Christoph Ransmayr kartografiert die Ängste eines Mannes

Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes
Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes

70 kurze Erzählungen hat Christoph Ransmayr in seinem neuen Buch versammelt. Alle beginnen mit „Ich sah“. Alle schildern Begebenheiten, die Ransmayr selbst erlebt hat. Bis auf eine. Sie beruht auf einem Erlebnis seiner langjährigen Partnerin, die sie als Kind erlebte. Aber auch sie hat mit ihm zu tun. Mit seiner Wahrnehmung einer bestimmten Ecke Österreichs am Inn. Und mit Ängsten.

„Atlas eines ängstlichen Mannes“ heißt das Buch, das sehr persönlich ist. Lediglich in einigen dünnen Bänden seiner Reihe „Spielformen des Erzählens“ gibt er so viel von sich preis, wie in diesem außergewöhnlichem Band. Die Ereignisse, die Ransmayr zu Parabeln über die Angst, die Hoffnung und vor allem über die besonderen Augenblicke des Lebens verdichtet, spielen in der ganzen Welt. Ransmayer sah auf den Osterinseln und in Tibet, in der österreichischen Heimat und in Sibirien, in Peru und in China und in vielen anderen Weltgegenden. Wann er sah und beschrieb, ist nicht so wichtig. Ransmayer hebt die Begebenheiten in eine dichterische Gegenwart, die sich oft nicht real zeitlich festmachen lässt. Fast so, wie in seinem zweiten Roman „Die letzte Welt„, der zwar in der römischen Antike spielt, aber dennoch Kinovorführer und andere Dinge der Gegenwart kennt.

Der „Atlas eines ängstlichen Mannes“ ist keine klassische Reise-Literatur. Auch wenn die Geschichten auf Reisen ihren Ausgangspunkt nehmen. Wenn überhaupt ist es Buch über die Lebensreise von Christoph Ransmayr, das verdeutlicht, wie das Beobachten, das Sehen das Leben bestimmt, wenn man seine Umgebung wahrnimmt. Ransmayr schildert keine Höchstleistungen, auch wenn er zum Beispiel 1500 Kilometer durch Tibet und China wanderte. Er schildert zwar auch extreme Situationen, etwa den Beschuss durch einen Kampfjet in Peru. Aber all das sind nur Momente, in denen er beobachtet, was das Leben mit ihm und den Menschen, der Natur macht. Und dieses „nur“ ist so packend, dass die Geschichten trotz des immer gleichen Anfangs einen ungeheuren Sog entwickeln, weil sie den Leser teilhaben lassen. Und das im Wortsinne. „Atlas eines ängstlichen Mannes“ ist ein großes Buch, wieder in einer neuen erzählerischen Form – wie alle Bücher von Christoph Ransmayr.

Mehr von Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Unsichtbare
Die Wolfsjäger

Die Unsichtbare bekommt von Christoph Ransmayr eine Stimme

Christoph Ransmayr: Die Unsichtbare
Christoph Ransmayr: Die Unsichtbare

Sie ist unsichtbar. Sie war Bibliothekarin, verschwunden in Büchern. Jetzt ist sie Souffleuse in einem Theater. Ans Licht kommt sie nur selten. Und dann entlädt sich all die aufgestaute Wut, der Ärger, der sich im Dunkeln aufgestaut hat. In Christoph Ransmayrs „Die Unsichtbare“ bekommt sie eine Stimme, eine leise, eine laute, eine suchende und eine verfluchende – eine menschliche, sehr menschliche.

Ransmayrs Bühnenstück lebt vom Erleben dieser einen Frau, die von einem Beleuchter zum Theater gebracht wird. Er, der die Schauspieler leuchten lässt, bringt auch sie zum Strahlen. Seine Aufmerksamkeit weckt ihre Gefühle. Seine Wärme erfüllt sie. Sie beginnt ihn zu lieben – und folgt ihm ins Theater. Aber der Beleuchter ist kein steter Wärmespender, Ins-Licht-Rücker. Wechselhaft wie das Aufscheinen seines Verfolgers ist auch sein männliches Interesse an der Bibliothekarin, die jetzt in dunklen Kisten stockenden Schauspielern über die Klippen der Vergesslichkeit hinweghilft.

