Mehmet Scholl analysiert mit Liebe zum Spiel

Was der Jogi Löw macht, kann nicht so falsch sein. Das denken sich offenbar die Chefs der öffentlich-rechtlichen Sender. Löw spielt mit einem festen Bayern-Block. Das ZDF bringt Oliver Kahn als Experten vor die Kamera. Und die ARD hat Mehmet Scholl verpflichtet. Wenn schon Experte, dann von den Bayern?

Beim ZDF geht das nicht auf. Oliver Kahn ist ein zielmicher Ausfall, wenn es um eine gute Analyse geht. Aber bei der ARD funktioniert der Trick mit den Bayern schon. Da heißt der Experte Mehmet Scholl. Der war nicht nur ein begnadeter, differenzierter Spieler. Er war auch Trainer der zweiten Mannchaft des FC Bayern. Und er ist einer jener Fußballer, die mehr im Blick haben als den Ball. Genau das merkt der Zuschauer immer wieder.

Natürlich spricht Scholl vor allem über Fußball. Aber seine Vergleiche zeugen von seiner Neugier auf das Leben außerhalb des Stadions. Das unterscheidet ihn wohltuend von Oliver Kahn. Dessen Horizont reicht auch heute noch kaum über das eigene Ich. und wenn, dann allenfalls bis zur Mittellinie.

Scholl war schon in seiner aktiven Zeit einer dieser Spieler, die bei der aktuellen Nationalmannschaft gerade so gelobt werden. Einer dieser Akteure, für die der Ball nie ein Feind, sondern immer ein Freund war, der eher mit dem Fuß gestreichelt als getreten wurde. Seine Analyse ist von der gleichen Empathie für das Spiel geprägt. Er qualifiziert nicht ab, sondern lobt eher. Und da, wo nichts gelobt werden kann, da spricht Scholl dann lieber von etwas anderem. Dadurch erzeugt er ein sicheres, angenehmes Klima, in dem nicht einmal Reinhold Beckmann seltsame Vergleiche machen kann. Mehment Scholl prägt dieses Paar stärker als der Profi-Moderator. Das ist ein Gewinn für das gesamte Team – und nach der Verrentung von Netzer und Delling eine echte Perspektive.

Sylvie van der Vaart muss öffentlich privatisieren

Jürgen Klopp und Günther Jauch sind ein wunderbares Duo. Sie haben nur ein Problem: Beide sind Männer. Sie können zwar treffend über Fussball in der Halbzeitpause und nach dem Spiel parlieren, aber ist das genug? Das zumindest müssen sich die RTL-Verantwortlichen gefragt haben. Im Fernsehen etwas fürs Auge zu präsentieren, müsste doch möglich sein. Noch dazu, wenn man mit Sylvie van der Vaart eine recht hübsche Blondine im Angebot hat, deren Mann als holländischer Nationalspieler in Südafrika zur startelf gehört.

So weit zur Idee. Doch was mussten die armen Zuschauer dann erleben: Vor Millionen-Publikum sollten Sylvie und Rafael turteln. Sie gaben sich auch Mühe. Doch vor allem Rafael war das RTL-Setting offensichtlich sehr suspekt. Und so freute er sich sichtlich, als Slyvie in fragte, ob er tatsächlich eine Elfmeter verschuldet habe? Richtig erleichtert kam sein Ja. Er spricht wohl – völlig zurecht – lieber über Fussball im Fernsehen als über Gefühle.

Die durften natürlich nicht zu kurz kommen, mussten angesprochen werden. Ein Glück, dass sie da kurz ins Niederländische ausweichen konnten. Souverän sind Jürgen Klopp und Günther Jauch mit dieser Form des Privat-Fernsehens umgegangen. Sie ließen Sylivie einfach allein auf der großen Bühne vor dem Aachener Rathaus stehen. Bei so viel öffentlicher Intimität wollten sie nicht stören.

Frau van der Vaart hat übrigens das beste aus der blöden Situation gemacht. Der Spagat zwischen dem Arbeitgeber RTL und dessen Voyeurismus-Sucht auf der einen Seite und Professionalität vor der Kamera auf der anderen hat sie ganz gut gemeistert.

