Hertha Pauli beschreibt Mehrings Flucht aus Wien

Als Wien noch die Weltstadt war, in der das Haus Habsburg und der Walzerkönig regierten, spielte auch das Wiener Kaffeehaus eine ganz andere Rolle. Hier traf sich die große Welt, hier wurden Ideen geboren, Entscheidungen gefällt und Hoffnungen begraben. Im Kaffeehaus spiegelte sich wie auf einem kleinen Welttheater der Wandel der Zeiten. Die Figuren an den Stammtischen, Politiker, Dichter oder Schachmeister, traten entsprechend auf und ab. Die beiden berühmtesten Cafés aus der guten alten Zeit lagen nahe der Hofburg: das Café Herrenhof und das Café Central. Im Herrenhof traf sich Kronprinz Rudolf einst inkognito mit liberalen Journalisten, und im Central spielte vor dem Ersten Weltkrieg ein Herr Bronstein täglich seine Schachpartie, bis er in einem versiegelten deutschen Militärwaggon als Leo Trotzki in die Weltgeschichte einfuhr. Vor dem Zweiten Weltkrieg frühstückte ein neues Regierungsmitglied gern im Herrenhof. Jeder gute Ober kennt die Lesegewohnheiten seiner Stammgäste, und so legte er Dr. Seyß-Inquart stets geflissentlich die Zeitungen aus Deutschland auf den Tisch. War doch der Herr Minister 5sterreichs offizieller Verbindungsmann mit dem Dritten Reich.

Ein längerer Textauszug steht im Walter-Mehring-Blog… 

Von der eigenen Beschränktheit

„Wie wenig du gelesen hast, wie wenig du
kennst – aber vom Zufall des Gelesenen
hängt es ab, was du bist.“ (Elias Canetti)

 „Da war ich einmal fünf und einmal acht Monate im Knast. Und in Bautzen dann noch zwei Jahre.“ Direkt hinter mir im Zug sagt ein Mann diesen Satz. Ich kann mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Meine Ohren wachsen und versuchen jedes Wort von hinten nach vorne in mein Hirn zu ziehen. Es gelingt ihnen.  Ich fühle mich wie im Kino. Die Worte lassen mich gruseln. Der Verbrecher ist  keinen Meter von mir entfernt! Nur die Lehne meines gepolsterten Sitzes trennt mich von ihm! Aber es gibt diese Lehne! Und diese Polstersitze, die genauso blau und fast so bequem wie die im Kino sind. Die Distanz verhindert echte Angst. Nur dieser wohlige Schauer wie bei einem guten Krimi überkommt mich. Und wie im Kino sind die Nerven ganz auf das Geschehen hinter mir konzentriert.

Offensichtlich waren Drogen und Schlägereien die Gründe für die Haftstrafen. Sein Begleiter kann nicht mit Knast-Erfahrung aufwarten. Er steuert drei Jahre Therapie bei. Auch bei ihm müssen es Drogen gewesen sein, die zur Behandlung führten. Gescheiterte Existenzen also. Zum Wohlfühl-Gruseln kommt nun noch die Überlegenheit des Wissenden hinzu.

Als der Therapierte dann aber davon spricht, dass er seiner Freundin den Fernseher abkaufen will, um ihn auf den Müll zu schmeißen, stutze ich. Als sich beide über die Dauerverblödung durch die Glotze auslassen noch viel mehr.  Gesteigert wird das nur noch durch die Sorge der Männer, dass die Tochter der Freundin gar keine Chance habe, als ebenfalls zu verblöden. Mein schnelles Weltbild wankt. Was ist das denn? Kulturpessimismus in Proletenslang? Meinen die das ernst?

„Der Ronny war doch auch Nazi.“ „War der nicht schwul? Der hat doch die anderen Nazis abgeknutscht, wenn die alle besoffen waren, oder?“ Der Knacki hat einen Erinnerungsreigen eröffnet. Jetzt geht es um Mitschüler. Und darum, wann die Polizei wie oft in die Schule musste, weil man sich geprügelt hat. Und wo die Bullen wen aufgegriffen haben.  Die beiden haben viel zu lachen. Es klingt wie früher, wenn Opa mit alten Kameraden vom Krieg erzählte.

Und dann wieder so etwas: „Ich kann ja Bibliotheken nur empfehlen. Da bekommst Du alles und musst Dir die Bücher nicht kaufen.“ „Nee. Ich will die Bücher haben, die ich gelesen habe.“ „Warum das denn? Die liest man ja doch nur einmal. Oder hast Du schon mal eines zweimal gelesen“ „Quatsch. Wenn ich mit einem durch bin, will ich doch das nächste lesen. Es gibt doch so viele Bücher, die ich noch lesen will. Aber vielleicht will ich ja mal was nachschauen.“ „Hm. Eins hab ich zweimal gelesen. Das war mit der Sprache beim ersten Mal so schwer. Aber dann war es echt gut.“ „Was denn?“ „Steppenwolf von Herrmann Hesse. Das war echt schwer. Aber dann einfach super. Kann ich nur empfehlen.“

Ich bin platt. Die reden über Bücher! Und wollen Fernseher auf den Müll schmeißen! Die waren im Knast oder in Drogentherapie! Und jetzt sprechen sie von der Lust am lesen? Das gibt es doch nicht! Doch. Der eine hat in Bautzen angefangen und kann seit dem nicht mehr von Büchern lassen. Den anderen infizierten die Therapeuten. Was die Schule nicht schaffte, haben sie selbst geschafft. „Jeder hat sein Leben. Und jeder muss schauen, was er daraus macht!“ Das sagte der Knacki. Und der Therapierte: „Aber die Kleine kann das doch nicht allein. Deshalb muss der Fernseher auch raus!“

Und ich? Ich fühle mich wie ein Depp. Beim Aussteigen wage ich einen Blick auf die beiden. Zwei Kerle um die 30 sitzen da. Sie lachen, erzählen, leben. Innerlich kann ich nur mitlachen. Über mich und meine Beschränktheit.