In drei Akten erzählt die Frau ihre Geschichte. Ihre Tirade ist eine Abrechnung mit dem Leben am Beispiel des Theaters. Ransmayr packt die Verzweiflung, das Böse, die verblassende Freude und die erloschene Liebe in sprachlich ungeheuer komprimierte Bilder aus dem Theaterleben. Die Prosa hat einen treibenden Rhythmus, fast so, als wäre der Text in Versen geschrieben. Das hat Kraft und liest sich in einem Aufzug. So sehr drückt und fesselt die Tirade der Unsichtbaren. Etwa wenn sie darüber philosophiert, wie es sich anfühlt, verlassen zu werden:

„Ein Liebender, der verlassen wird, ist einsamer als der letzte Mensch, drängt doch alles in ihm dem Verlorenen nach und läßt ihn nicht los, reißt an ihm, raubt ihm den Schlaf, alle Lebenslust. Selbst ein Schiffbrüchiger auf seinem Floß und noch der einzige Überlebende in der Wüste weiß wenigstens, worum er kämpft und worauf er hofft; auf einen Weg zu den Menschen. Aber den Verlassenen schlägt nur die Gewißheit, daß ihn auch am Ende eines Wegs durch die Wüste nichts mehr erwartet als die Einsamkeit. Umdrängt von Menschen und dennoch allein.“

Mehr über Christoph Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Wolfsjäger 
Atlas eines ängstlichen Mannes

Ransmayr und Pollack intonieren drei polnische Duette

Christoph Ransmayr / Martin Pollack: Der Wolfsjäger
Christoph Ransmayr / Martin Pollack: Der Wolfsjäger

Christoph Ransmayr probiert die Möglichkeiten der Literatur aus. Neben seinen großen Romanen wie „Die letzte Welt“ schreibt er auch die kleinen Formen als lose Folge unter dem Titel „Spielformen des Erzählens“. „Die Unsichtbare“ ist ein Theaterstück, „Die dritte Luft“ eine Rede oder „Damen &  Herren unter Wasser“ eine Bildergeschichte. Zusammen mit Martin Pollack hat er „Die Wolfsjäger“ geschrieben.

„Drei polnische Duette“ hat der schmale Band als Untertitel. Das ist irreführend, denn es handelt sich bei den drei Texten nicht um Gedichte. Vielmehr haben die beiden drei Erzählungen zusammen geschrieben. Ort der Handlungen ist die polnische Grenzregion zur Ukraine und zur Slowakei. Ein Landstrich, in dem der zweite Weltkrieg länger dauerte als anderswo. Hier kämpfte eine ukrainische Untergrundarmee noch einige Jahre gegen die Grenzverschiebungen und den Stalinismus.

Nachdem die Nazis schon ganze Dörfer ausgerottet hatten, kam es so zu einer weiteren Welle der Gewalt, der Vertreibung und der Auslöschung ganzer Dörfer. Martin Pollack hat die Gegend in seinem Buch „Warum wurden die Stanislaws erschossen“ beschrieben. Mit Christoph Ransmayr war er später dann auf Wanderschaft in den polnischen Karparten. Der war neugierig auf diese so nahe, mitteleuropäische Region, die uns doch weiter weg erscheint als die Türkei oder die Tauchreviere im Roten Meer.

Entstanden sind drei dichte Texte darüber, wie die Wunden der Vergangenheit nur oberflächlich heilen. Texte, in denen die Natur genauso wie die Geschichte dominanter ins Leben des Einzelnen eingreifen als die Moderne. Es entstehen Szenen, die an die mythologische Dimension von „Die letzte Welt“ und an die kompakten Reportagen Pollacks erinnern, ja aus einem Geflecht dieser Komponenten einen Text weben, in dem beide Stimmen ihre Solo-Kraft verlieren, um wahrlich ein großes Duett zu erzeugen.