Jussi Adler Olsen hat am Ende Erbarmen

Jussi Adler Olson: Erbramen
Jussi Adler Olson: Erbramen

Seit Monaten ist dieser Krimi in den Bestsellerlisten ganz oben: „Erbarmen“ von Jussi Adler Olsen. Der dänische Kommissar Carl MØrck hat das Zeug, ein würdiger und vor allem erfolgreicher Nachfolger von Henning Mankells Wallander zu werden.

Carl MØrck soll eigentlich gar nicht mehr ermitteln. Nach einem verpatzten Einsatz, bei dem ein Kollege stirbt und sein bester Freund nur mit Querschnittlähmung überlebt, ist er ein Wrack. Seine Chefs wollen ihn abschieben und gründen das Sonderderzernat Q, das sich mit nie aufgeklärten Fällen befassen soll. Der erste handelt vom Verschwinden eine jungen Politikerin vor fünf Jahren.

Carl MØrck will zunächst nicht richtig ermitteln, doch sein Instinkt lässt ihn nicht ruhen. Er nimmt die Fährte auf, lernt seinen Gehilfen, einen Migranten aus Syrien mit dem absurden Namen Hafis Assad, an. Aus Olsens Laboraufstellung entwickelt der Däne einen beklemmenden Roman, der mehr ist als nur ein spannender Krimi. Olson nutzt das Genre für einen Gesellschaftsroman, der Kriminalität in ihren unterschiedlichen Dimensionen und Ausprägungen thematisiert.

Natürlich ist die die Figur des Kommissars gebrochen. Selbstverständlich ist er kein großer Sympathieträger. Und dennoch entwickelt der Leser sehr bald Verständnis, später sogar Respekt vor der Figur. Und wenn Olson so weiter macht, kann daraus sicher einmal echte Zuneigung werden.

MOZ-Rezension…

ZDF zeigt Werbung statt Fußball-Expertise

Wenn es 90 Sekunden waren, dann war es viel. Das ZDF hat Oliver Kahn und Kathrin Müller-Hohenstein in der Pause des Spiels Deutschland gegen Serbien kaum zu Wort kommen lassen. Stattdessen bombadierte der öffentlich-rechtliche Sender die Gebührenzahler mit Werbung.

Werbepreise während des WM-Spiels Deutschland – Serbien. © ZDF

Nun ist es ja nicht ganz so schlimm, wenn Oliver Kahn nicht zu Wort kommt. Seine Anmerkungen bereichern einen Fußballnachmittag nicht sonderlich. Doch dass Kahn durch Werbung ersetzt wird, ist schon ein starkes Stück. Immerhin ist das ZDF durch Gebühren finanziert. Der Zuschauer hat eigentlich ein recht darauf, informiert zu werden. Und nicht mit Werbung zugedröhnt.

Natürlich ist es verständlich, dass viele Werbetreibenden genau in der Pause des deutschen Spiels gezeigt werden wollen. Auch klar, dass die Preise dafür recht hoch sind. Aber dennoch muss das ZDF seinen Informationsanspruch gerecht werden. Eine Begrenzung auf höchstens die Hälfte der 15 Minuten Pause muss für Werbung genügen. Wo ist sonst noch der Unterschied zum privaten Fernsehen?

Wenn es aber keinen Unterschied in der Präsentation gibt. Wenn Werbung das Geschehen bestimmt, dann muss das ZDF auch nicht mehr Unsummen an die FIFA überweisen. Das könnten die öffentlich-rechtlichen Sender dann den privaten überlassen. Und so richtig viel Geld sparen.

Phrasen-Bela zieht all seine Register

Bela Rethy. Foto: ZDF
Bela Rethy. Foto: ZDF

Soll Deutschland tatsächlich ins Finale kommen? Eigentlich wäre das ja schön. Eigentlich! Wenn da nicht Bela Rethy wäre. Denn unser aller Freude würde massiv durch ihn getrübt. Der alte ZDF-Kämpe darf nämlich das Finale kommentieren. Wir alle sind seine Opfer. Bei einer Partie, die uns nur halb interessiert, wäre das zu ertragen. Aber bei einem Finale mit deutscher Beteiligung? Während das DFB-Team souverän und leicht spielte, qäulte sich Bela Rethy wieder einmal über die 90 Miniuten. Während bei Schweinsteiger und Co. die meisten Kombinationen klappten, verhedderte sich Rethy in seinen Phrasen. Erhellendes ist von ihm nicht zu erwarten.

