer, an die Plebs sind pervers, exhibitionistisch, unzüchtig.

Doch die Schönheit selber – einer Dichtung, wie einer Frau – ist polygam. und das jeweilige Schönheitsideal – als Mode und modus vivendi – antwortet dem Verlangen des einzelnen wie den Ansprüchen der Zeit.“

(Walter Mehring, Die verlorene Bibliothek. Claassen Verlag, Düsseldorf: 1978, S. 119 f.)  

Mehr Zitate von Walter Mehring gibt es auf Twitter oder im Walter Mehring Blog.

Erneut gelesen: Walter Mehrings Exilerinnerungen

Walter Mehring: Wir müssen weiter
Walter Mehring: Wir müssen weiter

Das eigentliche Manuskript umfasste 800 Seiten. Doch Walter Mehring hat sein Spätwerk verloren. Irgendwo zwischen Zürich und München ist der Koffer verschwunden. Die „Topographie der Hölle – Reportagen der Unter-Weltstädte“ konnte nicht mehr erscheinen. Lediglich das erweiterte Inhaltsverzeichnis und einige Textfragmente haben überdauert. Aus diesen hat Christoph Buchwald, der Herausgeber der Werkausgabe, noch zu Lebzeiten mit Walter Mehring diesen Band „Wir müssen weiter – Fragmente aus dem Exil“ geformt.

Es besteht aus gut 100 Seiten Prosastücken und 50 Seiten oder 1001 Versen der „12 Briefe aus der Mitternacht“, einem Gedichtzyklus, der zwischen 1938 und 1941 entstanden ist. Die Prosa sind die Fragmente des eigentlich viel größeren Buches. Jede Zeile dieser Erinnerungen verdichtet die Erfahrungen des Exils zu einer Erfahrungs- und Gedankenwelt, bei der jedes wichtige Wort mehr als nur eine Bedeutung trägt. Dieses Komprimieren der Erfahrungen und Erinnerungen ist trotz der knappen Form oftmals aussagekräftiger als Dutzende Seiten anderer Autoren. Es gibt Passagen, in denen Mehring mit viel Glück und Dusel durch Grenzkontrollen kommt, Inhaftierungslagern entkommt und Verhaftungen zuvorkommt. Verrückt daran ist, dass diese Begebenheiten verbürgt sind.

Mehring erinnert da an Grimmelshausens Simplizissimus. Nur sind die Erlebnisse alles andere als lustig. Vor allem wenn man sich einmal vorstellt, wie wir heute mit Flüchtlingen, Asylbewerbern und Staatenlosen umgehen. Mehring lässt mich nicht los. Sowohl das Leben wie auch die Bücher sind unglaublich. Vor gut 25 Jahren habe ich den Band das erste Mal gelesen. Und danach noch einige Male. Ich werde es auch wieder tun. Da bin ich sicher. Das gilt nicht nur für die Prosa, sondern auch die „12 Briefe aus der Mitternacht“, die in der strengen Form zum eindringlichsten und besten zählen, was im Exil über die Situation in kleinen Hotels und den Tod der Freunde – in diesem Fall Ernst Toller, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Joseph Roth, Ödon von Horvath, Ernst Weiß, Theodor Lessing, Walter Hasenclever, Carl Olden – geschrieben wurde.

Mehr über Walter Mehring gibt es im Walter Mehring Blog

Klaus Modick begleitet Feuchtwangers Abschied von Brecht

Klaus Modick: Sunset
Klaus Modick: Sunset

Es ist nur ein Tag im Leben Lion Feuchtwangers, den Klaus Modick in seinem aktuellsten Roman begleitet. Aber es ist ein Tag, in dem der international so erfolgreiche Feuchtwanger das Telegramm mit der Nachricht vom Tode seines Freundes Bert Brecht erhält. Modick formt aus diesem Plot einen sensiblen Text über Freundschaft, Literatur und Exil. Lion Feuchtwanger war neben Thomas Mann der wohlhabendste deutsche Exilschriftsteller.