Mehr von Ransmayr:
Die letzte Welt
Die Unsichtbare
Atlas eines ängstlichen Mannes

Der Nachlass von W.G. Sebald entführt auf den Campo Santo in Korsika

W.G. Sebald: Campo Santo
W.G. Sebald: Campo Santo

W.G. Sebalds (1944 – 2001) letztes Buch handelt von einem Besuch auf Korsika. Er beobachtet die Totenverehrung der Korsen, den Napoleon-Kult in Ajacco und die ökologischen Veränderungen durch die Rodungen des Hochwalds. Vier Kapitel dieses Buches sind in „Campo Santo“ abgedruckt. Mehr konnten es leider nicht werden. Denn mitten in der Arbeit an diesem Buch ist W.G. Sebald 2001 bei einem Autounfall gestorben.

Zwei Jahre später hat der Fischer-Verlag diese vier Kapitel veröffentlicht. Sie sind nach wie vor wunderbar. Sie sind für alle, die noch nichts von ihm gelesen haben, ein guter Einstieg. Denn die Vermischung persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse in der Vergangenheit mit Beobachtungen in der Gegenwart ist schon außerordentlich. Aber wenn Sebald daraus auch noch ein enges Geflecht von Bezügen baut, in der nicht mehr klar ist, was Literatur, was Wahrheit ist, aber der Leser immer berührt wird, immer stärker in den Bann einer Wirklichkeit gezogen wird, die ihre eigene Realität erzeugt, aus der man sich nicht zurückziehen kann, dann ist das in dieser Art nach wie vor einmalig.

Leider sind die vier Kapitel nur ein Fragment. Sebalds Tod hat verhindert, dass all dies in einem Roman zur Vollendung gebracht werden konnte. Und der Verlag hat dann nicht den Mut gehabt, dieses Fragment für sich stehen zu lassen. Deshalb wurde das Buch mit Essay und Rezensionen ergänzt, die sich mit Literaturwissenschaft von Kafka bis Weiss befassen.  Das iat auch alles lesenswert. Aber nicht im Kontext mit den Kapiteln über Korsika. Die aber sollte jeder mal in die Hand nehmen – und danach die Romane!

Wolf Zucker sieht Mehrings Lyrik ganz anders als Walter Benjamin

In der “Literarischen Welt” entdeckt Wolf Zucker in “Die Gedichte Lieder und Chansons des Walter Mehring” das wirklich Besondere. Anders als Walter Benjamin, konzentriert sich Zucker auf die Wirkung und die große Bandbreite der Tonalität in Mehrings Lyrik. Dieser unideologische Blick ist denn auch mehr als 80 Jahre nach entstehen des Textes erhellend:

Walter Mehring gehört zu jenen Autoren, deren Wirkung viel weiter geht, als sie selber ahnen. Ohne daß sein Name genannt wird, sind seine Chansons weit über den engen Kreis der Literaturfreunde hinaus bekannt. Es gibt kein schöneres Lob für seine Gassenhauer, als daß sie wirklich in Kneipen bruchstückhaft gesungen werden. Dabei sind die Chansons, Legenden und Balladen mit einer so raffinierten Klugheit und Beherrschung aller sprachlichen Register geschrieben, daß sie oft naturgewachsene Wunderwerke an Ausdrucksfähigkeit zu sein scheinen.

