Die geplante Fahnenflucht von Kronprinz Friedrich und Leutnant Katte ist ein Stoff, der alles enthält, was einen guten Roman ausmacht. Wenn Michael Roes sich damit auseinandersetzt, wird ein facettenreiches, faszinierendes und phantasievolles Buch daraus. Und je weiter man in den 800 Seiten kommt, umso erschütternder wird „Zeithain“.
Michael Roes erzählt die Geschichte auf mehreren Ebenen. Da ist zunächst ein junger englischer Mann, der die Geschichte Kattes recherchiert und auf dessen Spuren Deutschland bereist. Er wird als Nachfahre von Kattes Familie eingeführt. Bei seinem Vater findet er Briefe Kattes an dessen Tante, die Mätresse des englischen Königs George I., des ersten Hannoveraners auf dem englischen Thron. Diese Briefe sind genauso eine literarische Erfindung wie die englischen Nachkommen. Aber sie bietet Roes die Gelegenheit, aus der Gegenwart auf die Geschichte zu blicken und dem Leser Chancen zur Spiegelung der Moralvorstellungen des 18. Jahrhunderts im Jetzt. Ein guter Kniff, um das historische Geschehen noch näher an uns zu bringen.
Dann gibt es die wichtigste Ebene: Die Sicht Kattes auf sein Leben. Dies wird chronologisch von der Kindheit auf dem väterlichen Gut in Wust bei Tangermünde, die Schulzeit im Internat von Pastor Francke in Glaucha bei Halle, dem Studium in Königsberg, wo der Vater Stadtkommandant ist, die Kavaliersreise nach Paris und London und schließlich die Zeit beim Militär in Berlin. Erst hier lernt Katte Friedrich kennen. Viele hundert Seiten dauert es also, bis die Geschichte richtig beginnt, die der Leser in groben Zügen kennt.
Aber damit diese Geschichte richtig wirken kann, ist diese Lebensschilderung wichtig. Denn hier entwickelt Roes das seelische Drama der Zeit. Die Unfähigkeit der Väter, ihre Söhne zu lieben. Die Brutalität der gewaltsamen Erziehung. Die Rigorosität des moralischen Pietismus. Die Verachtung von Literatur, Kunst und Musik durch die lustfeindliche Selbstkasteiung der im moralischen Korsett eingezwängte Erzieher und Offiziere. Erst wenn der Leser das alles an Kattes Beispiel schon einmal durchgelitten hat, zieht ihm die ungeheure Sprachlosigkeit und Brutalität des Soldatenkönigs seinem Sohn, dem Kronprinzen Friedrich, gegenüber, endgültig den Boden unter den Füßen weg.
„Zeithain“ heißt das Buch, weil hier ein gemeinsames Heerlager der Armeen des preußischen Soldatenkönigs und des Sachsens August des Starken war. Katte und Friedrich waren auch dabei. Und hier wird Friedrich von seinem Vater vor den Augen beider Höfe verprügelt und gedemütigt. Hier beginnt Friedrichs Entschluss zu reifen, vor seinem Vater davonlaufen zu wollen. Hier beginnt Kattes Gewissenskonflikt, der sich zwischen der Freundschaft zum Kronprinzen und der Loyalität zu seinem König entscheiden muss.
Michael Roes entführt den Leser in diese Welt des 18. Jahrhunderts, ohne die Gegenwart wirklich zu verlassen. Die Geschichte ist erstaunlich gegenwärtig. Themen wie Homosexualität, Freiheit, Selbstbestimmung sind immer zu spüren. Aber keines drängt sich so in den Vordergrund, dass es den gewaltigen Text dominieren würde. Was wirklich dominiert ist die literarische Meisterschaft des Autors, die den Leser, intellektuell und emotional gefangen nimmt.