Das Mädchen hat keinen Namen. Nur ein „Ich“ der Erzählerin. Die Geschwister und die Freunde des Mädchens dagegen haben Namen. und damit etwas ganz entscheidendes für die Definition von Individualität. Angelika Klüssendorf arbeitet sich in ihrem Roman „Das Mädchen“ am Schicksal dieses Mädchens ab. Kein Wunder, ist das Leben des Mädchens doch die autobiografische Vorlage für das Buch.
Schlagwort: Roman
Bei Peter Truschner steckt ein Mann im verflixten 35. Jahr
Und wieder geht es Peter Truschner um den Halt. In „Das fünfunddreißigste Jahr“ seziert das Leben der Mittdreißiger, die alles haben, nur eines nicht: Ein festes Fundament aus Bindungen und innerem Halt.
Robert Seethaler fasziniert ein ganzes Leben

Seine ersten beiden Bücher überraschten mit einem wunderbaren absurden Humor. In seinem dritten, „Der Trafikant„, macht sich Robert Seethaler erneut auf die Suche nach den Verwirrungen des Erwachsenwerdens. Diesmal aber im historischen Wien kurz vor und nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich. Und jetzt in seinem aktuellen Roman „Ein ganzes Leben“ begleitet Seethaler tatsächlich ein ganzes Leben, das Leben des Seilbahnarbeiters Andreas Egger. und so, wie sein Schreiben schon im vorherigen Buch erwachsener, reifer wurde, so ist es jetzt noch überzeugender und ganzheitlicher.
Peter Truschner entdeckt die Sehnsucht des Träumers
Es beginnt mit schon mit dem Titel „Die Träumer“. Was der mit dem Roman zu tun hat, erschließt sich nicht wirklich. Dann ist da eine Handlung, die nicht immer logisch ist. Und es endet mit einer Sprache, die gern etwas zu expressionistisch, zu verknappt ist. Und dennoch schafft es der Roman von Peter Truschner eine eigenartige Spannung auszubauen. Oder besser gesagt eine verwirrende.
Iris und Robert haben sich auseinandergelebt. Sie sind gute 40 Jahre alt, haben keine Kinder und sich nicht mehr viel zu sagen. Iris hat erfolg mit ihrem Cateringservice für die Events in den besonderen Locations. Er ist Wissenschaftler im Mittelbau, der seinen Job schmeißt, als er von der Geliebten den Laufpass bekommt. Truschner lässt seinen gescheiterten Helden nicht einfach nur ausflippen. Sein Abgang ist sehr skurril. Das sind Stellen, wo der Hang zu überdeutlichen Bildern und plakativer Wortwahl zu übermächtig wird.
Die Suche nach Sinn und Halt treibt Robert um. Ohne seiner Iris von der Kündigung zu erzählen macht er sich ziellos auf den Weg durch die Stadt. Er kommt immer weiter an die Peripherie, beobachtet Penner, kickt mit jungen Migranten und kommt schließlich mit Männern in Kontakt, die den haltlosen Jugendlichen der Sozialslums Halt durch Drill geben. Ein Drill der faschistoide Züge hat und dazu dient, in dem Viertel die Polizei zu ersetzen. Und um eine Privatarmee aufzubauen, die auch im Ausland eingesetzt wird.
Wie sich Robert dieser Organisation annähert, ist sehr gut erzählt. Hier funktioniert die Sprache. Peter Truschner klagt den Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung an. Und mit dem Untergang von Robert, der tatsächlich ertrinkt, entwickelt er ein starkes Bild, das zeigen soll, wie falsch diese politische Entwicklung ist. Aber alles in allem will Truschner zu viel für die 250 Seiten.
Jens Sparschuh sucht Nabokovs Datsche