Der gesamte Text steht im Walter-Mehring-Blog… 

Walter Benjamin kann nichts mit Mehrings Gedichten, Liedern und Chansons anfangen

“Die Gedichte, Lieder und Chansons des Walter Mehring“, die 1929 bei S. Fischer erschienen sind, gefallen nicht jedem. Walter Benjamin schreibt in seiner Rezension, dass ihm das “Unvernünftige, Verbissene, Herbe, Verächtliche, Heimweh und amor fati des Verrufenen” fehlen. Anders als bei Brecht sei die Lyrik Mehrings nicht wirklich groß. De facto bewertet Benjamin die Lyrik Mehrings aber nicht wirklich nach der Qualität der Texte. Es geht ihm vielmehr um die Desavuierung eines Dichters, der sich explizit der kommunistischen Partei verweigerte. Anders als Brecht. Die Wahl einer Textstelle, die tatsächlich nicht zu den starken zählt, ist deshalb weniger Beleg für die Argumentation, als vielmehr Beleg für die Polemik. Und die Suche nach einer so schwachen Textstelle muss Walter Benjamin angesichts der vielen treffenden und sprachlich kraftvollen Texte einige Mühe gekostet haben. Und so erledigt sich die Kritik selbst, da sie nur von Ideologie geprägt ist. (A.O.)

Gebrauchslyrik? Aber nicht so!

Das Chanson, wie es vom Montmartre zu uns heruntergekommen ist, war ein Feuer, an dem der Bohemien sich den Rücken wärmte, jederzeit bereit, einen Scheit zu ergreifen und ihn als Brandfackel in die Palais zu schleudern. Weil aber der Arme alles verkaufen muß, so mußte er’s auch dulden, daß der Reiche sich Zutritt zu seinem Asyl erzwang und sich’s bei einem Feuer gemütlich machte, das darauf brannte, ihn zu verzehren. Das ist der Ursprung des Kabaretts. Schwer ist es den Schülern Aristide Bruants nicht geworden, sich auf die soziale Zweideutigkeit der Gattung einzulassen. Die sexuelle findet sich schnell dazu. Aber auch die Zote war noch Revolte, Aufstand des Sexus gegen die Liebe, und bei Wedekind geht es hart her. Erst recht geht es hart her bei Brecht, dem besten Chansonnier seit Wedekind, und dem lehrreicheren, weil bei ihm um den Waagebalken der Not die beiden Schalen Hunger und Geschlecht gerechter spielen.

Der gesamte Text steht im Walter-Mehring-Blog… 

Carl von Ossietzky über Mehrings “Kaumann von Berlin”

“Der Kaufmann von Berlin” war einer der größten Theaterskandale der Weimarer Republik. Das lag zum einen an dem Text, den Walter Mehring geschrieben hatte. Aber auch die Inszenierung von Erwin Piscator trug einen erheblichen Teil dazu bei. Carl von Ossietzky, der Herausgeber der “Weltbühne”, hat dies in seiner Rezension des Stückes gut analysiert. Aber er beschäftigt sich nicht nur mit der Inszenierung, sondern auch mit den Mechanismen des Geldverdienens im Theater und bei S. Fischer, dem Verlag des Stückes:

DIE KAUFLEUTE VON BERLIN

“In einer Bahnhofshalle, nicht für es gebaut”, nämlich für das Drama, spielt Piscator ein Stück, das gewiß Beschleunigung und Straffung verlangt, aber keine Apparatur, deren Knirschen seine innere Musik übertönt. Der alte Streit zwischen Regisseur und Dichter’ wird hier jusqu’au bout (A.O.: bis zum Ende) ausgefochten, wobei der Regisseur den Erbfeind des Theaters siegreich schlägt. Piscator benutzt die Gelegenheit zu einer Mustermesse seiner technischen Errungenschaften. Die Bühne rotiert, versinkt, entschwebt. Oberhalb der Szene fliegt Wanderschrift vorüber. Film in doppelter Ausfertigung – auf einem Gazevorhang und einer zweiten Leinewand dahinter. Selige Beruhigung fürs Auge tritt ein, wenn für Minuten nur ein paar Personen auf dem Laufband vorübergleiten. Aber blickst du zufällig nach oben, so kommt schon ein drohendes Eisenskelett herunter, eine kolossale Hängebrücke, eine gespenstische Brooklyn-Brücke, ‘ein Vorortbahnhof von Metropolis.

