Sie kann es nicht mehr lassen. Zwar ist Lynn Sherr Zeit ihres Lebens auch geschwommen, doch seit sie als Frau von fast 70 Jahren damit begonnen hat, sich auf eine Durchquerung des Hellespont vorzubereiten, ist das Schwimmen für sie immer wichtiger geworden. In ihrem siebten Lebensjahrzehnt hat sie daran gearbeitet, ihren Stil zu verbessern. Sie ist auf spezielle Trainigscamps gegangen, um bei großen Schwimmtrainern mehr über sich, über das Wasser und das Schwimmen zu erfahren. Und sie hat das alles in einer Kulturgeschichte des Schwimmens zwischen zwei Buchdeckeln zusammengefasst. Entstanden ist dabei ein Buch, das nicht nur Erstaunliches über das Schwimmen erzählt, sondern vor allem Lust darauf macht, ins Wasser zu springen und loszuschwimmen.
„Swim“ ist ein Buch mit einer persönlichen Rahmenhandlung. Lynn Sherrs eigener – geglückter – Versuch es der antiken Sagengestalt Leander gleich zu tun und den Hellespont zu durchschwimmen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Kapitel. Diese kleine Reportage über ihre Selbstwahrnehmung, über das Gewusel beim Start durch die Meerenge zwischen Europa und Asien, über die Gedanken und Gefühle bei Schwimmen entlang der Strömungen, ist allein schon lesenswert. Immerhin wird einmal im Jahr für 90 Minuten der Schiffsverkehr bei Canakkale angehalten, damit das Freiwasser-Schwimmspektakel überhaupt stattfinden kann. Wer sich nicht an die Vorgaben der Betreuer hält und statt der gut 1,5 Kliometer eine Strecke von 6,5 Kilometer auf den richtigen Strömungen schwimmt, hat keine Chance anzukommen. Wenn man bedenkt, dass der Großteil diese Distanz in gut 45 Minuten schwimmt, kann sich vorstellen, welche Kraft diese Strömungen haben.
Überhaupt lässt Lynn Sherr, eine ehemalige Journalistin von ABC-News in den USA, viele Schwimmer zu Wort kommen. Die wichtigste Frage, die sie alle für sich entschieden haben, ist die: Lieber im Becken schwimmen oder in Flüssen, Seen oder dem Meer? Der Großteil hat sich für das Freiwasserschwimmen entschieden. Vielleicht auch, weil die Autorin es selbst für sich entdeckt hat?
Auf jeden Fall war das der Beginn des Schwimmens. Sherr hat sich auf die Suche nach Fundstellen des Schwimmens in den Archiven der Welt gemacht. Und so erzählt sie von Präsident Jefferson, der ein leidenschaftlicher Schwimmer war. Oder von Präsident Adams, der bei einem morgendlichen Schwimmausflug in ein Gewitter geriet und sechs Stunden nackt am Ufer ausharren musste, bis er mit der Kutsche abgeholt wurde. Sie erzählt von den ersten Kanalschwimmern, von der Entwicklung der Bademoden und der Begeisterung der Massen für die ehemaligen Schwimmerinnen und Schwimmer, die im Kino nach der aktiven Zeit Karriere machten. All das – und noch sehr viel mehr – erzählt sie in einem angenehmen Plauderton. Der ist nie Besserwisserisch. Viel mehr zeugt er von der Freude, das Gelesene mit den Lesern zu teilen. Und so werden auch die Ausflüge in die Sport- und die Textilwissenschaft nicht von kaum verstehbaren Expertensprech verstellt, sondern gut für den Leser übersetzt.
Wer das Buch liest und schon immer gern geschwommen ist, den juckt es bei jeder Seite an den verkümmerten Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Und – so glaube ich – wer bisher noch keine große Lust auf das Eintauchen ins Wasser hat, der muss genau die bekommen.
Mehr vom Schwimmen:
Mein Sprungturm
Schwimmen im Salzwasser der Adria
Gefahr beim Schwimmen im SeeHauptsache rüberschwimmen
Schwimmen ohne Wand und Wende
Wassererzählungen: John von Düffel schwimmt wieder
Leanne Shampton meditiert über das Bahnen-Ziehen
Anbaden 2012
Lynn Sherr feiert das Schwimmen in einer persönlichen Kulturgeschichte