Doch manchmal blitzt sein Witz, den er auch bei Live-Veranstaltungen hat, auf. Dann kann er gegen Ende des Spiels sogar Scherze machen, die in der nun entspannten Freude des Zuschauers auf Wohlgefallen stoßen. Aber solche Scherze haben nichts mit Bela Rethys Wissen zu tun. Denn das ist unterirdisch. Rethy weiß zum Beispiel nicht, dass Trochowski gegen Bosnien in der DFB-Startelf war. Und nicht Müller. Aber wahrscheinlich ist das für das ZDF auch nicht so wichtig. Wer nur Senioren als Publikum hat, geht offenbar davon aus, dass alle Zuschauer senil sind. Und sich über den einen gelungen Scherz mehr freuen als über 90 Minuten Peinlichkeiten.

Gerd Gottlob nervt beim Eröffnungsspiel

Das Auftaktspiel der WM 2010 bleibt nur wegen des neuen Sounds in Erinnerung. Spielerisch war Südafrika gegen Mexiko keine Offenbarung. Genauso wenig wie die Moderation von Gerd Gottlob. Der hat sich den monotonen Vuvuzela-Sound als Vorbild genommen.

Auf dem viel zu fetten Bassteppich sorgt er für keinerlei stimmliche Variation, sondern nur für Monotonie. In der ersten Halbzeit herrscht reine Sachlichkeit. Fast so, als wäre Gottlobs Moderation eine Lage Fliesen auf dem Teppich. In der zweiten Halbzeit dann entdeckt der ARD-Mann die Gefühle. Doch selbst erregt, kann Gottlob nicht differenzieren. Jetzt ist alles gleich aufregend. Über dem Vuvuzela-Bass tönt ein schriller Gottlob.

Ansonsten beschränkte sich der Moderator auf die Beschreibung des Geschehens auf dem Platz. Informationen über die Spieler, ihre Karriere oder Herkunft streute er so gut wie gar nicht ein. Schade eigentlich. Vielleicht wäre dann etwas Abwechslung zu hören gewesen.

Information: 5 Abwechslung: 5 Zurückhaltung: 2 Gesamtnote: 4

Florian König und Jürgen Klinsmann: Es schwäbelt nur selten

Wenn er was sagt, dann hat es Hand und Fuß. Jürgen Klinsmanns Expertise beim WM-Spiel Uruguay – Frankreich ist schon beeindruckend. Er bringt seine Gedanken schnell auf den Punkt. Das muss er auch. Denn Florian König scheint sich von Klinsmanns Anwesenheit gestört zu fühlen. Zu Wort kommen lässt er den ehemaligen Teamchef der deutschen Nationalmannschaft nämlich nicht. Da König das Spiel souverän kommentiert, ist das nicht ganz so schlimm. König kann mehr, als nur das Geschehen wiederzugeben. Er interpretiert die Entwicklung des Spiels, weiß die entscheidenden Momente sofort zu bennen – und nicht erst im Rückblick. Es stellt sich aber die Frage, weshalb so ein hochkarätiger Fachmann wie Klinsmann nur als Statist zu erleben ist. Nervt König, dass RTL einen weiteren Mann neben ihn setzt? Hat Klinsmann nicht mehr zu sagen, als die gefühlten fünf Sätze pro Halbzeit? Oder wartet Klinsmann auf die erste Königsche Panne, um sich dann richtig in Szene setzen zu können? Es bleibt spannend, wie das Team mit der Situation in den nächsten Partien umgeht.

Teamplay: 5 Knowhow: 1 Unterhaltungswert: 2 Gesamtwertung: 3

Mit Lenin über die Alpen

Lenins Reise von Zürich über Deutschland nach Petersburg hat 1917 Geschichte geschrieben. Seine Reise durch Europa als Denkmal erzeugte nicht nur surreale Eindrücke, sondern sie regte auch Debatten über Geschichte und Denkmäler an.

Rudolf Herz hat im Jahr 2004 die Büsten des Dresdner Lenin-Denkmals auf einen Auflieger geschnallt und ist damit durch Europa gefahren. Der aus dem Allgäu stammende Künstler wollte das Denkmal in neue Zusammenhänge rücken. Und so Diskussionen über das Wirken des Revolutionärs und Begründers der sowjetischen Diktatur provozieren. Im kürzlich erschienen Buch „Lenin on Tour“ hat Herz die Reise dokumentiert. Fotos von Reinhard Matz und Irena Wunsch setzen den Reisenden Lenin mit seinen Genossen Rotfrontkämpfer und Arbeiter in surreale Bezüge.