Ein Roman, der den Sommer schon im Titel hat, verspricht eine gute Sommerlektüre zu sein. Wenn es dann noch von Jens Sparschuh ist, dann sind Witz und Präzision eigentlich garantiert. Und wenn das Buch dann auch noch in der unmittelbaren Nachbarschaft spielt, dann ist meine Neugier natürlich groß. „Das Ende der Sommerzeit“ lohnt sich dann auch tatsächlich.
Der neue Roman von Jens Sparschuh, der sich mit Romanen wie „Der Zimmerspringbrunnen“ fest in unser Gedächtnis geschrieben hat, erzählt von einem Berliner Schriftsteller, der bei einer Gastprofessur in den USA auf Nabokovs Berliner Jahre gestoßen wird. Für einen Kollegen übernimmt er nach seiner Rückkehr die Recherche nach der Datsche Nabokovs, die im Südosten Berlins lag. Und deren Umgebung offenbar die Gegend ist, in der einer seiner Romane spielt. Bei dieser Recherche verfällt der Ich-Erzähler nicht nur Nabokov, sondern auch seinen eigenen Erinnerungen an seine Jugend, die sich in teilweise ebenfalls an den Dahmeseen südlich und östlich von Königs Wusterhausen und Friedersdorf ereignete.
Sparschuh schreibt wunderbar über unsere Seen und Wälder, wenn der Erzähler mit dem Fahrrad von der Datsche in Bestensee die Gegend erkundet. Er schreibt von verpassten Chancen und dem ersten Kuss, an den sich der Erzähler erinnert. Denn den bekam er von einem Mädchen, dessen Eltern 1968 aus Prag fliehen mussten, ausgerechnet an einem Dahme-See. Und er schreibt von Nabokov, der Sigmund Freud verachtete, den er selbst aber wegen einer zarten Liebe neu entdeckt. All diese Ebenen habe ihren eigenen Reiz. Aber keine setzt ein großes Vorwissen voraus, ohne das sich das Buch nicht genießen ließe. Darauf hat Sparschuh offenbar großen Wert gelegt. Wer aber Nobokov kennt, bekommt noch mehr Lesevergnügen geschenkt. Denn der erkennt in etlichen Formulierungen Zitate wieder. Und damit noch weitere Ebenen.
Dieses Lesevergnügen von Jens Sparschuh ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Der Roman „Am Ende der Sommerzeit“ kostet 19,99 Euro.
Ferdinand von Schirach seziert das Offensichtliche

Ein Mordfall ohne Leiche. Ja selbst ohne Vermisste, das ist der Stoff, um den Ferdinand von Schirach in „Tabu“ einen verwirrenden Roman baut. Der Anwalt, der mit seinen Erzählungen von Kriminalfällen inzwischen Weltruhm erlangt hat, baut seine Geschichte rund um Wahrnehmung und Sehen am Beispiel eines Fotografen auf. Was ist Oberfläche? Was ist Tiefe? Oder anders gefragt: Was ist nur oberflächlicher Schein und was ist Wahrheit?
Sebastian von Eschburg stammt aus verarmten Adel, geht in einem Nobelinternat zur Schule und vertieft sich in Bücher, weil er, der beziehungslos und als Halbwaise abgeschoben aufwuchs, die Beziehung zu Menschen nicht bereit ist einzugehen. Hochintelligent eignet er sich das, was er will enorm schnell an und wird so zu einem international gefeierten Fotografen. Das bringt ihm nicht nur Geld und Ruhm ein, sondern auch den ersten Kontakt zu seiner ganz großen Liebe. Das alles erzählt von Schirach präzise und knapp. Er schmückt nicht unnötig aus, aber alles was er schreibt hat tatsächlich eine Bedeutung.
Die wird erst im Laufe des Romans sichtbar, als Sebastian von Eschburg wegen Mordes angeklagt ist. Alles sieht so aus, als habe es in seiner Wohnung tatsächlich einen Mord gegeben. Aber es fehlen Opfer und Leiche. Nicht einmal der Name einer Vermissten lässt sich für die Ermittler feststellen. Nur einen Hinweis gibt es: das Blut, das in der Wohnung gefunden wurde, stammt von einer Halbschwester von Eschburgs. Ferdinand von Schirach, der erfahrene Anwalt, komponiert den Prozess wie ein Theaterstück als Inszenierung. Und das zurecht. Denn der ganze Fall erweist sich als eine großartige Inszenierung, in der der Schrecken wohl kalkuliert eingeplant ist. Und so entsteht ein Roman über Kunst und die unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung. Ein großer Roman über die Wahrheit. Und das voller Spannung.
Vor dem Fest mit Saša Stanišić in der Uckermark