Beide lebten in Hollywood/Los Angeles. Im Gegensatz zu den meisten deutschen Schriftstellern, denen die Flucht vor den Nazis in die USA gelang, konnte Feuchtwanger dank der vielen erfolgreichen Übersetzungen seiner historischen Romane und des Verkaufs von Filmrechten sehr gut leben. Bert Brecht dagegen bekam in Hollywood kein Bein auf den Boden. Auch viele andere, wie Walter Mehring, scheiterten. Feuchtwanger unterstützte viele Emigranten. Teils direkt, teils über Stiftungen und den 1944 in New York mitgegründeten Aurora Verlag, in dem etliche Exil-Autoren veröffentlichen konnten.

1956 lebte Feuchtwanger noch immer in den USA. Brecht war wie viele andere, die trotz der Verbrechen Stalins davon träumten, dass die DDR eine freie Heimstatt für Künstler sein könnte, nach Ost-Berlin gegangen. Drei Jahre nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 stirbt Brecht. Modick, der über Feuchtwanger promoviert hat, begleitet den Schriftsteller vom Aufstehen bis in den Abend. Das Telegramm mit der Todesnachricht löst eine Reihe von Erinnerungen aus. In diesen Rückblenden wird die Freundschaft der beiden von Kennenlernen in München um 1920 bis zur letzten Begegnung kurz vor Brechts Auftritt vor der Mc Carthy-Kommission erinnert.

Modick macht dies mit einer Mischung aus Fiktion und der Nutzung verbriefter Quellen. Dabei entsteht ein sehr kompaktes Panorama des Exils mit all den politischen Irrungen, persönlichen Enttäuschungen und privaten Verstrickungen. Modicks Sprache ist sehr prägnant. Die Gedanken sind klar und ohne Schnörkel formuliert. Er nähert sich der Sprache Feuchtwangers an, ohne in dieser aufzugehen. Und so gelingt es ihm, ein überzeugendes Buch vorzulegen – und zwar in Form und Inhalt. Es ist sowohl für jene ein Genuss, die sich mit der Exillitertaur auskennen, als auch für jene, die schlicht neugierig sind. Auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 ist es völlig zurecht.

Klaus Modick: Sunset, Eichborn

Ob Essad Bey oder Kurban Said, Lev Noussimbaums Leben ist mehr als ein Roman

Tom Reiss: Der Oriantalist als Hörbuch
Tom Reiss: Der Oriantalist als Hörbuch

Das Leben dieses Schriftstellers passt eher in einen Roman als in eine Biografie. Unter seinem richtigen Namen kannte Lev Noussimbaum kaum einer. Dass der Jude aus Baku Essad Bey und Kurban Said war, hat der amerikanische Journalist Tom Reiss rekonstruiert. Und damit das Leben eines faszinierenden Autoren entschlüsselt. In den 30er-Jahren waren Essad Beys Bücher Bestseller in Deutschland, den USA und halb Europa.

Schon in den 20er-Jahren veröffentlichte er Reportagen in der Weltbühne und anderen wichtigen Berliner Blättern. Deutsch konnte er, der Sohn eines einstigen Ölbarons aus Baku von seinem deutschen Kindermädchen. Auf der Flucht vor Stalins Mordbanden über Usbekistan, den Iran, später die anderen Kaukasusländer nach Istanbul und von dort weiter nach Paris und Berlin kamen ihm seine Sprachkenntnisse sehr zu gute. Und er begriff für sich, dass Identität etwas ist, was man nicht unbedingt jedem erzählen sollte. Essad Bey reiste mit Walter Mehring nach Algier. Er schrieb die erste Biografie über Stalin, eine über Mohammed. Und wer diese Bücher heute in die Hand nimmt und liest, wird erstaunt sein, wie gegenwärtig die Sprache ist, wie modern die Gedanken, wie packend der Stil.

