Ein Tag in Samsun

Samsun ist eine sehr moderne Stadt. Es gibt kaum noch echte Altstadt. Ich habe nur eine handvoll alte Häuser gesehen. Aber die Straßenverläufe sind alt. Gleich hinter dem Hotel war richtiges Bazar-Treiben. Enge Straßen, einige sogar vom Autoverkehr befreit. Fischläden, in denen die Fische direkt an der Straße hingen. Unendlich viele Männer, die Handel treiben. Und auf der Straße Tee trinken. Das war in diesem Basarviertel überhaupt der stärkste Eindruck. Tee trinkende Männer überall. Nun ist dieser Eindruck zwischen neun und zehn Uhr früh entstanden. Die Läden haben gerade erst geöffnet. Lediglich die Fischläden waren wohl schon länger auf. Ansonsten hätten diese Fische nicht so schön präsentiert werden können. Wobei es schon befremdlich ist, wenn der Fisch direkt auf der Straße hängt und von jedem angefasst werden kann. Für den fremden Betrachter ist das pitoresk. Aber für die Hygiene ist es sicherlich nicht ganz so gut. Die Metzger allerdings haben ihre Ware nicht auf der Straße. Sie wird hinter Schaufenstern ausgestellt.

Frauen tragen im Basarviertel Kopftuch. Hier ist offenes Haar bei Frauen offenbar tabu. Auf der anderen Seite der Hauptstraße, die zum Meer und direkt auf das Atatürk-Denkmal führt, sieht die Welt anders aus. Hier gibt es vor allem moderne Geschäfte und hier gibt es zwar Kopftücher. Aber sie halten sich eher im Hintergrund. Das war schon sehr seltsam, diese Trennung. Vielleicht ist es nur ein Eindruck, der beim Laufen durch die Stadt in nur zwei Stunden, die ich hatte, sich verfestigte. Prinzipiell ist der Eindruck ja sehr modern. Nur in diesem Bazarviertel sieht alles aus, wie im Orient.

Erstaunlich waren riesige Fahnen, die in rot und weiß quer über die Straßen gespannt waren. Überall in der Stadt hingen diese bestimmt zehn Meter breite und deutlich höheren Stoffbahnen, Und alle waren beschrieben. Später in der Schule wurde ich aufgeklärt: Samsunspor ist aufgestiegen. In der kommenden Saison spielt der Club in der Süperlig, der 1. Liga der Türkei. Und die Fahnen sind das Dank von Firmen und Gruppen, die die Freude der Stadt zum Ausdruck bringen sollen.

Beeindruckend und befremdlich zugleich ist das Atatürk-Denkmal. Ein nachgebautes Schiff legt am Ufer von Samsun an. Und Atatürk verlässt dieses Schiff mit seinen Mitstreitern für eine freie Türkei. Empfangen werden sie von Honoratioren der Stadt. Dies ist nicht die Beschreibung einer Plakette auf einem Denkmal. Nein, Samsun hat sich entschieden, diese Szene mit Figuren zu gruppieren, die Menschengroß sind. So bleibt diese für die türkische Geschichte wichtige Moment für immer in der Gegenwart. Denn diese Figuren sind als bestimmte Personen ganz klar zu erkennen. Atatürk hat in Samsun angelegt und von hier den Widerstand gegen die Besatzungstruppen organisiert. Am Ende gab es die Republik Türkei. Und das außerordentliche Modernisierungswerk, das noch lange nicht abgeschlossen ist, konnte greifen. Befremdlich wirkt das Denkmal wegen dieser bewussten Gegenwärtlichkeit. Es geht offenbar nicht nur um Geschichte, sondern um das Jetzt. Direkt neben diesem Denkmal ist übrigens eine riesige Markthalle, in der alles, was gern in der Türkei gekauft wird, vorhanden ist: Gefälschte Sportklamotten, Leder, Taschen, Jeans – und alle mit fraglicher Herkunft.

In der Schule begrüßte mich eine etwas verunsicherte, aber sehr nette Lehrerin. Als ich in die Klasse kam, wollte sich diese nicht leeren. Es war ausgemacht, dass ich nur mit den Schülerzeitungsleuten arbeite. Aber die anderen Deutschschüler wollten auch dabei sein, Und so stand ich in einem schlecht belüfteten Kellerklassenzimmer, das nur kleine Oberlichter rund keine echten Fenster hat, vor mehr als 40 Schülern. Das war schon sehr schön. Wenn man auf ein so großes Interesse stößt, schmeichelt es etwas. Leider war das Deutsch der Schüler nicht ganz so gut. Es musste fast alles übersetzt werden. Aber vor allem drei Mädchen fragten unentwegt auf Deutsch. Auch wenn sie sich schwer taten. Sie wollten die Chance nutzen – und haben es getan. Das sind dann tatsächlich Momente, die für die Strapazen, die eine solche Reise auch ist, mehr als nur entschädigen.

15 Kilometer zu Fuß durch Ankara

So modern ist Ankara. Und so rückständig. Ein Fußmarsch durch die Stadt führt von den großen Einkaufsstraßen, den weltoffenen Kneipenvierteln bis hinauf auf die Zitadelle. Da wo, der Tourist den Rummel, der allerorten um ihn gemacht wird, am ehesten erwartet, findet er Anatolien: Niedrige, kleine Häuser. Enge Gassen und spielende Kinder. Kopftücher allerorten und frisch gewaschene Unterwäsche gleich unter der türkischen Fahne, die den höchsten Punkt der Zitadelle krönt.