Ein Roman, der in der Uckermark spielt, sorgt derzeit für Furore. Mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet ist „Vor dem Fest“ von Saša Stanišić ein außergewöhnliches, sprachverliebtes und liebevoll komisches Buch. Auch, wenn es kein originärer über die Uckermark ist.
Es spielt ja in der Uckermark. Das Fürstenfelde des Romans hat sehr starke Ähnlichkeiten mit Fürstenwerder in der Nordwest-Uckermark. Das Dorfarchiv des Romans, in das in der Nacht vor dem Fest eingebrochen wird, ist eindeutig der „Uckermärkischen Heimatsstube“ in Fürstenwerder nachempfunden. Auch die Lage des Ortes – zwischen zwei Seen gelegen – entspricht der Wirklichkeit. Aber eigentlich ist die Uckermark für das Buch nicht wichtig. Der Roman könnte in jeder ländlichen Region Deutschlands spielen, die vom urbanen Fortschritt abgekoppelt wurde.
Saša Stanišić entwirft ein ganzes barockes Welttheater in diesem halb fiktiven Fürstenfelde. Das Dorf mit seinem jährlichen Höhepunkt, dem Annafest, wird zum Spiegel dafür, was das Leben und Zusammenleben in einem Dorf ausmacht. Die eineinhalb Tage, die er auf dem Weg zum Fest beschreibt, versammeln das Personal vom angehenden Glöckner, der Atheist ist, über die Heimatarchivarin, die jede Erwähnung des Ortes in früheren Jahrhunderten wie einen Schatz hütet (und bei der man nie ganz sicher ist, ob sie diese Quellen im streng gesicherten Archivkeller nicht selbst fälscht), den ehemaligen NVA-Offizier, der seine Rente mit Schwarzarbeit aufbessert oder die eineinhalb Neonazis, die den richtigen Moment zur rassistischen Aktion verdödeln. Alle Charaktere nimmt Stanišić ernst. Er hört ihnen zu und gibt ihnen eine Stimme. Vor allem aber hört er ganz genau, was nicht erzählt wird. In einem Dorf ist das ja oft das wichtigste.
Das zu lesen ist ein großes Vergnügen. Es ist nicht ganz leicht, weil der Text komplex auf mehreren Abenen arbeitet. Da gibt es den Fuchs, der uns immer wieder begleitet und die Rolle hat, das Dorf von außen für uns wahrzunehmen. Dann gibt es etliche Rückblenden in die Geschichte, die in der Sprache des 15. oder 16. Jahrhunderts geschrieben sind. Und dann beschreibt uns das kollektive Ich des Dorfes das Personal von heute. Alle Ebenen greifen ineinander und erzeugen so ein Bild von dem, was im Dorf schon immer war. Mythos und Realität vermischen sich so zu einem dichten Bild der Dorfgemeinschaft über Generationen, über Jahrhunderte hinweg. Auch die DDR, zu der die Uckermark vier Jahrzehnte gehörte, ist Teil dieses Kontinuums. Aber sie ist nicht dominant. Saša Stanišić nutzt sie vielmehr, um dem Dorf mehr Glaubwürdigkeit und auch mehr Witz zu geben. Das alles ist wunderbar geschrieben, voller Humor und Liebe zu den Leuten und den Details.
Sabahattin Ali entführt ins Istanbul der frühen Republik

Erstaunlich wie modern dieser Roman ist. Sabahattin Ali schildert in „Der Dämon in uns“ wie in Istanbul ein junges Paar an sich scheitert. Ömer und Macide wagen das Ungeheuerliche: Sie lieben sich, ziehen zusammen und leben als Paar. Und das ohne Trauschein und ohne den Segen der Familien. Was uns heute so selbstverständlich vorkommt, war in der Türkei in den 1920er oder 1930er Jahren noch eine absolute Ausnahme. Sabahattin Ali macht aus diesem Stoff keinen billigen Liebeskitsch, sondern einen spannenden, packenden Istanbul-Roman, der 1940, dem Jahr des Erscheinens, zum einen für den Aufbruch in die Moderne stand, zum anderen aber auch einen Hauch von Mahnung in sich enthielt.
Marko Martin langweilt mit seinen weltweiten Sexabenteuern

Die Bücher der Anderen Bibliothek schaffen es fast immer, mich zu fesseln. „Die Nacht von San Salvador“ von Marko Martin ist da offenbar eine Ausnahme. Obwohl Protagonist Daniel quer durch die Welt reist und in San Salvador genauso wie in Berlin oder Damaskus, Danzig oder Istanbul seine Abenteuer erlebt, bleibt der Roman irgendwie leblos. Vielleicht liegt es an den vielen homoerotischen Erlebnissen in Saunen, Hotels und Wohnungen, die Daniel selbst erregen, den Leser aber kalt lassen. Vielleicht liegt es aber auch an der angestrengten Ambitioniertheit, die dem Buch Leichtigkeit und Lesefluss raubt.
Erri de Luca erinnert sich an die ersten Momente nach der Kindheit

So zart wie die Haut eines zehnjährigen Kindes ist die Geschichte, die Erri de Luca in seinem neuen Buch erzählt. Es ist seine eigene Geschichte von den ersten Schritten in Richtung des Erwachsenwerdens. Die erste Begegnung mit einem Mädchen, die mehr in ihm auslöst als Nettigkeit. „Fische schließen die Augen nicht“ entführt die Leser in die Zwischenphase zwischen Kindheit und Jugend. Und das macht Erri de Luca ganz vorsichtig, ganz zart.