„Oder Florida“ – der Nachwende-Bildungsroman von Christian Bangel

Christian Bangel: Oder Florida
Christian Bangel: Oder Florida

Lange bevor die Republik geschockt auf die Wahlerfolge der AfD geschaut hat, suchten junge Ostdeutsche nach ihrer Identität. „3. Generation Ost“ nannten sie sich. Sie wollten verstehen, was sie von ihren gleichaltrigen Westdeutschen unterscheidet. Ohne die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie funktioniert das nicht. Umso besser, dass Christian Bangel jetzt einen tragisch-witzigen Roman geschrieben hat, der seine eigene Biografie als Material genau in diesem Sinne nutzt. Und dennoch sehr viel Spaß macht.

Christian Bangel ist 1979 in Frankfurt (Oder) geboren. Die prägenden Jahre seines Erwachsenwerdens sind von einer enormen Freiheit geprägt. Aber auch von den Ängsten der Eltern vor Arbeitslosigkeit, seinen eigenen Ängsten von der Gewalt der Neonazis und der Ungewissheit, was aus der eigenen Heimatstadt wohl werden wird. das einzig Gewisse war die Ungewissheit. Starke Menschen nutzen das, indem sie ihren Freiraum aktiv nutzen. Andere suchen Halt bei neuen Autoritäten.

Grimmelshausens Gefährten sind immer auf Reisen

Eigentlich sind in diesem Buch zwei Reiseromane. Die „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage“ und „Der seltsame Springinsfeld“ sind mit dem „Simplizissimus“ verbunden. Hans Jakob von Grimmelshausen hat sie nach dem Erfolg des Simplizissimus geschrieben, um die Geschichte weiterzudrehen. Dabei nutzte er Personen aus dem eigentlichen Buch.

Reiseromane sind die Bücher deshalb, weil die Lebenserzählungen der Courage und des Springinsfeld nicht aneinem Ort spielen. Vielmehr ziehen die Helden durch Europa, dem Dreißigjährigen Krieg nach. Der Leser kommt so an Orte in Deutschland, Böhmen, Italien, Griechenland, Russland der Türkei und vielen anderen Ländern. Die Courage folgt zunächst als Offiziersfrau, später als Hure und noch später als Zigeunerkönigin den Heeren und Schlachten.

Springinsfeld ist als Soldat Teil dieser Maschinerie. Die Courage schreibt eine fiktive Autobiografie, weil sie sich vom Simplizissimus in dessen Lebensbeschreibung verhöhnt fühlt. Es geht um ein Kind, das sie von ihm haben will oder auch nicht. Obwohl sich beide nur sehr kurz getroffen haben, schildert sie ihr Leben, um es diesem einen Mann heimzuzahlen. Und das, wo sie doch so viele Männer hatte. Männer, die sie verehrten, Männer, die sie benutzten und Männer, die sie bezahlten. Aber der eine Simplizissimus hat ihre Würde, die sie trotz ihrer entgegen gesetzten Karriere von der adligen Tochter sozial abwärts zur Zigeunerin führte, so sehr verletzt, dass sie diesen Umstand in die Welt hinausschreit.

Genau aus diesen Gegensätzen entsteht der Grimmelshausensche Witz in den Romanen. Die Courage hat übrigens so gut wie gar nichts mit der des Bert Brecht zu tun. Moral und Moralisieren sind ihre Kategorien nicht. Dafür die ständige Bewegung auf der Suche nach dem Wohlstand – und letztlich auch nach dem Glück. Sie ist immer auf Tour, kann nicht sesshaft werden. Und so nimmt sie den Leser mit auf ihre Lebensreise, die stets auch eine Reise durch die reale Welt ist. Ähnlich ist es beim Springinsfeld. Dem hat die Courage ihr Leben diktiert. Und der erzählt in dem Buch alles dem Simplizissimus in einer Straßburger Kneipe, wo er den alten Kameraden zufällig trifft. Sein Leben ist das eines typischen Landsknechts in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Da der Krieg nicht enden will, bietet er Ernährung für all jene, die lieber kämpfen, räubern und marodieren, als Äcker zu bestellen oder ein Handwerk auszuüben.