Vor dem Dresdner Hauptbahnhof wurde das Monumentaldenkmal von Grigorij Jastrebenetzkij aus dem damaligen Leningrad 1974 aufgestellt. Mit seinen gigantischen Ausmaßen dominierten Lenin und die beiden anderen Figuren den Platz bis 1992. Dann wurde das Denkmal geschleift, in Einzelstücke zerlegt und schließlich von einem Sammler aus Baden-Württemberg gekauft. Die Stadt Dresden hatte sich so von Stein gewordener kommunistischer Ideologie befreit. Die friedliche Revolution von 1989 säuberte den öffentlichen Raum, um ihn nicht mehr mit den Geschichtssymbolen der Diktatur zu belasten.

Rudolf Herz nun hat mehr als eine Dekade später diesen Lenin neu in Szene gesetzt. Nur die Köpfe und Schultern des alten Denkmals wurden auf dem Auflieger platziert. Die roten Spanngurte fesselten die streng blickenden Kommunisten. Schon dies allein hätte genug Symbolik, um den Betrachter zu verblüffen und zu verunsichern. Doch Herzens Idee, diese aus der Zeit gefallenen Mahner in Bewegung zu setzen und somit ständig in neuen Umgebungen zu zeigen, war genial.

Der gefesselte Lenin vor einer Bank in Zürich ist nicht nur eine faszinierende historische Reminiszenz an sein Exil. Dieses Bild erzeugt darüber hinaus eine enorme Sprengkraft. Lenin neben einem Dessous-Plakat mit einer leicht bekleideten Frau irritiert einfach. Und Lenins Blick auf die Reste der Berliner Mauer an der Berliner Eastside-Gallery sorgt für Zorn und Ratlosigkeit. Wer die Bilder des Buches betrachtet, kann sich solchen Gefühlen nicht entziehen. Dafür ist Lenin noch zu wirkungsmächtig.

Das ging offensichtlich auch den Passanten so, die über den ungewohnten Anblick diskutierten. Das taten sie überall. Einige reckten spontan die linke Faust, andere erschraken. Wieder andere diskutierten über Lenins gute Ideen und deren Entartung. Wirklich unbeeindruckt ließ der Anblick des von seinem Denkmal entrückten Lenin niemanden.

Das Buch bündelt alle diese Reaktionen ebenso wie eine Reihe kürzerer Essays zum Thema Denkmäler und Erinnerungskultur. Der spannendste Aspekt der Lenin-Road¬show ist sicherlich, dass die Konfrontation mit dem Unerwarteten Reaktionen herausfordert. Stünde der Lenin nach wie vor in Dresden, wäre die Wirkung eine andere. Er würde den öffentlichen Raum angesichts seiner Monströsität verunstalten. Auch weil ein Gedenken an Lenins Wirken heute die Trauer über die Abermillionen Opfer der Revolution und der Sowjetunion in den Mittelpunkt rücken müsste.

Rudolf Herz: „Lenin on Tour“, Steidl, 272 S., 35 Euro

Wolfgang Gerke hofft auf einen Gewinn von Klugheit

Staaten machen Schulden (moz) Damit belasten sie kommende Generationen. Denn die müssen nicht nur die Schulden, sondern auch anfallende Zinsen bezahlen. Andreas Oppermann hat mit Wolfgang Gerke, dem Chef des Bayerischen Finanz Zentrums über Staatsschulden, private Banken und Spekulation gesprochen.

Herr Gerke, warum zahlt der Staat Zinsen an private Banken, wenn er sich Geld leiht?

Wolfgang Gerke: Selbstverständlich muss auch der Staat Zinsen bezahlen, wenn er Geld haben möchte. Das war früher schon bei den Fürsten so. Wenn die Fürsten Geld haben wollten, was sie nicht hatten, dann sind sie zu Herrn Fugger gegangen und haben dafür Zins zahlen müssen. Daran hat sich seit dieser Zeit nichts geändert.

Private Banken leihen sich ihr Geld bei den Zentralbanken, bei uns der Bundesbank, einer staatlichen Bank?

Nein, die privaten Banken holen sich ihr Geld erst einmal bei den Einlegern und sie können sich kurzfristig Geld bei der Bundesbank leihen oder bei der Europäischen Zentralbank, der EZB. Dafür müssen sie auch Zinsen bezahlen..