Flashmob gegen die NPD in Cottbus

Flashmob gegen die NPD in Cottbus am 3. März 2012. Der Infostand der rechten Parteigenossen hat deutlich mehr Menschen in Cottbus missfallen, als an ihm beteilgt waren. Auch hat so gut wie niemand die Infos der NPD gewollt. Eine schöne Aktion der Cottbuser gegen die Braunen.

Letzte Worte an meinen Vater

Vater, es war nicht immer einfach mit Dir. Du hattest Deinen Kopf, hattest Deine Überzeugungen, hattest Deinen Rahmen, den Du ausgefüllt hast. Weil Du das alles hattest, kam es zwangsläufig dazu, dass man sich mit Dir auch reiben musste.

Aber vor allem hattest Du ein großes Herz. Und viel Liebe für uns und die Menschen überhaupt. Deine Vorstellungen hast Du nicht rücksichtslos durchgesetzt. Es ging Dir nicht darum, als Missionar andere zu bekehren. Dazu hast Du Deine Mitmenschen in all ihrer Vielfalt zu sehr geliebt. Wenn jung und alt zusammenkamen, dann hast Du das genossen. Wenn Grüne und Christsoziale und Sozialdemokraten am gleichen Tisch ihren Schoppen tranken und diskutierten, dann hast Du das Leben so gespürt, wie Du es am liebsten hattest: als warm, herzlich und anregend. Denn da überwog das Menschliche das Prinzipielle. Genau da hast Du Dich wohlgefühlt.

Auf Deine Überzeugungen hast Du deshalb aber dennoch nicht verzichtet. Du hast sie nicht hintangestellt, um irgendjemanden zu gefallen. Vielmehr hast Du Dir die Freiheit genommen, in welchen Gruppen und Zusammenhängen auch immer, Du selbst zu sein. Das geht nur, wenn man einen eigenen Kopf hat. Und wenn man ein großes Herz hat. Dieses Herz hat das Verbindende gesucht und geliebt.

Manchmal hat uns Kinder dieses Herz für die anderen auch genervt. Etwa wenn wir nach dem Gottesdienst am heiligen Abend im Mannschaftsheim darauf warteten, dass Du endlich von der Runde zurückkommst, die Dich zu all jenen führte, die in der Kaserne Dienst hatten. Da wären wir lieber schon bei der Bescherung gewesen. Aber Deine Dienstauffassung und Dein Respekt für die Menschen, die da alleine ihre Pflicht taten, hat das nicht zugelassen.

Damals war das für ein Kind schwer zu verstehen. Heute nötigt es mir Respekt ab. Diese ganz natürliche Fähigkeit sich selbst für andere zurückzunehmen. Und sich für sie einzusetzen. Das hast Du ja auch immer für uns getan. Egal was passierte oder geschehen könnte, wir waren uns immer sicher, dass Du zusammen mit unserer Mutter zu uns stehen würdest. Auf diesem Fundament des Vertrauens konnten wir uns ausprobieren, konnten Freiheit und Verantwortung lernen. Wenn wir eine Frage hatten, warst Du da. Wenn wir Hilfe benötigten, hast Du sie organisiert. Dafür danken wir Dir.

Du warst neugierig auf das Leben und seine Veränderungen. Schon als junger Soldat in den 50er Jahren hast Du Dir immer den Spiegel gekauft, hast Dir ein unglaubliches historisches Wissen in der Bibliothek und mit eigenen Büchern angeeignet, hast uns auf Deiner Art Bildung nahe gebracht, ohne davon Aufhebens zu machen. Auch dafür danken wir Dir. Und dafür, dass Du auch von uns gelernt hast. Du bist nie stehen geblieben, hast auch uns und unsere Überzeugungen immer respektiert – und wenn es nötig war auch in Diskussionen mit anderen verteidigt. So hast Du schon 1990 in die Hammelburger Bürgersolaranalge investiert oder mit Mitte 50 noch angefangen Theater zu spielen.

All das zeigt, wie frei, offen und neugierig Du warst. Zusammen mit Deiner Herzlichkeit wirst Du uns deshalb nicht nur in Erinnerung bleiben. Nein. Du wirst uns auch in Zukunft Vorbild im besten Sinne des Wortes sein. Auch dafür wollen wir Dir danken.

Alle hier wissen, wie gern Du gefeiert hast, weil Du dann mit anderen Menschen zusammen sein konntest. Zum Feiern hat gegen Ende immer ein Lied gehört. Ganz oft hast Du „In wanna go home“ angestimmt, in dem es um die Sehnsucht nach Geborgenheit und Freiheit geht. Du hast Dir gewünscht, dass der Friedel das Lied für Dich singt. Er wird es jetzt tun. Wir alle denken dabei an Dich.

Klaus Oppermann (08/1934 – 02/2012)
Sein Humor fehlt uns genauso wie seine Liebe, sein Lachen und seine Herzlichkeit.

Wie die Nachricht vom Tod meines Vaters in der Familie meines Cousins ankam: