Peter-Paul Zahl amüsiert auch 30 Jahre später

Peter-Paul Zahl: Die Glücklichen
Peter-Paul Zahl: Die Glücklichen

Dieses Buch ist ein ganz eigener Kosmos. Peter-Paul Zahl, ein studentenbewegter  Linker, der in den frühen 70er Jahren ins terroristische Umfeld abrutschte, schildert den Zerfall der 68er-Bewegung in Deutschland aus der Sicht einer Berliner WG.

Zahl erzählt von den gemeinsamen Demos gegen die Springer-Konzern, er erzählt von  Militanten und  kommunistischen Dogmatikern und er erzählt von der Solidarität, die die Terroristen der  RAF und der Bewegung 2. Juni in den linken WGs genossen. Das Ganze montiert er aus unendlich vielen Zitaten und Handlungssträngen zu einem Schelmenroman gegen die Obrigkeit. Das ist oft lustig, vielfach bedenkenswert und auf jeden Fall literarisch gelungen.

Peter-Paul Zahl: DIE GLÜCKLICHEN – EIN SCHELMENROMAN. DAS NEUE BERLIN
19,90 EURO.

 

Toni Mahoni ist sich sicher: Allet is eins

Toni Mahoni ist ein Phänomen des Internets. Auf myspace wurde er groß. Seine Songs fanden Hörer, weil sie witzig, direkt und in einem schönen, rotzigen Berlinerisch gesungen
sind. „Allet is eins“ heißt jetzt sein erstes Album.

Das hält, was uns sein myspace-Treiben versprochen hatte. Wer den ersten Song Ketten gehört hat, muss das Album zu Ende hören. Wunderbar, wie Toni da unser aller falsches
Einkaufen kommentiert: „meen kleena buchladen macht bald zu / und schuld daran bist du / denn du korrupta clown / koofst jedet buch bei amazon“. Tja, wo er recht hat, hat er recht.

Und wenn er diese Weisheit auch noch wie einen echten Gassenhauer intoniert, der sich in die Gehörgänge wie ein Ohrwurm windet, dann hat er uns gewonnen. Und das zu Recht. Denn seine Lieder sind einfach schön. Seine Hymne auf Brandenburg genauso wie der
verzweifelte Appell an die Freundin, doch auch mal was mit Fleisch zu kochen: „Ick mag ja dein jemüse / ich krieg bloß kalte füße / ick brauch paar proteine, / sonst fallick vonna schiene / dit wolln wa beede nich / drum kommt fleisch heut auf den tisch.“ Toni Mahoni klingt etwas wie Tom Waits. Er ist nur viel jünger.

P.R. Kantate ist janz dick im Jeschäft

Der Berliner Plattenreiter Kantate hat sich die deutsche Rockmusik der 80er-Jahre noch mal angehört. Und Rio Reisers „König von Deutschland“ in einen Kreuzberger verwandelt. Und aus „Karl dem Käfer“ einen Kiffer gemacht. Das Gute daran: Es sind richtig gute Songs entstanden.

P. R. Kantate hat das Covern als Kunst begriffen und sich Songs von Ideal, Trio, Grauzone angeeignet. Er hat sie neu abgemischt, mit neuen Texten oder Textteilen versehen und so zu Berliner Songs eines Jungen vom Kiez in Kreuzberg gemacht. Das Ganze ist mit Reggae-
Rhythmen unterlegt und zu einer extrem tanzbaren Musik gemixt.

Seine selbstironischen Einschübe unter dem Titel „Radio Ragga“ geben dem ganzen Halt und Struktur. Das Ganze ist also ein echter Knüller, verspielt und doch mit Witz und Schärfe.

Die Ohrbooten kommen nach Babylon bei Boot

Ohrbooten: Babylon bei Boot
Ohrbooten: Babylon bei Boot

Dieses Album kommt zwei Wochen zu spät. Der G8-Gipfel ist vorbei. Die Ohrbooten hätten den optimalen Soundtrack bieten können. Songs wie Keine Panik, der vom kranken Planeten Erde mit dem Parasit Mensch erzählt, oder Bild Dir eine Meinung, der eine wunderbare konsumkritische Anklage ist, hätten bei den Kritikern der Politiker bestimmt Gehör gefunden.

Das spätere Erscheinen des feinen Raggae-Albums Babylon bei Boot schadet nicht. Dafür sind die Gesangspartien mit mehrstimmigen Wechseln zwischen Bass und Falsett, die groovigen Beats und die intelligenten Texte zu gut. Die Ohrbooten finden ihr Publikum: Der Titelsong ruft dazu auf, sich bei den vier Musikern zu melden. Sie wollen sich zum Gig auf Augenhöhe mit Fans treffen – auf der Straße.

Thomas Brussig sucht die käufliche Liebe

Bordelle, Swinger-Clubs und Peep-Shows sind die Räume, die sich Thomas Brussig (41, Sonnenallee) für sein neues Buch genau anschaute. Auf 200 Seiten beleuchtet er das horizontale Gewerbe Berlins aus fast allen Perspektiven.

Bislang hat der Ostberliner vor allem mit Romanen auf sich aufmerksam gemacht, die mit viel Ironie und Witz auf die DDR und die Wende zurückblickten. Zwar spielte schon in Helden wie wir das männliche Geschlechtsteil eine ganz zentrale Figur. Dennoch schrieb Brussig damals einen rein fiktionalen Text. „Berliner Orgie“ ist dagegen eine Sammlung von Reportagen.

Anlass für Brussigs Streifzüge durch die Welt der käuflichen Erotik und Liebe Berlins war die Anfrage einer Boulevardzeitung. Sie wollte von dem Autor Texte über Puffs, Straßenstrich und Escort-Service. Ziel war ein persönlicher Zugang zu einer Welt, die mit
Mythen und Gerüchten für viele Menschen verhüllt ist. Diesen Schleier kann Thomas
Brussig tatsächlich beiseite schieben. Und das ganz ohne billiges Spannen zu ermöglichen-

Brussig  nähert sich den Huren, spricht mit ihnen, schafft es, Vertrauen zu gewinnen und erfährt so sehr viel von den nüchternen Lebensbedingungen in den Bordellen und auf
der Straße. Brussig begegnet Ausländerinnen vor allem aus Osteuropa. Doch viele von ihnen sind keine Zwangsprostituierten, sondern sie wählten den Strich nach gescheiterten Ehen. Das ist natürlich auch nicht wirklich freiwillig, aber es ändert den Blick auf die
Frauen.

Brussig begegnet oft auch der Tristess und der Trostlosigkeit, die alles andere als Lust erzeugt. Er fragt sich, was Männer dazu treibt, hier Frauen viertelstundenweise einzukaufen. Aber er schildert auch ganz offen, dass es für ihn als Mann eine ganz neue Erfahrung war, umworben zu sein. Während sonst Frauen von Männern umworben
werden, funktioniert die käufliche Liebe gerade andersrum. Brussig ist so offen, über seine
Komplexe und mulmigen Gefühle zu schreiben. Und über die Faszination, wenn Frauen offen um ihn werben – auch wenn es eigentlich nur ums Geschäft geht.

Fazit: Ein offenes Buch über ein delikates Thema, das Thomas Brussig ohne feuchte Träume, falsche Scham oder Spannerlust schildert.

THOMAS BRUSSIG: BERLINER ORGIE. PIPER. 16,90 EURO.