Aber diese Zinssätze sind niedriger als die Zinsen, die sie von Staaten verlangen.

Das ist richtig. Dafür sind auch hohe Anforderungen an die Sicherheiten gegeben, die man dann stellen muss. Dafür kommen spezielle Papiere in Frage. Also ist dieser Kredit vom Risiko her ein anderer Kredit als ein Kredit an ein mittelständisches Unternehmen oder einen Privatmann.

Aber warum leihen sich die Staaten das Geld dann nicht von ihren Zentralbanken? Das wäre doch günstiger.

Die Staaten bekommen auch Geld von der Bundesbank, wenn diese beispielsweise ihre Gewinne in den Staatshaushalt abführt. Zur Geldbeschaffung gehen die Staaten einen noch geschickteren Weg. Sie leihen sich ihr Geld auch direkt bei den Bürgern, indem sie Anleihen emittieren. Diese Anleihen werden gezeichnet von jedem, der es will. Man kann sich sogar in Bad Homburg ein Konto ohne Kontoführungsgebühren beim Staat für diese Anleihen einrichten.

Sind die Zinssätze, die da bezahlt werden, höher als die, die Banken bezahlen müssten, wenn sie Geld bei der Bundesbank oder der EZB leihen?

Diese Zinsen sind für Deutschland noch relativ günstig, weil Deutschland ein sehr guter Schuldner ist. Als solcher ist Deutschland mit Tripel-A geratet. Das ist die beste Ratingstufe, mit der Schuldner bewertet werden können. Dennoch ist der Zinssatz bei privaten Banken höher, als das Geld, das man von der Bundesbank bekommt.

Und warum wird das dann nicht gemacht?

Das Geld der Bundesbank würde dem Staat nicht helfen, weil es nur kurzfristige Gelder sind. Bundesanleihen dagegen laufen über einige Jahre. Wenn der Finanzminister Geld nur für wenige Wochen bekommt, dann hilft das nicht, um einen Staatshaushalt zu finanzieren.

Haben die Spekulationen mit dem Euro wegen der Griechenland-Krise Auswirkungen auf Deutschland?

Leider ja. Der Euro ist dadurch schwächer geworden, glücklicherweise haben sich die Zinsen für die Bundesrepublik Deutschland als Emittent von Anleihen dadurch nicht verschlechtert. Aber wir sitzen in einem Boot und das wirkt sich auf alle Staaten aus, die eine stabilere Haushaltspolitik betrieben haben.

Greifen jetzt wieder die gleichen Mechanismen, die zur großen Finanzkrise 2008 geführt haben?

Da ist im Bezug auf Währungsspekulationen falsch, was die Ursachen der letzten Finanzkrise angeht aber leider richtig. Die vergangene Finanzkrise ist nicht durch gierige Banker ausgelöst worden, sondern durch die amerikanische Notenbank, die die Märkte mit sehr viel mehr billigem Geld geflutet hat, als nötig gewesen wäre. Und darauf haben dann die Banker spekuliert. Im Moment besteht die Gefahr, dass wir mit einem riesigen Haushaltsdefizit und mit billigem Geld die nächste Blase und damit den nächsten Finanzcrash produzieren.

Muss das sein?

Ich habe aber die Hoffnung, dass man jetzt klüger geworden ist. Die US-Notenbank hat mit ihrer leichten Zinserhöhung das richtige Signal gegeben.

Bislang hat die Politik nur angekündigt, Banken stärker zu regulieren. Passiert ist nichts.

Es hat Veränderungen gegeben, aber die wichtigsten Schritte sind noch nicht vollzogen. Die Debatte über eine Finanztransaktionssteuer oder gar eine spezielle Bankensteuer geht sogar in die falsche Richtung. Damit bedienen sich nur die Finanzminister. Es wäre viel sinnvoller, Banken bei riskanten Geschäften zu zwingen ein dickeres Risikopolster als Eigenkapital vorzuhalten. Wichtig wäre auch ein stärkerer Einlagesicherungsfonds für Krisenzeiten. Aber Transaktionssteuern oder Sonderabgaben bezahlen letztlich die Sparer und Kreditnehmer.

Aber es ist doch berechtigt, dass der Steuerzahler das Geld wieder zurückbekommt, das Banken gegeben wurde.

