Barock-Opern haben oft die Tendenz zur Länge. Auch Semele von Georg Friedrich Händel hat die Schleifen ständiger Wiederholungen. Manche Arie besteht nur aus vier bis acht Versen, die variiert und wiederholt werden. Umso erstaunlicher ist die Wirkung, wenn Musik, Gesang und eine phantastische schauspielerische Leistung das Publikum so in den Bann schlagen, dass selbst dreieinhalb Stunden wie im Flug vergehen. Genau das gelingt der Komischen Oper mit dieser Semele!
Es gibt Einspielungen der Semele, die mit gut zwei Stunden auskommen. Barry Kosky (Regie) und Konrad Junghänel (musikalische Leitung) haben sich gegen Kürzungen entschieden. Sie haben es sich und dem großartigen Ensemble zugetraut, die Kraft des gesamten Werkes zur Entfaltung zu bringen. Dazu gehört Mut. Den haben die beiden schon oft bewiesen. Auch diesmal völlig zurecht.
All die langen Arien entfalten ihre grandiose Wirkung, weil alles bis ins feinste aufeinander abgestimmt ist. Das düstere Bühnenbild, das an ein ausgebranntes barockes Schloss erinnert, das in seinen oberen Stockwerken in den Schlot eines Vulkans übergeht, ermüdet trotz der Düsternis nicht. Das kleine Orchester mit der wunderbaren Art sich die historische Aufführungspraxis anzueignen, mit dem Klang von Theorbe (Thomas Ihlenfeldt), Cembalo (Frank Schulte, Rita Herzog) und dem Violoncello (Rebekka Markowski) erzeugt eine enorme Intensität. Der Chor, der aus den Chorsolisten der Komischen Oper zusammengestellt ist, singt nicht nur anmutig und kraftvoll, er bewegt sich auch wie ein lebendiges Bühnenbild voller Freude, Trauer und Panik.
Und dann die acht Solisten! Allen voran die Semele! Nicole Chevalier ist fast die gesamte Zeit auf der Bühne. Sie durchlebt Lust, Ekstase, Größenwahn und vernichtendes Leid. Ihr Sopran trägt auch nach dreieinhalb Stunden noch bei selbst den leisesten Passagen. Und das, obwohl sie so intensiv spielt, dass ihr jeder im Publikum zu jeder Minute die Gefühle der Semele mitempfindet. Allan Clayton ist ein Jupiter, dem man nicht nur den obersten Gott abnimmt, sondern auch den liebenden, den sanften, den rasenden Mann, der Semele so sehr begehrt, dass er ihr aus Leichtsinn und Hingabe alles verspricht, was sie will. Er weiß nicht, dass seine Frau Juno (Ezgi Kutlu) Semele den furchtbaren Wunsch einredete, ihren Mann und Semeles Liebhaber in göttlicher Pracht sehen zu wollen. Kutlu spielt die Verführerin kokett und glamourös glaubhaft.
Das gilt auch für die andern glanzvollen Partien. Kosky kitzelt die Komik, die Tragik, die Kraft sämtlicher Gefühle aus Händels Oratorium. Aber er acht daraus eine Oper, in der sämtliche Künste zu einem wunderbaren Gesamtkunstwerk verwoben werden. Dem kann sich niemand entziehen. Das muss jeder im Publikum mitfühlen. Und das muss sich in Bravo-Rufen und phantastischem Applaus enden!