Der Abstieg die vielen hundert Stufen oder die Straßen hinab entscheidet, ob man nach Europa oder nach Kleinasien gelangt. Wer die Treppen wählt, kommt zwar auch in einen alten Stadtteil, der nicht europäisch wirkt. Aber hier passiert etwas Neues. Handwerker sanieren und restaurieren Altbauten. Hier wird nicht mehr weggerissen, was aus Lehm und Holz gebaut wurde, sondern es wird bewahrt. Vielleicht gibt es genau hier in einigen Jahren das, was wir Europäer so lieben: eine malerische Altstadt, die seit Beginn der jeweiligen Stadtgeschichte nie so farbig und aufgeräumt und geruchsneutral war.

Erstaunlich ist auch der Atatürk-Kulturpalast. In ihm wuselt es vor Menschen. Sie alle sind auf der Suche nach echten türkischen Waren. Denn heute ist hier ein Handwerkermarkt. Alles hat Tradition. Von den Lebensmitteln über die handgewebten Schals bis hin zu Ohrringen mit türkischem Türkis oder traditioneller Keramik aus Kütahya. Und alles ist günstig. Das fachkundige Publikum prüft, riecht, fühlt. Ganz so, wie es sich für einen Basar gehört.

Schräg gegenüber spielt Genclerbirligi Ankara in der Süperlig. Der Jubel der Fans ist weihin hörbar. Aber leider gibt es keinen Zugang zum Stadion. Hier kommt man nur mit Ticket weiter. Dafür fluten die Fans anschließend die U-Bahn. Überall Gesang. Alles voll latenter Agression und verschmitzter Freude. Kein Wunder: Das Durchschnittsalter ist unter 20. So wie überhaupt vor allem junge Gesichter auf den Straßen sind. Diese Stadt ist zwar riesig und in sich zerrissen. Aber die Jugendlichkeit der Bewohner eint sie.

Zwei Schulen in Ankara

Berufsverkehr in Ankara. Stop and Go. Das Taxi muss ständig anhalten und wieder losfahren. Auf dem Weg von der Tunus Cadessi zur Schule sind es vor allem die zwei, drei ersten Kilometer, in denen der Magen mit dem Taxifahrer kämpft. Zum Glück gewinnt der Magen. Das Frühstück bleibt im Bauch. Aber vor lauter Konzentration auf das innere Rumoren bleibt der Blick auf die Stadt, durch die das Taxt fährt, auf der Strecke.

Um neun Uhr bin ich in der Schule angekündigt, 15 Minuten früher bin ich schon da. Ein Geografielehrer nimmt mich in Empfang, weil die Deutschlehrerin noch nicht da ist. Er führt mich in den Raum für die Geografielehrer und bietet Tee an. Da er kurze Zeit in Deutschland lebte, kann er etwas Deutsch. Aber als jüngstes Kind kehrte er mit den Eltern in die Türkei zurück, während seine Geschwister fast alle in der Bundesrepublik blieben. Sie will er besuchen, weiß aber nicht genau, welche Art Visum er dafür benötigt und ob er dieses einfach bekommt.

Die Visumsfrage taucht auf der gesamten Reise immer wieder auf. Deutschland erteilt es nicht einfach. Zu groß ist die Angst, dass sich die halbe Türkei auf den Weg machen könnte. Für diejenigen, die ihre Verwandten besuchen wollen, bedeutet dies Stress. Und offensichtlich auch immer wieder Demütigungen. Wie in den anderen Schulen auch ist die Aufnahme herzlich. Zwischen Deutsch und Englisch schwankt die Unterhaltung. Immer ist sie von einem echten Interesse an dem Besucher getragen. Dafür wird sich auch Zeit genommen.

Etwa wenn die Deutschlehrerin zu spät kommt und darüber wegen eines defekten Handys nicht informieren kann. Dann geht der betreuende Lehrer eben etwas später in den Unterricht. Hier gilt tatsächlich der Satz: „Der Gast, der wird geehrt, auch wenn er noch so stört.“ Wobei der Gast hier nicht als störend empfunden wurde. Die Schule hat ein Internat und Schüler, die aus der Umgebung kommen. Das PASCH-Sommercamp zum Thema Schülerzeitung soll hier stattfinden. Bei der Übung sind drei Lehramtspraktikanten und zwei Lehrerinnen dabei. Die Schülerinnen – nur ein Junge gehört zur Gruppe – sind sehr aufgeweckt und nehmen vor allem die Anregungen zur Themenfindung gern an. Stellten sie sich ursprünglich vor allem ein sehr offizielles Heft als Schülerzeitung vor, begannen sie bald über die Themen nachzudenken, die für die selbst relevant sind.

Das war wieder der hohe Lerndruck, die Anzahl der Prüfungen und Tests, aber auch die Diskussion der Internatsschüler, was auf dem einen Fernseher geschaut wird. Oder das Schulessen. Es ist nicht so gut, wie sie es sich wünschen. Die Begeisterung für die Entdeckung ihrer eigenen Themen war so groß, dass die abschließende Übung eine andere Wendung nahm wie in allen anderen Schulen. Eigentlich sollten sie in Kleingruppen einen Text über das gerade Erlebte schreiben. Also eine kleine Nachricht über meinen Besuch, bei dem die Wörter Ich und Wir auf keinen Fall vorkommen dürfen, weil eine Icherzählung bei Lesern nie gut ankommt.

Die Schülerinnen der ersten Schule in Ankara haben gleich damit begonnen, über die neuen Themen zu schreiben. Das war ein ganz neuer Lehrerfolg auf dieser Reise. Gleich nach Ende der Einheit musste ein Taxi gesucht werden. Denn jetzt ging es zum TED-College am anderen Ende der Stadt. Was bei der Fahrt auf der Strecke blieb, war das Mittagessen. Denn ich war erst pünktlich um 13.00 Uhr vor Ort. Da ging es dann gleich weiter. Die nächste – und letzte Schülergruppe dieser Reise. Das TED ist eine riesige private Lerneinrichtung. Grundschule, Gymnasium und Universität auf einem Campus. Allein am Gymnasium werden 2.000 Schüler unterrichtet. In den anderen Einrichtungen sind die Zahlen ähnlich. Das Gelände wirkt von außen wie ein Hochsicherheitstrakt. Es ist vollständig von hohen Zäunen umgeben, wird von einer großen Schranke gesichert und ist beim ersten Besuch kaum zu übersehen. Man fühlt sich in die USA versetzt. Das wird noch durch die vielen Schulbusse verstärkt. Dutzende holen Schüler und Lehrer nach der Schule ab. Den richtigen findet man nur dank der Hilfe vieler freundlicher Menschen. Der Eintritt in die Schule birgt eine Überraschung. Hier sind keine engen Korridore, sondern eine Art überdachte Straße. Rechts und links wird gemalt. Und was da auf die Leinwände gezaubert wird, zeugt von einem guten Kunstunterricht. Weiter vorne spielt eine Band vor einer großen Traube Schüler. Und überall ist Bewegung, auch nach den Pausen. Die Atmosphäre ist sehr einladend. Nur leider fehlte mir die Zeit zum Essen, noch entspannter all die Kreativität aufnehmen zu können. In einem Raum der Bibliothek fand dann die Übung statt. Auch hier herrschte zunächst der Wunsch vor, weniger eine Schülerzeitung als vielmehr eine PR-Broschüre zu gestalten. Da sollten Texte über Faust erscheinen, über türkische Geschichte und die eigenen Schule. Doch auch bei dieser Gruppe sprang der Funken schnell über. Die Themen, die sie drücken, sind die gleichen: Hausaufgaben, Prüfungsstress, Dersane und so weiter. Aber dann kamen die eigenen Beobachtungen: Der Kiosk ist zu teuer. Jetzt soll mit einem Preisvergleich das Thema bearbeitet werden. Mal schauen, ob es gelingt. In die Stadt ging es dann mit einem der vielen Busse.

Der Vater eines Schülers hat mich am Ende begleitet. Und sein Leid geklagt. Denn er war vom TED auf dem Weg in die Dersane, in der sein Sohn nach der Schule täglich noch zusätzlichen Unterricht hat. Oft kommt der erst um neun Uhr nach Hause, um sich dann noch an die Hausaufgaben setzen zu müssen. Er tut seinem Vater leid. Aber einen anderen Weg, seinen Sohn in der Schule erfolgreich zu machen sieht er – wie hunderttausende andere türkische Eltern nicht. Rund um die Tunus Cadessi sind viele Lokale. Stetes Leben lädt zum Verweilen ein.

Ein Tag in Erzurum

Die Zitadelle liegt an einer sehr schmalen Straße. Hier ist richtig Altstadt. Es gibt alte Holzhäuser und Kopftücher überall. Auf dem kurzen Stück von der Zitadelle zurück zur Hauptstraße findet sich rechterhand eine Moschee oder ein Kulturverein, in den nur bekopftuchte Frauen gingen. Für den westlichen Beobachter wirkte das befremdlich; auch weil die Frauen mich nicht anblickten. Sie schauten allenfalls auf meine Schuhe. Und das machte mich wiederum so verlegen, dass ich mich nicht mehr traute, genau hinzuschauen. Und deshalb weiß ich nicht, ob es eine Moschee oder ein Kulturverein oder gar ein Frauen-Hamam war, in das sie alle verschwanden.

Links neben der Ulu-Moschee öffnet sich von der Zitadelle kommend ein Platz. Auf ihm steht eine Besonderheit: eine Medresse mit je einem Turm rechts und links neben dem Tor. Diese Koranschule ist heute nur noch für Besichtigungen offen. Gelehrt wird nicht mehr in ihr. Sie scheint aus der gleichen Zeit zu stammen wie die Moschee. In ihr ist alles um einen Kreuzgang angeordnet. Der Platz in der Mitte ist frei, doch rechts findet sich eine erhobene Fläche, auf der der Koranlehrer einst dozierte. Rechts und links davon sind die Türen, die in die kleinen Zimmer der Studenten führten. Am Kopfende ist das Grab einer Frau, offenbar der Stifterin der Schule.