Carl von Ossietzkys Text ist vollständig im Walter-Mehring-Blog zu lesen:

Hans Keilsons Jahrhundert ist vorbei

Hans Keilson (1909 - 2011) - Foto: Andreas Oppermann
Hans Keilson (1909 – 2011)

Mit 101 Jahren ist Hans Keilson gestorben. Der Ehrenbürger Bad Freienwaldes erlebte noch das Erscheinen seiner Erinnerungen. Der Jude emigrierte 1936 nach Holland und überlebte die deutsche Besatzung im Untergrund. Seine Bücher stoßen vor allem in den USA auf großes Interesse. Er wird als „Weltschriftsteller“ geehrt. „Da steht mein Haus“ ist der Titel seiner Erinnerungen, die im April bei S. Fischer erschienen sind. Hans Keilson meint damit sein Haus in Bussum bei Amsterdam, in dem er mehr als die Hälfte seines langen Lebens verbrachte. Es ist ein typisch niederländisches Klinkerhaus, das an einer ruhigen Kreuzung knapp zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, umgeben von Einfamilien- und kleinen Reihenhäusern, liegt. Der Garten und das Haus selbst strahlen eine bescheidene Zufriedenheit aus. Alles wirkt, als wären die Bewohner mit sich im Reinen.

Das MOZ-Interview zum 100. Geburtstag

Obwohl er vor den Nazis fliehen musste und seine Eltern, die er in die Niederlande nachholte, nicht vor der Ermordung in Birkenau retten konnte, bestimmte nicht die Verbitterung sein Leben. „Das Gefühl der Schuld, dass ich meine Eltern nicht gerettet habe, das ist immer da,“ sagte er einmal. Doch Keilson begann deshalb nicht zu hassen. Im Gegenteil: Er bekämpfte mit den Mitteln der Psychoanalyse und der Literatur den Hass: „Weil der Hass eine selbstvernichtende Doktrin ist.“ Wer hasst, mache sich die Definition des Feindes zu eigen. Davon war er überzeugt. Deshalb setzte er Zeit seines Lebens seinen Verstand ein, um sich nicht vom Denken derer, die ihm Böses wollten und seinen Eltern taten, leiten zu lassen.

1909 kam Hans Keilson in Bad Freienwalde auf die Welt. Sein Vater hatte zwei Geschäfte im Ort. Seine Mutter kümmerte sich um diese, als der Vater im 1. Weltkrieg an der Westfront in den Schützengräben kämpfen musste. Die Welt war beengt für die wenigen Juden in Bad Freienwalde. Dennoch erinnerte sich Keilson auch im persönlichen Gespräch gern an sie zurück. Über den letzten Besuch seiner Heimat im September 2010 sagte er: „Als ich zu Besuch war, waren alle Kindheitserinnerungen wieder da, an jeder Ecke.“ Diese Erinnerungen schilderte er in seinem letzten Buch. Er beschreibt die bescheidenen Verhältnisse, in denen er aufwuchs. Er schildert die sich ändernde Stimmung den drei Juden in seiner Klasse gegenüber. Während im und kurz nach dem 1. Weltkrieg kaum Antisemitismus zu spüren war, nahmen die Zurücksetzungen, das Ausgegrenztwerden bis zum Abitur 1928 stetig zu. Hans Keilson war ein warmherziger, auch im hohen Alter noch sehr auf das Leben neugieriger Mann. Bei einem fast dreistündigen Interview kurz vor dem 100. Geburtstag schaffte es der Autor, Sportlehrer und Analytiker, mehr Fragen an mich zu richten als umgekehrt. Er wollte wissen, wie sich die Heimat verändert. Ihn interessierte, was der 60 Jahre jüngere über die Vergangenheit weiß. Ihn faszinierte, wie Internet und Technik das Leben erleichtern und Entfernung und Nichtwissen schrumpfen lassen.