Das gilt auch für seine Romane. „Ali und Nino“ ist in etliche Sprachen übersetzt worden. Der Liebesroman über die Blütezeit Bakus und die kulturellen Einflüsse im Kaukasus geht heute noch zu Herzen. Und das nicht als Kitsch, sondern wegen der wunderbaren Sprache und der großartigen Symapthie für die Figuren. Tom Reiss hat eine faszinierende Erzählung über das Europa vor und nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Anhand des Lebens Lev Noussimbaums wird deutlich, was Nationalismus, Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus zerstört haben. Wie die Vielfalt Europas gestutzt und ausgedünnt wurde.

In der Hörbuch-Inszenierung lebt dieses Buch zusätzlich auf. Der kürzlich bei einem Unfall gestorbene Dietmar Mues liest den Text wunderbar. Nina Hoger und Stephan Schad ergänzen Wolfgang Stockmanns Regie. Ein Muss für alle, die mehr über Europa und den Orient erfahren wollen. Und für alle, die diese Weltgegenden erkunden wollen. Die Musik von „Klezmer meets Derwisch“ bringt das zusätzlich zum Ausdruck.

6 CDs sind in schöner Aufmachung bei Griot erschienen und sollen gut 30 Euro kosten.

Fundstück im Antiquariat (1): Walter Mehrings Autograph

Walter Mehrings Autograph
Walter Mehrings Autograph

Es gibt sie noch, diese Glücksmomente in Antiquariaten. Nicht nur das Strahlen eines Menschen, wenn er ein Buch entdeckt, das er sucht. Oder jenes, wenn wir viel mehr zu einem Thema finden, als wir erhofft hatten. Diese Momente gehören zu den wesentlichen Gründen, weshalb der Besuch von Antiquariaten immer schön ist. Und immer gefährlich für den Geldbeutel.

Doch manchmal gibt es diese ganz besonderen Augenblicke, in denen das Herz vor Glück zu rasen beginnt und das Hirn erst einmal nicht glauben will, was das Auge sieht. So einen Moment bescherte der letzte Besuch eines Antiquariats in Kreuzberg. Zusammen mit einer lieben Freundin stand die Suche nach spezieller Reiseliteratur an. Doch dann greift sie bei der deutschen Literatur unter “M” in ein Regal, zieht einen blauen, unspektakulären Band hervor. Und öffnet ihn. Sofort habe ich die Handschrift auf dem Aufdeckblatt erkannt. Und das Herz hüpfte und raste. Ja, meine Hand musste das Buch sofort fühlen – und es ihr deshalb fast schon aus den Händen reißen. Tatsächlich. Es ist seine Schrift. Es ist seine Unterschrift. Es passt die Zeit, in der er viel in München im Hotel lebte und viel in Zürich. Es ist eine Widmung von Walter Mehring! In der Herbig-Ausgabe des “Großen Ketzerbreviers” von 1974. Also von einer eher unbedeutenden Ausgabe.

Wahrscheinlich kann das kaum jemand verstehen. Aber sie hat es verstanden. Und sich genauso mitgefreut. Sie war mir nicht böse, dass ich ihr das Buch nicht lassen konnte. Im Gegenteil. Sie schenkte es mir! Und ich bin jetzt im Besitz des zweiten Buches dieser Ausgabe – aber nun mit dem Autograph des damals, 1975, sehr unglücklichen Walter Mehring.

P.S.: Gesteigert werden diese Glücksmomente in Antiquariaten noch, wenn es eine Entdeckung ist, die sich im Preis nicht niederschlägt. In diesem Fall war es so. Wenige Euro für eine Besonderheit, die noch dazu Seite für Seite immer wieder lesenswert ist.