Nun wirkte das bei mir alles sehr entrückt, weil ja alles voller Schnee war, aber im Sommer kann sich hier ein Eindruck davon verfestigen, wie die Islamlehrer ausgebildet wurden, um die Religion zu verbreiten. Der karge Raum verstärkt den Eindruck der Entbehrung. Aber wahrscheinlich ist das zu sehr aus dem Jetzt gedacht. Mittelalterliche Klöster waren auch kein Ort der Abwechslung. Auch bei uns waren die Häuser und Schulen aus heutiger Sicht eher entbehrungsreich.

Ein Mann um die 50 hat mich dann auf Englisch angesprochen. Nach meiner Antwort ist er sofort ins Deutsche gesprungen. Er hat mir seine Geschichte erzählt, wie er um 1980 als kurdischer Flüchtling für fünf Jahre in Dortmund gelebt hat. Die Zeit hat er genutzt, um Deutsch zu lernen. Er war neugierig und aufgeschlossen. Politisch hat er davon geträumt, dass der Nationalitäten-Quatsch ein Ende haben möge, damit sich alle Menschen darauf konzentrieren können, um zu sich selbst zu finden und damit auch die anderen besser wahrnehmen können. Das galt auch für die kurdischen Parteien. Die hält er inzwischen für genauso falsch wie die Parteien, die für ein geeintes Türkentum kämpfen. Es könne doch nur darum gehen, dass alle Menschen, die in einer Region oder einem Land leben, die gleichen Rechte und Pflichten hätten. Deshalb sei kurdischen Nationalismus genauso falsch wie türkischer, deutscher oder sonst einer auf der Welt.

Das Gespräch war sehr angenehm, da er gar nicht aufdringlich war. Auch nicht, als er sagte er sei Teppichhändler und würde mir seinen Laden gern mal zeigen. In dem Moment regten sich bei mir alle Abwehrreflexe. Doch dann habe ich mich entschieden mitzugehen. Sein Laden ist gleich in der Gasse rechts von der Medresse. Er zeigte mir unterschiedliche Stücke und war auch gar nicht sauer, als ich schon anfangs sagte, ich werde nichts kaufen. Der Tee war gut und ich habe einiges über spezielle Tücher aus Erzurum gelernt, über Teppichhandel und Reisen in den Iran und Preisunterschiede zwischen Erzurum und Istanbul. Anschließend hat er mir noch seine neueste Errungenschaft gezeigt: Ein altes Haus, das er saniert hat und in dem jetzt auf zwei Etagen ein Café ist. Die rohen Holzstämme im Inneren haben etwas Befremdliches, aber auch etwas sehr Gemütliches. Wenn ich nicht den Termin in der Schule und tatsächlich auch etwas Hunger gehabt hätte, wäre ich sicherlich noch auf einen Cay geblieben.

So aber ging ich die Hauptstraße zurück und genoss die Sonne. Meine Schuhe sahen ganz furchtbar nach all dem Dreck und Regen und Schnee aus. Deshalb habe ich mir die Schuhe putzen lassen. Im ersten Moment hatte ich ein schlechtes Gewissen. Der reiche Europäer lässt sich vom armen Türken die Schuhe putzen. Das Bild hat schon etwas Perverses. Aber ich benötigte die Dienstleistung. Und so habe ich sie in Anspruch genommen. Was der Mann dann aus meinen Schuhen gemacht hat, ist kaum zu glauben. Nach etwa zehn Minuten glänzten sie so sehr, dass der Grundglanz bestimmt noch tagelang zu sehen sein wird.

Zum Essen bin ich dann in ein Lokal, das einen Dönerspieß in der Waagrechten im Fenster hatte. Schon als ich das Lokal betrat, wurde der Tisch mit Salat und zwei Vorspeisen bestückt. Dann dauerte es gerade mal zwei Minuten und schon bekam ich einen Spieß auf den Teller gelegt. Erst wunderte ich mich, wo der Spieß herkam. Doch dann beobachtete ich den Mann am großen, liegenden Spieß. Hinter ihm ist glühende Holzkohle. Er dreht den Spieß ständig. Mit einem kleinen Spieß sticht er fertiges, überstehendes Fleisch an und schneidet es ab. So füllt sich der kleine Spieß mit immer neuen kleinen Stückchen. Und diese Spieße werden dann durch das Lokal getragen. Und einfach auf die Teller der Gäste gelegt.

Bis man Nein sagt. Erst dann ist Schluss. Das Essen war sehr gut, aber allzu viel konnte ich nicht zu mir nehmen. Schade eigentlich. Der türkische Kaffee zum Schluss rundete das Mittagsmahl ab. Und dann half mir die ganze Belegschaft – es waren mindestens sechs, die ich mit nur 11 Tele für das reichliche Mittagessen plus Cola und Kaffee entlohnen sollte – einen Taxifahrer zu organisieren. Zwischenzeitlich wurde mir ein Handy ans Ohr gehalten, aus der eine Männerstimme sagte, ich könne immer anrufen. Ere würde sich um mich kümmern und mir alles zeigen in der Stadt. Aber ich wollte doch nur in ein Taxi und in diese Schule. Irgendwann klappte es dann auch. Das Taxi fuhr an der neuen Skisprungschanze vorbei, passierte viele neue Häuser und brachte mich schließlich auf einen Campus, der wie ein Ufo wirkte.

