Vladimir Jabotinsky beschreibt das Ende des alten Odessa

Vladimir Jabotinsky: Die Fünf
Vladimir Jabotinsky: Die Fünf

Fünf Geschwister sind es, die es dem Erzähler von Vladimir Jabotinsky angetan haben. Fünf Menschen, die aus einer aufgeschlossenen, liberalen Familie Odessas stammen und alle so unterschiedlich sind, wie die Zeit, in der sie leben. Da ist Lika, die Revolutionärin, Marussja, die zärtliche Frau, die sich nach Leben und Familienglück sehnt, Torik, der rationale Planer, Serjoasha, der Hallodri und Marko, der Träumer. Ihnen allen begegnet der erzählende Journalist von cairca 1900 bis 1910 immer wieder.

Jabotinsky war Jude und Journalist aus Odessa. 1880 geboren, war er um das Jahr 1905 ungefähr genauso alt, wie sein Erzähler. Geschrieben hat er seinen Roman „Die Fünf“ 1936, als die Bolschewisten schon fast 20 Jahre in Russland an der Macht waren. Und damit das multikulturelle, weltoffene Odessa untergegangen war. Zur Zeit von Niederschrift und Erscheinen war er schon lange Zionist, ja ein rechter, nationalistischer Zionist. Dennoch ist sein Roman davon überhaupt nicht geprägt. Nur von der Wehmut an die Erinnerung an die untergegangene, bürgerliche Gesellschaft Odessas.

Exemplarisch für das Liberale ist Marussja. Sie ist eine Frau, die Nähe sucht. Sie ist so frei, nackt im Schwarzen Meer zu baden. Sie hat Männer um sich und nimmt sie sich auch. Sie sucht die Nähe, legt sich zum Erzähler ins Bett, um zu spüren, aber nicht, um mit ihm zu schlafen. Ein auf der einen Seite sehr freies Verhalten, auf der anderen aber auch eines, das ihre Verehrer quält. Sie entscheidet sich für die Ehe mit einem Langweiler, obwohl sie einen anderen liebt, den sie damit in den Selbstmord treibt. Obwohl das alles irre ist, ist sie liebenswürdig und ihre Gesellschaft ein Genuss. All das beschreibt Jabotinsky mit einer Distanziertheit, die die Phantasie des Lesers stark anregt.

Jabotinskys Ton ist generell sehr zurückhaltend. Dadurch wirkt das Geschehen um so stärker. Er geht auch kaum auf die gesellschaftlichen und politischen Prozesse ein, die zur Revolution von 1905 führen. Aber dennoch nimmt der Leser die Veränderung wahr. Nicht unbedingt als Fortschritt, aber auch nicht als Anklage. „Die Fünf“ wurden das erste Mal ins Deutsche übersetzt. Zum Glück gibt es inzwischen eine Erfolgsausgabe des Buches, das in der Anderen Bibliothek erschienen ist.

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Erneut gelesen: Christoph Ransmayrs „Die letzte Welt“

Die Erstausgabe von Ransmayrs "Die letzte Welt"
Die Erstausgabe von Ransmayrs „Die letzte Welt“

Wenn es ein Buch gibt, in dem es ständig regnet, dann war dies für mich immer „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr. Ganz fest in meiner Erinnerung sind Regen und Schwarzes Meer und „Die letzte Welt“ eins. Umso erstaunlicher war beim erneuten Lesen des Buches, dass es in der ersten Hälfte überhaupt nicht regnet. Und auch in der zweiten nur ab und an. Dann aber ganz massiv und heftig.

Erstaunlich, was sich von einem Buch im Gedächtnis festsetzt. Die neue Lektüre bestätigte aber die Faszination des Textes, den ich 1989 verschlungen hatte. Auch 23 Jahre nach dem ersten Lesen hat „Die letzte Welt“ von Christoph Ransmayr nichts von ihrer Faszination verloren. Im Gegenteil: Das Buch hat gewonnen, weil das Wissen um die historischen und literaturwissenschaftlichen Hintergründe größer geworden ist. Auch heute noch ist der Roman eine treffende Parabel auf die Angst des Diktators vor der Kraft des freien Wortes. Und ein wunderbarer Text über das Weiterleben von literarischen Figuren und Erfindungen.

Ransmayr hat Ovids Metamorphosen in einen zeit- und raumlosen Roman über die Veränderung der Welt verwandelt. In dem Roman geht es darum, dass ein römischer Bürger, Cotta, den verbannten Dichter Ovid sucht. Dazu fährt er ans Schwarze Meer, wo der Dichter auf Geheiß Augustus‘ leben muss. Es gelingt ihm zwar nicht, Ovid zu finden, aber seine Erzählungen, seine Figuren finden sich überall. Ein bisschen ist es wie bei „Alice im Wunderland“: Cotta tritt nach stürmischer Seefahrt in eine andere Welt ein und wird Schritt für Schritt Teil von ihr. Mit jeder Figur, mit jeder Erzählung kommt Cotta so seinem Vorbild Ovid näher, ohne ihn aber jemals zu sehen. Das Buch hat nichts an seiner Kraft verloren. Nur meine eigene Vorstellung vom ständigen Regen musste ich beim Wiederlesen revidieren. Und der Reiz der völligen Aufhebung von Zeit und Raum hat mich jetzt viel mehr begeistert.

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Die Wolfsjäger
Atlas eines ängstlichen Mannes

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