Das ist richtig. Die Banken müssen das Geld ja zurückzahlen. Sie haben es nicht geschenkt bekommen. In der Debatte ist ein falscher Zungenschlag drin. Es darf tatsächlich nicht wieder passieren, dass der Steuerzahler in die Bresche springen muss. Nur das erreicht man nicht, indem man jetzt Sonderbesteuerungen für Banken einführt oder eine Finanztransaktionssteuer einführt. Da trifft man auch diejenigen, die ihr Geld in einen Fonds für Altersvorsorge angelegt haben. Nein, das muss am richtigen Ort tun, nämlich in den Banken selber und in den Sicherungssystemen der Banken.

Sorgen Sie sich vor der nächsten Finanzkrise?

Ja, aber als Optimist glaube ich auch, dass sie zu verhindern ist.

Wie viel Zeit bleibt?

Ich glaube nicht, dass viel mehr als zweieinhalb Jahre bleiben.

Wolfgang Gerke (66) ist seit 2006 Präsident des Bayerischen Finanz Zentrums. Seine Aufgabe ist es dabei, Wissenschaft und Finanzwirtschaft zu vernetzen. Die Voraussetzung dafür erwarb er sich seit seiner Habilitation 1978 an der Universität Frankfurt/Main. Anschließend war er Professor für Banken- und Finanzwesen an den Universitäten Passau, Mannheim und Nürnberg-Erlangen. Der gebürtige Cuxhavener versteht es, komplexe Sachverhalte anschaulich zu erklären. Gerke war auch Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Die Betriebswirtschaft“.

MOZ-Interview…

Westerwelles Wissen stammt aus Sandalenfilmen

Guido Westerwelle hat mit einem einzigen Begriff Aufregung in die Sozialstaatsdebatte gebracht. Im Zusammenhang mit der Hartz-IV-Problematik sprach der Vizekanzler von „spätrömischer Dekadenz“. Andreas Oppermann hat sich über den Begriff und die Tradition der Untergangsbeschwörung mit dem Schriftsteller Gerhard Henschel unterhalten.

Herr Henschel, Sie haben ein Buch über Dekadenz geschrieben, warum?

Gerhard Henschel: Ich habe mich oft über Widersprüche zwischen Biografie und Thesen von Apokalyptikern amüsiert.

Es ist schon spannend, dass zu allen Zeiten der Niedergang gepredigt wurde.

Die gute alte Zeit wurde immer als Zeit beschworen, in der alles schicklich und sittlich zugegangen sei. Wir kennen alle die Rede von der Jugend von heute, die angeblich viel schlechter sei als die von damals. Aber dieses Damals lässt sich historisch nie ermitteln, weil jede Generation eine solche schriftliche Überlieferung hinterlassen hat. Es wurde immer gleich angeklagt.

Das heißt, es gibt gar keinen Niedergang?

Es gab sicher Zeiten, in denen das gestimmt haben mag, zumindest teilweise. Es hängt aber davon ab, was man unter Niedergang versteht. Wenn Leute einen Niedergang darin zu erkennen glauben, dass wir jetzt einen homosexuellen Außenminister haben, sieht das ganz anders aus, als wenn Menschen den Niedergang der Tischmanieren beklagen oder das Ausmaß der Umweltzerstörung als Symptom des Verfalls meinen.

Spüren Sie persönlich Niedergang?

Ich selbst bin nicht ganz frei von kulturpessimistischen Anwandlungen. Vor etwa 30, 40 Jahren lag in vornehmen Hotels die „Bild“-Zeitung nicht aus. Und zwar einfach aus Anstand. Das hat sich gründlich geändert.

Ist die Rede vom Niedergang mit dem Verweis auf Dekadenz immer politisch?

Der Verweis kann politisch sein, aber auch gesellschaftskritisch oder theologisch. Und es gibt sicherlich viele Apokalyptiker, die sich gegenseitig überhaupt nicht ausstehen können, weil sie genau in entgegengesetzten Entwicklungen den Niedergang erkennen.

Es ist aber neu, dass Liberale wie Guido Westerwelle zu Apokalyptikern werden.

Ja, er klagt ja die spätrömische Dekadenz an. Ich weiß nicht, was Guido Westerwelle über die spätrömische Dekadenz weiß. Ich vermute allerdings, er kennt sie hauptsächlich aus Sandalenfilmen, vielleicht aus Quo vadis, in dem Peter Ustinov den Nero verkörperte. Ich fand die Replik Heiner Geißlers sehr hübsch, der darauf hinwies, dass im dekadenten Rom tatsächlich ein Esel zum Konsul ernannt worden sei und wir jetzt einen Esel als Außenminister hätten.