Da war alles blitzblank, da zeugte eine moderne, markante Architektur von großem Selbstbewusstsein. In der Schule wurde mir klar, dass das alles zusammengehört. Denn die Schule ist eine Privatschule, die sich zur Aufgabe macht, eine neue türkische Elite in der Peripherie des Landes auszubilden. Dafür gewährt eine Stiftung Stipendien für 80 bis 90 Prozent der Schüler. Um in den Genuss zu kommen, müssen sie bei den landesweiten Abschlussprüfungen nach der achten Klasse eine sehr hohe Punktzahl erreichen. Außerdem ist noch eine extra Aufnahmeprüfung nötig. Dafür kommen sie in eine Schule mit Internat, in der jeder Schüler einen eigenen Laptop bekommt und in Klassenräumen lernt, die mit der neusten Technik ausgestattet sind. Zudem wurde mir gesagt, dass die Klassen in der Regel 16 bis 18 Schüler haben. Wichtig ist den Lehrern offenbar, dass die Schüler auch lernen selbstständig zu denken. Für türkische Schulen ist das nicht selbstverständlich.

In der Regel geht es dort um abfragbares Wissen. Meine Übung war großartig. Die Schüler machten mit, stellten mir Fragen und waren auch sonst nicht nur neugierig. Nein, diese Schüler stellten auch immer wieder in Frage, was ich sagte. Und so war der Lerneffekt bestimmt noch besser, weil ich mir stets neue und noch überzeugendere Argumente einfallen lassen musste. Nach der Übung führte mich die Lehrerin noch zum Generaldirektor. Denn es gibt an der Schule neben dem Direktor auch diesen Mann, der dafür zuständig ist, die nächsten vergleichbaren Schulen in Van und einigen anderen Städten zu planen. Er selbst war Präsident einer Istanbuler Universität, war mehrere Jahre Gründungsrektor einer türkischen Uni in Kirgisien (wenn ich richtig aufgepasst habe) und auch sonst ein sehr weltgewandter Mann.

Trabzon im Dauerregen

Die Busfahrt von Trabzon nach Samsun führt immer entlang des Schwarzen Meers. Meist fahren wir zehn bis 20 Meter über ihm. In Trabzon hat es noch wie wild geregnet. So schwere Regentropfen, von denen jeder einzelne einen nassen Fleck hinterlässt. Nicht von diesen kleinen, eher feinen, die wir bei uns haben. Doch nach zwei Stunden kam die Sonne durch. Das trübe Meer hat sich von einem dunklen Grau in ein dunkles Türkis verfärbt.

Und immer da, wo die vielen Flüsse aus den Bergen rechts von uns in das Meer mündeten, lag ein helles Ocker in einer großen Fläche im Meer, die nach hinten immer weiter ausfranste. Da trugen die Flüsse den Sand und den Lehm von den Bergen, die mit Schnee bedeckt sind. Das sah schon alles imposant aus. Die Straße, auf der wir fahren, führt fast ständig an Orten und Städten vorbei oder durch sie hindurch.

Überall ist diese Küste bebaut. Immer in den gleichen vier bis sechsgeschossigen Häuser, wie sie überall zwischen Griechenland und Ägypten mal höher, mal niedriger stehen. Schön sind die nicht. Erst das Leben, das zwischen und in ihnen stattfindet, macht sie interessant.

Trabzon selbst war nicht so toll. Das lag aber sicherlich sehr stark an diesem Regen. Und dann auch nur 3 Grad. Die Ayasofia ist recht schön. Sie ist im 15. Jahrhundert gebaut worden und eines der wichtigsten spätbyzantinischen Bauwerke der Türkei. Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre wurden die erhaltenen Fresken saniert. Doch wirklich geschützt werden sie nicht. Zwar ist das Blitzen verboten, doch die Tauben fliegen durch die offenen Türen und hausen in dem Baudenkmal. In meinem Reiseführer von 1985 wird das schon bemängelt. Damals gab es wohl auch noch keine Fenster. Die schützen in der Kuppel nun, doch wenn die Tauben anders hineinkommen, ist nicht viel gewonnen. Die Fresken, die auch deshalb interessant sind, weil sie wie Mosaiken gemalt sind, werden wohl die nächsten 20 Jahre kaum überstehen. Das mit den Mosaiken bezieht sich auf die Strukturierung der Körper und die Faltenwürfe der Kleider. Sie wirken, als wären sie mit Mosaiksteinchen gemacht worden. Die Farbübergänge sind nicht so fein, wie normalerweise mit Farbe. Und dennoch sind die Gesichter, Körper und Gegenstände sehr plastisch.

Ein Blick in das Museum lohnt sich also. Auch, weil die Lage früher einmal sehr schön war. So erhaben mit dem Blick auf das Schwarze Meer.

Spannend ist die Schule. Sie wurde von Bruno Taut gebaut und ist tatsächlich ein für eine Schule erstaunliches Bauwerk. Alles ist licht und hell. Es gibt viele Räume zur Begegnung, etwa mit Tischtennisplatten und Billardtischen. Die Klassenzimmer sind großzügig und selbst die Schulbibliothek, die mit dunklen Bücherregalen bis unter die ca. 3,50 bis 4 Meter hohe Decke zugestellt ist, strahlt selbst bei diesem grauen Himmel und dem Dauerregen eine erstaunliche Helligkeit aus.