Weitere Fundstücke im Antiquariat:
Walter Mehrings Autograph
Ludwig Börnes Verhaftung
Kostbarkeiten bei Alfred Polgar
Ein Theaterzettel von 1931
Die Verlustanzeige von Karl Frucht
Andreas Oppermann erinnert 1860 an Palermo

Künstlerische Wagnisse in den späten Zwanzigern

Frank Castorf hat sich nach eigenem Bekunden lange nicht an Mehrings „Der Kaufmann von Berlin“ gewagt. Jetzt hat er das Stück, mit dem Erwin Piscator 1929 den größten Theaterskandal in der Weimarer Republik auf die Bühne brachte, inszeniert. Das Stück erzählt in der beginnenden Weltwirtschaftskrise von der großen Inflation des Jahres 1923. Es beleuchtet die politischen Wirrnisse nach dem Ende des Kaiserreiches. Und es zeigt, wie die Gier nach immer mehr Geld letztlich jeden Menschen korrumpiert. Ein Stoff also, der angesichts von Eurokrise und latent überwundener Weltwirtschaftskrise viele aktuelle Parallelen aufweist.

Zentral ist bei Walter Mehring, dem 1896 als Sohn eines Schriftstellers und einer Opernsängerin geborenen Juden, die Figur des Ostjuden Kaftan. Er kommt mit 100 Dollar ins von der Inflation geplagte Berlin. Da gelingt es ihm, in kürzester Zeit ein Vermögen anzuhäufen. Das tut er ursprünglich, weil er seiner kranken Tochter das Sanatorium in der Schweiz finanzieren will. Aber er verfällt einem Rausch der Gier. Dabei wird er von einem skrupellosen Rechtsanwalt beraten, der Geld für seine Verschwörung gegen die Republik benötigt. Das alles ist sehr dicht geschrieben. Bei Mehring lebt der Text vor allem von der enormen sprachlichen Vielfalt. Das gilt auch für die formalen Aspekte. Mehring hat Traumsequenzen neben Chansons und klassische Guckkastenbühne gestellt. Auf diese Weise verdichtete er die Vielfalt Berlins, der Menschen und gleichzeitigen Ereignisse in der Moderne. Leider reduziert Frank Castorf die Differenzierungen. Mit einem Dauergebrüll der Schauspieler werden die vielen Nuancen Mehrings von einem permanenten Lärmteppich erstickt. Aber Castorf nutzt auch die künstlerischen Aspekte, die ihm entgegenkommen. Natürlich setzt er Videoszenen ein. Erstaunlicher aber ist es, dass Filmelemente schon vor mehr als 80 Jahren im Text vorgesehen waren. Bei der Uraufführung realisierten Erwin Piscator und der ungarische Fotograf László Moholy-Nagy diese Ideen. Moholy-Nagy war als Dozent am Bauhaus davon fasziniert, Licht nicht nur abzubilden, sondern als Element der Kunst selbstständig zu nutzen. Das lässt sich derzeit in einer Ausstellung im Berliner Gropiusbau sehr gut nachvollziehen. Dabei fällt auf, wie Moholy-Nagy sich auf die Strukturierung des Lichts konzentrierte, um mit dessen Schein Bedeutungen zu erzeugen.

Leider zeigt die Ausstellung nichts von Moholy-Nagys Arbeiten für das Bühnenbild des „Kaufmanns von Berlin“. Dennoch lohnt sich der Besuch beider Ereignisse, um eine Vorstellung der Umwälzung der Künste in den späten 20er-Jahren zu bekommen. Wer sich dann noch die 2009 erschienene Ausgabe von Mehrings Stücks im Niemeyer-Verlag gönnt, der stößt auf einen Text, aus dem nicht nur ein vierstündiges Theaterspektakel mit Sophie Rois und Dieter Mann gemacht werden kann. Eigentlich steckt darin ein Mehrteiler fürs Fernsehen, bei dem all die optischen Versuche Moholy-Nagys sehr gut aufgehoben wären.

MOZ-Text…