Der Verweis auf angebliche Dekadenz ist doch immer ein Akt der Restauration. Wie passt das zu Liberalen?

Erstaunlicherweise hat gerade Guido Westerwelle von der sexuellen Liberalisierung und der Entkriminalisierung der Homosexualität profitiert. Es ist tatsächlich erstaunlich zu erleben, in wessen Horn er jetzt tutet.

War ihm das bewusst?

Dafür kenne ich Herrn Westerwelle nicht gut genug. Was ihm auf alle Fälle gelungen ist, ist das Anzetteln einer breiten und munteren Debatte. Vielleicht wollte er sich einfach auch nur ins Gespräch bringen. Wenn es darum gegangen ist, war sein PR-Gag erfolgreich.

Gab es Zeiten, wo der Hinweis auf Verfall nicht greifen konnte, weil eine Aufbruchstimmung alles überdeckte?

Der beklagte Verfall ist immer präsent. Die Frage ist natürlich: Wie hat er gewirkt? Es gab weder im Mittelalter noch in der frühen Neuzeit oder gar in der Antike Meinungsforschungsinstitute, mit deren Ergebnissen sich das beurteilen ließe. Aber wenn die Kirchenväter predigten, dass die Sitten im grauenhaften Verfall befindlich seien, wird es die Gemeinde vermutlich schon geglaubt haben.

Historiker wissen, dass Dinge, die besonders oft verboten wurden, offensichtlich be- sonders gern praktiziert wurden.

Ja, allerdings. Es ist ja so: Das, was verboten ist, macht uns gerade scharf. Die stetige Erneuerung des Verbots der Heirat und des Beischlafs zwischen Juden und Christen durch die frühen Kirchenkonzile deutet natürlich darauf hin, dass diese Gesetzgebung verhältnismäßig erfolglos gewesen ist. Sonst wäre sie nicht ständig erneuert worden.

Der Verweis auf Dekadenz ist ein Kampfbegriff, um sich abzugrenzen. Ist er deshalb auch gleich gefährlich?

Man sollte sich hüten, zu einfältig mit kulturpessimistischem Gedankengut zu hantieren. Allzu oft sind die Kulturpessimisten vom Gang der Dinge widerlegt worden. Aber es gibt auch Ausnahmen: Wer beispielsweise 1938 einen Weltuntergang aus politischen Gründen vorhergesagt hätte, der hätte wahrlich mehr als Recht behalten.

In der Auseinandersetzung um Zuwanderung und Migration sind viele kulturpessimistische Argumente zu hören. Dort geht es um Christen und Muslime.

Man erkennt in den apokalyptischen Reden mancher muslimischer Fundamentalisten genau das gleiche Muster wider, wie jene, die von den Kirchenvätern bemüht wurden. Im Prinzip deckt es sich alles durchaus. Jedenfalls so weit es sich auf die Vermutung bezieht, dass der Weltuntergang wegen sexueller Libertinage bevorstehe.

Erringt die Warnung vor dem Untergang leichter die Meinungshoheit als eine realistische Sicht der Dinge?

Die Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die propagandistisch auf die Tube drücken, in der Regel größeren Anklang bei den Massen finden als die nüchternen Zeitdiagnostiker. Da hat sich manches sicherlich zum Besseren verändert. Ein Schreihals, wie Adolf Hitler beispielsweise, hätte heutzutage in Deutschland vermutlich nur wenige Anhänger, die er um sich scharen könnte. Da hat sich durchaus etwas verändert.

Gerhard Henschel (48) ist Schriftsteller und Übersetzer. Er war Redakteur des Satiremagazins „Titanic“ und machte sich als Autor der Bücher „Kindheitsroman“ und „Jugendroman“ einen Namen. Bekannt wurde er auch durch eine Satire über das Geschlechtsteil des „Bild“-Chefredakteurs Kai Diekmann in der „Tageszeitung“. Diekmann verklagte ihn erfolglos auf 30 000 Euro Schmerzensgeld. Henschels aktuelles Buch heißt „Menetekel – 3000 Jahre Untergang des Abendlandes“.

MOZ-Interview…

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