Wichtig in der Schule ist zudem der Fußballplatz. Vor knapp zehn Jahren war die Schule Weltmeister der Schulen. Und die türkische Meisterschaft holen sie fast jährlich. Kein Wunder, ist doch Trabzonspor seit Jahren einer der besten Clubs und spielt auch gerade wieder um die Meisterschaft ganz oben mit. Im vergangenen Jahr habe ich Trabzonspor in Istanbul gegen BBS spielen gesehen. Das kam bei den Schülern gut an. Es hat wieder viel Spaß gemacht, mit ihnen zu arbeiten. Leider waren sie noch nicht so gut, dass sie deutsch reden konnten. Sie haben zwar viel verstanden, aber es musste alles von der netten Deutsch-Lehrerin übersetzt werden.

Verantwortlich für das BBI-Chaos ist die 
Politik, nicht 
die Flugsicherung

Fast täglich finden rund um Schönefeld Demonstrationen und Diskussionen statt. Der Unmut über die Flugrouten-Unsicherheit treibt Menschen auf die Straße, die noch nie demonstrierten. Und er fördert den Verdruss an der Politik, der eine Dynamik wie in Stuttgart entwickeln kann.

Das liegt am Umgang der Landesregierungen und des Bundeswirtschaftsministers mit den Empfehlungen der Flugsicherung. Alle erwecken den Eindruck, als sei die Behörde für die Verunsicherung verantwortlich, obwohl sie nur geltendes Recht umzusetzen versucht. Recht, das die drei nicht kannten oder aber ignorierten.

Statt sich der eigenen Verantwortung zu stellen, wird die Fluglärmkommission aufgestockt. Jetzt sollen 34 statt 17 Mitglieder in dem Gremium beraten. Aber im Luftverkehrsgesetz steht eindeutig, dass nicht mehr als 15 Mitglieder in der Kommission sein sollen. Dieser erneute Dilettantismus im Umgang mit geltendem Recht lässt den Eindruck aufkommen, dass die Regierungen Platzeck und Wowereit entweder nicht wissen, was sie tun oder aber bewusst falsch spielen.

Das gilt auch für das Machtwort von Verkehrsminister Ramsauer. Der ist zwar der Vorgesetzte der ihm unterstellten Flugsicherung. Aber er selbst hat keinen Einfluss auf die Gestaltung der Flugrouten. Dafür gibt es internationale und nationale Regeln, an die sich alle halten müssen. Auch wenn der Minister das vielleicht nicht weiß.

Im Aufsichtsrat des Flughafens sitzen Platzeck und Wowereit mit je zwei weiteren Regierungsmitgliedern. Für Ramsauer ist dessen Staatssekretär im Gremium. Wenn ihnen als Eigentümer der Lärmschutz so wichtig ist, wie sie behaupten, dann müssen sie die Wirtschaftlichkeit des Flughafens einschränken. Ein Verzicht auf parallele Starts würde die Lage sofort beruhigen. Denn dann könnten die alten Flugrouten gelten.

Doch offensichtlich scheuen sich die Verantwortlichen, Verantwortung zu übernehmen. Dass der Flughafen am falschen Ort gebaut wurde, ist inzwischen jedem klar. Das Dilemma, das daraus entstanden ist, lässt sich nur lösen, wenn die politisch Verantwortlichen endlich offen über ihre Fehlentscheidungen und ihre Ziele diskutieren.

MOZ-Kommentar…

Ein zweiter Tag in Istanbul

Wer rechtzeitig am Galata-Turm ist, muss nicht anstehen. Das Gedränge auf dem schmalen Aussichtsrundgang, der nur in eine Richtung begangen werden darf, hält sich dann auch in Grenzen. Der Rundblick über das Goldene Horn lohnt sich. Wenn man nicht geschoben wird, kann man ihn auch genießen. Auch am zweiten Tag ist das Wichtigste, sich treiben zu lassen.

Ein Besuch beim Barbier, einmal die leckeren Törtchen in der Konditorei testen, auf der Galatabrücke verliebte Paare fotografieren, die krampfhaft versuchen die Digitalkamera so weit weg von sich zu halten, dass sie beide draufpassen, um dann selbst fotografiert zu werden. Das aber mit einem herzlichen Lachen und großer Freude an der gemeinsamen Nähe. Umso erstaunter schauen sie, wenn man ihnen die Kamera aus der ausgestreckten Hand nimmt, sie anlächelt und auf den Auslöser drückt.

Am Kai mit den vielen Fähranlegern wird das Schiff genommen, das als nächstes kommt. So steht dann ein Gang entlang der byzantinischen Stadtmauer an. Dabei wird klar, wie riesig die Stadt schon in der Antike und im Mittelalter war. Und welche Macht von dieser Stadt ausging. Entlang der Mauer finden sich noch viele alte Häuser, von denen etliche aber dem Verfall preisgegeben sind, wenn nicht bald etwas passiert. Aber auch Friedhöfe für muslimische Heilige liegen im Schatten der Mauer, die so dick ist, dass selbst Lastwagen vollständig in den Durchbrüchen für Straßen und Tore verschwinden. Natürlich findet sich auch wieder wunderbares Essen. Viel frischer Salat, gegrilltes und dennoch saftiges Lamm, Paste und Saucen, die mit dem feinen Brot eine feine Schärfe oder dämpfende Erdigkeit im Gaumen verteilen. Viel Tee an vielen Ecken, frisches Obst im Schatten der Mauer, das alles ohne jeden Stress, dafür aber mit wachen Augen.