Dazu passt auch, dass er mit über 80 anfing, am Computer zu arbeiten. Kein Wunder: Die Praxis betrieb der Psychiater bis weit über 90. Den bescheidenen Mann trieb eine ungeheure Energie an. Erst 1979 – mit fast 70 Jahren – promovierte er: „Sequentielle Traumatisierung bei Kindern“ ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Arbeit mit jüdischen Kindern, die aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in die Niederlande zurückkehrten. Die meisten von ihnen hatten ihre Eltern und die ganze Familie verloren. An die wissenschaftliche Arbeit machte er sich so spät noch, weil ihn seine Frau und andere ihm nahestehende Menschen darum baten, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Das Ergebnis hat sich bis auf die Rechtsprechung ausgewirkt. Dieses Buch schätzte er selbst als sein wichtigstes ein.

1933 erschien bei S. Fischer sein erster Roman, der letzte eines Juden für lange Zeit. Die Übersetzungen seiner Bücher stoßen derzeit vor allem in den USA auf großes Interesse. Ein Interview mit ihm erschien sogar auf der Titelseite der „New York Times“. Seine Romane und Erzählungen zeichnet ein klare Sprache und ein feiner Humor aus. Auch in ihnen gibt er dem Leser nicht vor, was er zu denken hat. Er eröffnet – wie seinen Patienten – Wege, die Welt zu verstehen, weil man über seine Fragen nachdenkt. Wer sich darauf einlässt, begreift, dass Hass 
kein Weg ist, um leben zu können.

Wenn Hans Keilson von seinen Berliner Jahren erzählte, dann strahlten die fast erblindeten Augen. Wie er als Trompeter einer Jazz-Band das Studium finanzierte erfreute ihn auch mit 100 noch. Und wie ihm die Großstadt die Chance gab, durch das Studium das Rüstzeug zum Überleben im Untergrund zu geben, machte ihn dankbar. Mit Hans Keilson ist ein Mensch gestorben, der Ungeheuerliches erlebte, der gute Bücher schrieb, der als Arzt und Psychiater vielen Kindern den Weg zurück ins Leben erleichterte, der als Chef des deutschen Exil-P.E.N. politisch seine Stimme erhob und der vor allem als Mensch eine große Wärme, tiefe Neugier und sanften Humor ausstrahlte. Beerdigt wird Hans Keilson auf dem jüdischen Friedhof in Amsterdam neben seiner ersten Frau. Das war schon lange sein Wunsch. Seine Heimatstadt hat die Bibliothek nach ihm benannt. Und einen Findling haben sie dort für ihn aufgestellt. „Das Schöne ist, dieser Findlingsblock ist so groß, dass er bleiben wird – er ist einfach zu schwer, 
um ihn zu stehlen,“ freute sich Keilson noch kurz vor seinem Tod.

MOZ-Nachruf…

Mehr von Hans Keilson:
„Ich lebe als Sieger und Besiegter“ – Interview zum 100. Geburtstag
Schönes Ende eines Interviews – Erinnerungen an das Interview
Hans Keilson ist tot – Kurzer Nachruf
Hans Keilsons Jahrhundert ist vorbei – MOZ-Nachruf
„Da steht mein Haus“ – Die Erinnerungen Hans Keilsons – Eine kurze Autobiografie
Hans Keilsons Sonette einer verbotenen Liebe – Sonette für Hanna

Schönes Ende eines Interviews

Hans Keilson: Kein Plädoyer für eine Luftschaukel
Hans Keilson: Kein Plädoyer für eine Luftschaukel

Das Gespräch mit Hans Keilson vor dessen 100. Geburtstag ist mir auch 18 Monate später noch ganz präsent. Mit seiner Frau hatte ich den Termin abgestimmt und mich auf den Weg über Amsterdam nach Bussum gemacht.

Dort lebt der letzte deutsche Exilschriftsteller in einem schönen, typisch holländischen Haus. Die Wärme des Empfangs, die Güte des Gesprächs, der Humor beim Nachdenken an die Jugend in Bad Freienwalde und Berlin, die Trauer über den Zwang ins Exil gehen zu müssen und die Klarheit beim Nachdenken über die Folgen des Nationalsozialismus wirken noch immer nach.