Die stete Bewegung, das stete Reisen hält ihn genauso wie die Courage davon ab, sein Glück festzuhalten, wenn sie es einmal gefunden haben. Aber diese Kategorie ist für diese Menschen nichts. Sie erdulden kein Schicksal, sondern leben eine Freiheit, die eben auch das Risiko in sich trägt, zu scheitern. Grimmelshausen schildert in den Büchern genau dies. Seine Bildungsromane sind kurzweilig und lehrreich. Denn die Courage ist zwar faszinierend, aber eben auch auf der schiefen Bahn nach unten. So viel Moral muss in den satirischen Schriften schon sein. Und Springinsfeld macht sich als Bettler sogar zum Gespött. Doch seine Würde behält er. Ja, er ist sogar glücklich und zufrieden. Schließlich hat er mehr von der Welt gesehen, als die meisten Zeitgenossen. Zwangsläufig fragt sich der Leser, ob sich Glück festhalten lässt oder ob es immer nur ein Momentum sein kann.

Egal, ob man in Bewegung oder fest verankert ist. Das Reisen bietet die Chance auf Veränderungen stärker als das Verharren. Aber ob das Treiben oder das feste Verzurren besser und richtiger ist, lässt Grimmelshausen für den Leser offen. Auch wenn die vordergründige Moral der Texte, etwas anderes suggeriert. Aber die Satire eröffnet neue Gedankenspiele. Reinhard Kaiser hat die beiden Romane wie schon den gesamten Simplizissimus ins Hochdeutsche übersetzt. Das war sehr mutig, denn auf den ersten Blick ist das Barockdeutsch noch immer gut verständlich. Doch Keiser eröffnet mit seinen Übersetzungen einem neuen Publikum die Chance, diese wunderbaren Simplizianischen Bücher kennenzulernen, die sich an das alte Deutsch nie getraut hätten. Da er sein Handwerk versteht, schafft er so wunderbare, gut verständliche und auch in der Übersetzung großartig abwechslungsreiche und unterhaltsame Texte. Egal ob man auf Reise ist, geht oder daheim beleibt, die Lebensbeschreibungen von Simplizissimus, Courage und Springinsfeld sind eine Entdeckung wert. Zumindest bei einer vergnüglichen Lesereise ins Innere der Texte und des Lesers selbst.

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Robert Seethaler erfindet einen bizarr-realen Bildungsroman

Diese Geschichte ist eigentlich ganz banal. Da wächst ein Bub in der Provinz auf, versucht sich und die Welt zu begreifen und scheitert an ihr. Bis er das Theater für sich entdeckt und mit ihm seine Rolle in der Welt.

Was sich wie eine knappe Inhaltsangabe von Goethes „Wilhelm Meister“ liest, fasst das neue Buch von Robert Seethaler zusammen. „Jetzt wirds ernst“ ist sein dritter Roman. Vor allem der Vorgänger „Die weiteren Aussichten“ war ein Erfolg. Genauso wie der darauf basierende Fernsehfilm „Die andere Frau“, für den Seethaler mit Dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde.

Seethaler ist ein Meister lakonischer Sätze, die nicht sofort ihre Wirkung entfalten. Die Summe der simplen Beobachtungen erzeugen eine Stimmung, die jeder in seiner Pubertät erlebt hat. Denn davon handelt der Roman vor allem. Er schildert, wie aus einem Baby, das bei einer Sturzgeburt das Licht der Welt erblickte, ein Junge wird, der die Schule seltsam findet und in der Pubertät langsam zu sich selbst findet. Insofern ist der Vergleich zu Wilhelm Meister ein guter. Nur dass Seethalers Bildungsroman viel humorvoller und direkter ist.

Der Titel „Jetzt wird ernst“ beschreibt eigentlich das Ende des Buches. Bis dahin ist für den Jungen natürlich auch alles ernst. Der Tod der Mutter, die Mitarbeit im väterlichen Friseursalon, die erste unglückliche Liebe oder die Versagensangst vor dem ersten Auftritt auf der Theaterbühne. Doch richtig ernst wird es halt erst, wenn man erwachsen ist und sich der Welt richtig stellen kann.

Robert Seethaler gelingt es, alle seine Figuren mit echter Zuneigung zu schildern. Selbst unangenehme Personen wirken nicht abstoßend. Sie sind ein Teil des Lebens und schon deshalb auch gut. Seinen eigentlichen Helden, aus dessen Ich-Perspektive der Roman geschrieben ist, begleitet er mit Herzlichkeit und Frische. Angesichts der vielen Fettnäpfchen, die das langsame Erwachsenwerden so mit sich bringt, ist das gar nicht so einfach. Genau diese Spannung trägt den Roman und macht ihn zu einem großen Lesegenuss.

Robert Seethaler: Jetzt wird’s ernst. 303 Seiten, Kein & Aber, 19,90 Euro

MOZ-Rezension…