Ein ehemaliges Kloster dient heute als Museum, die Moschee, die in ihm war, wurde dafür aufgelöst. Die Mosaike faszinieren, weil mit den Steinen eine Farbschattierung geschaffen wurde, die jeden Faltenwurf realistisch, jede Augenfalte plastisch werden lässt. Und später im Bazar macht es sogar wieder Spaß, den Laptop für einige kleinere Arbeiten anzuschmeißen. Wobei das Lesen der mitgebrachten Bücher doch noch wichtiger ist. Aber das geht in dem Bazar-Café nicht richtig. Zu viel passiert hier. Das wird deshalb auf den Abend verschoben. Doch das Treiben in Beyoglu ist zu schön, die Kneipen zu einladend, der Raki zu schmackhaft und die Musik zu gut. Es werden nur einige Seiten, spät im Hotel.

Ein erster Tag in Istanbul

Ein erster Tag in Istanbul

Die Flüge von Berlin nach Istanbul sind zwar günstig. Dafür rauben sie einem viel Zeit. Erst kurz vor zwei startet die Maschine. Ein schlechtes Gewissen fliegt nicht nur wegen des Klimas mit. Als Betroffener des neuen Flughafen in Schönefeld lehne ich Nachtflüge ab. Doch noch sind sie erlaubt. Und so nutzt man, wogegen man eigentlich ist. Schön ist dann die Fahrt mit dem Havas-Bus vom Flughafen Sabiha Gökcen in die Stadt.

Denn um halb sechs ist alle noch ruhig. Die Sonne geht auf, als der der Bus über die große Brücke über den Bosporus fährt. Nach wenigen Schlafstunden in Flugzeug macht dieser Anblick allen Ärger und alle Zweifel wett. Dennoch ist Schlafen angesagt. Und zwar im Hotel. Zumindest für einige Stunden, bis es dann zum späten Frühstück in diese Stadt geht.

Das erste Ziel in Istanbul ist Orhan Pamuks Museum der Unschuld. Zwar weiß ich seit der Lesung im März, dass es noch immer nicht eröffnet ist, aber einen Blick auf dieses ungewöhnliche Vorhaben, ein Museum für einen Roman zu eröffnen, der längst erschienen ist, muss dennoch sein. Pamuk will hier ein Haus als Museum so einrichten, wie es im gleichnamigen Buch beschrieben ist. Beim nächsten Besuch Istanbuls ist es vielleicht eröffnet?

An so einem ersten Tag in einer Stadt ist Treibenlassen das Schönste. Und so vergeht dieser Freitag auch. Ob in Katakoy Schiffen nachschauen, die offensichtlich zu einem internationalen Marine-Konvoi gehören oder später selbst mit dem Schiff auf die Prinzeninseln fahren, um mit dem Rad ein dann leider verschlossenes und verregnetes Kloster zu erkunden, dieses Nichts-Tun-Müssen ist herrlich. Und sorgt für einen schönen Abstand zur kurz vorher abgschlossenen Arbeit.

Auch wenn diese Ansammlung von Schwarz-Meer-Marineschiffen die Gedanken nach Libyen und Syrien zieht, wo Menschen andere Sorgen haben, als sich treiben zu lassen. Da geht es um Freiheit und den Sturz von Diktatoren. Große Themen, die so gar nicht in diese wenigen Tage Erholung passen wollen. Viele Cay in unterschiedlichen Cafés und Lokalen, gutes Essen mit Kreuzkümmel und Lamm, buntes Treiben in dieser vollen Stadt, all das ist belebend und beruhigend zugleich.

Ein zweiter Tag in Istanbul

Das schwierige Verhältnis von Zeitzeugen und Historikern

Eine Enquete-Kommission des Brandenburger Landtags beschäftigt sich mit der DDR und deren Erbe in der Gegenwart. Eine wichtige Frage dabei ist, wer die Deutungshoheit hat: Zeitzeugen oder Historiker? Die Bundesstiftung Aufarbeitung diskutierte das Thema in Berlin. Diese Reaktion kennt jeder, der sich für Zeitgeschichte interessiert: Da läuft eine Dokumentation im Fernsehen über die DDR und am nächsten Morgen wird im Büro heftig diskutiert. Denn das, was da zu sehen war, deckt sich nur zum Teil mit dem, was man selbst erlebt hat. „Zeitzeugen wollen sich in Untersuchungen wiedererkennen“, benennt Anna Kaminsky, die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, dieses Phänomen. Immerhin gehe es um ihr eigenes Leben.