Keilson musste seine Heimat verlassen und hat sich eine neue erarbeitet. Keilson hat Familie verloren und eine neue begründet. Keilson hat Kindern, die aus den KZs zuück kamen als Arzt geholfen und dennoch angesichts des Leids nicht auf Rache gehofft. Keilson galt 1933 als ein verheißungsvolles Talent, als sein Debütroman bei S. Fischer erschien, und hat sich nach dem Krieg als Psychoanalytiker einen Namen gemacht. All das ist schon faszinierend und Ehrfurcht erfüllend. Aber wenn man dann mit so einem Menschen sprechen kann und eine gute Wellenlänge zueinander findet, verschwimmt das alles.

Dann sitzt einem nur ein wunderbarer, humorvoller Mensch gegenüber, der auch mit 100 Jahren noch neugierig ist. Und das so sehr, dass die Hälfte des mehr als zweistündigen Gesprächs aus meinen Antworten auf seine Fragen bestand. Die sind in dem gerade erschienenem Band nicht zu finden. Aber das Interview, das aus dem Gespräch entstand, ist die Eröffnung der Textsammlung. Und damit ein schönes Ende eines Interviews.

Zur Verlagsseite…

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Milan Kundera schreibt von Liebesglück und politischem Leid

Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Milan Kundera: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Prag 1968: Der Einmarsch der sowjetischen Truppen wirkt sich auf die Liebe eines ungleichen Paares direkt aus. Tomas und Teresa verlassen die Tschechoslowakei. Sie ziehen nach Zürich, doch Prag lässt vor allem Teresa nicht los. Milan Kundera erzählt in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ vom Ineinandergreifen des privaten und des politischen Lebens. Und von der erstaunlichen Kraft der Liebe.

1984 ist Kunderas Roman in Paris erschienen. Der Autor hat 1975 seine Heimat Tschechien verlassen. Sein Buch über den Arzt und Frauenhelden Tomas und seine Lebensgefährtin Teresa ist vor allem ein großartiger Liebesroman. Die Personen werden in all ihren Widersprüchen zum Leben erweckt. Kundera versteht es, die unterschiedlichen Perspektiven, den männlichen und den weiblichen Blick auf die Beziehung, auf die Liebschaften und auf die anderen im Roman auftretenden Paare darzustellen.

Und Kundera gelingt es immer, das politische Handeln seiner Figuren in ihrer gebrochenen
Wirkung zu zeigen. Da ist zum Beispiel Teresa, die als Fotografin Hunderte Filme von der Niederschlagung des Prager Frühlings fotografiert. Damit dokumentiert sie, was in Prag geschieht. Ihre Fotos erscheinen in westlichen Zeitungen und Zeitschriften. Ohne diese Bilder wäre das Entsetzen im Westen viel kleiner. Doch später werden die gleichen Fotos von der tschechischen Stasi benutzt, um Aktivisten des Widerstandes gegen die kommunistische Diktatur aus Moskau zu erkennen und zu verfolgen.

Für Teresa stellt sich in den Jahren nach 1968 die Frage, ob sie sich mit ihren Fotos deshalb schuldig gemacht hat. Sie nimmt die Kamera nicht mehr in die Hand. Ein Leserbrief zur Unmoral der kommunistischen Mitläufer vor 1968 kostet Tomas die geliebte
Arbeit als Chirurg. Kundera beschreibt ganz detailliert, wie die tschechische Stasi  Menschen, Familien und die Gesellschaft in Angst versetzt. Wie sie mit Lügen und Druck, Karrieren zerstört, Beziehungen ruiniert. Und wie der aufrechte Gang um den hohen Preis des gesellschaftlichen Abstiegs doch auch zu innerer Freiheit führen kann.

„Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ hat nichts an seiner Kraft verloren. Auch wenn sich die politische Situation seit dem Fall der Mauer radikal verändert hat.

MILAN KUNDERA: DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DES SEINS, FISCHER, 9,95 EURO.