Doch allzu oft ist die Sicht von Historikern oder Medien eine andere als die persönliche der Zeitzeugen. Weil das so ist, wird immer wieder gestritten, wer denn die Deutungshoheit habe. So geschehen bei der jüngsten Sitzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ in Potsdam. Haben nüchterne Historiker recht oder die Zeitzeugen, die mit all ihren Emotionen an ihrem Leben, ihrem Erlebten hängen? Noch dazu wenn sie Opfer waren und sich noch immer nicht gerecht behandelt fühlen.

Alexander von Plato hat als Historiker den Zeitzeugen immer viel Gewicht in seiner Arbeit eingeräumt. Er hat die sogenannte „Oral History“, die erzählte Geschichte, in der Bundesrepublik maßgeblich etabliert. Plato plädiert für eine Kooperation von Zeitzeugen und Zeithistorikern. Dabei verlangt er vor allem vom Historiker ehrliches Interesse an den Schilderungen der meist älteren Zeitzeugen. Denn das Erzählen „ist ein wesentliches Mittel zur Verarbeitung des Erlebten“. Aber der Zeitzeuge geht immer auch das Risiko ein, eine Entwertung zu erleben. Denn der Historiker habe zusätzliche Quellen wie Akten oder Statistiken, die das Leben des Einzelnen in größere Zusammenhänge einbetten.

Ganz radikal formuliert Günther Kröber seine Kritik an Historikern der DDR-Geschichte. Kröber war in den späten 40er-Jahren in der sächsischen LDP (später LDPD) aktiv, war zeitweise von der Stasi inhaftiert und nach der friedlichen Revolution FDP-Abgeordneter in Sachsen. Er bezweifelt, dass Stasi-Akten brauchbare Quellen für Historiker sein können. Da sie sämtlich auf widerrechtlichem Wege entstanden seien, „sind sie für die Wissenschaft nicht zu verwerten“.

Das sieht Ilko-Sascha Kowalczuk anders. Der Historiker der Stasi-Unterlagen-Behörde: „Ich traue zunächst niemandem.“ Das bezieht sich bei ihm auf Zeitzeugen genauso wie auf Stasi-Unterlagen. Der Historiker wisse um die Entstehung der Akten. Und er wisse um die Erinnerungsfähigkeit von Zeitzeugen. Mit den Methoden der Wissenschaft müsse man sich dem annähern, was untersucht werde. Bernd Faulenbach kennt inzwischen beide Rollen. Als maßgeblicher Historiker arbeitete er in den beiden Enquete-Kommissionen des Bundestags zur Aufarbeitung des DDR-Unrechts mit. Mehr als zehn Jahre später beschäftigen sich Zeithistoriker schon mit deren Arbeit. Und so findet sich Faulenbach nun auch in der Rolle des Zeitzeugen. „Ich habe ähnliche Reflexe wie andere Zeitzeugen auch“, gibt Faulenbach zu.

Einig waren sich Historiker und Zeitzeugen in der Kritik an den Medien. Vor allem das Fernsehen benutze Zeitzeugen oft nur, um sich hinter den stark gekürzten Aussagen von ihnen zu verstecken. Das grenze an Missbrauch von Zeitzeugen. Den befürchtet auch Zuhörerin Anke Kruschat. Sie lenkte die Diskussion auf die Brandenburger Enquete-Kommission und betonte, dass sich gerade die einstige DDR-Opposition noch heute ständig erklären müsse. Dies führe dazu, dass viele sich Zeitzeugen nicht mehr äußern wollten. Aus der Sicht der Wissenschaft bestätigte Faulenbach dieses Phänomen. Es daure oft sehr lange, bis sich die Anerkennung durchsetze.

Historiker Kowalczuk fügte dem noch hinzu, dass die Opfer gleich dreifach gedemütigt worden seien. Zunächst wurden sie durch die Inhaftierung ausgeschlossen. Anschließend durften sie nicht über das in der Haft Erlebte reden. Und schließlich habe sich im vereinigten Deutschland lange niemand für ihr Schicksal interessiert. „In Brandenburg ist das offensichtlich besonders eklatant“, urteilt der Historiker. MOZ-Beitrag…

Scheinlösung für BBI

Kaum hat die Fluglärmkommission das Beste aus der verfahrenen Situation in Schönefeld gemacht, schon jubilieren die Landesregierungen. In der Tat sind die vorgeschlagenen Flugrouten vor allem für Berlin gut. Doch das Umland befrieden sie nicht.

Der Flughafen Berlin-Brandenburg-International wird am falschen Ort gebaut. Wer in dicht bevölkertem Gebiet einen Flughafen betreiben will, muss zwangsläufig viele Menschen mit Fluglärm belasten. Wer dann noch wie Berlins Regierungschef Klaus Wowereit weiter vom internationalen Drehkreuz schwadroniert, darf sich nicht wundern, wenn ihm die Betroffenen nicht vertrauen.

Sie alle wissen inzwischen, dass Flugrouten für den BBI nur Empfehlungen sind, die Fluglotsen aushebeln können. Sie wissen auch, dass sie geändert werden können, wenn die Wirtschaftlichkeit es erfordert – auch wenn Matthias Platzeck und Klaus Wowereit den Fluglärmgegnern maximalen Lärmschutz versprochen haben. Wer aber der Wirtschaft ein internationales Drehkreuz verspricht und den Betroffenen besten Lärmschutz, kann nicht die Wahrheit sagen. Und somit die Region nicht befrieden.

MOZ-Kommentar…