Rotfront und Bestuhlung, das ist ungefähr so wie Eisern Union im Maßanzug. Im Festsaal Neukölln stehen Stühle. Und Rotfront ist angekündigt. Normalerweise heizt die Band mit dem ersten, spätestens dem zweiten Song so sehr ein, dass der ganze Saal in Bewegung, ja in Wallung kommt. Und spätestens nachdem vierten Lied der Schweiß fließt. Aber hier in Neukölln stehen Stühle, soll man sich setzen, um Rotfront zu hören.
So ganz geheuer ist es der Band damit auch nicht. Aber heute Abend sind die Mannen und Frauen um Yuriy Gurzhy erst einmal nur Begleitcombo für Wladimir Kaminer. Der liest aus seinen Büchern und aus unveröffentlichten Kurzgeschichten. Rotfront geht dabei den Weg der Begleitung und je länger der Abend dauert der Ergänzung, bis am Ende die Band das Geschehen bestimmt – nicht nur als musikalischer Anheizer zu einem Burleskque-Tanz, bei dem am Ende nur das Wenigste der sich entkleidenden Dame noch bedeckt ist. Spätestens bei diesem Text über erotische Trinkgelage vermischen sich die Kunstformen, wird die Literatur mit der Musik zu Klang und der rhythmische Klang, das versartige Wort zu Bewegung und alles zusammen zu einem Fest, bei dem der Zuschauer am liebsten mitfeiern würde. Aber er sitzt ja auf Stühlen, kann die Beine nur ungelenk und absurd abgewinkelt bewegen.
Ja, er darf tatsächlich nur beobachten, was da auf der Bühne passiert. Und reflektieren, ob das alles zusammenpasst oder nicht. Kaminers Texte über sein Gartengrundstück im Barnim, über die Nachbarschaft in Ostdeutschland, die sich gern mit einigen Brocken Russisch einführt, über die Pubertät von Tochter und Sohn sind wunderbar nah am Leben. Sie sind fein beobachtet, voller Humor und doch nie abfällig. Selbst wenn der Saal gemeinsam über die beschriebenen Menschen lacht, ertönt keine Schadenfreude, sondern verwundertes Staunen, erfreutes Erkennen und amüsiertes Ertappt-sein. Zusammen mit der Musik von Rotfront entsteht so eine ganz besondere Russendisko. Eine, die eher an einen literarisch-musikalischen Salon erinnert, in dem am Ende eigentlich Tische und Stühle beiseite geräumt werden müssten, um gemeinsam zu trinken und zu feiern. Dass das Konzept so gut aufgeht, hat selbst Wladimir Kaminer und Yuri Guhrzy verblüfft.
So sehr, dass die Band die verlangten Zugaben freudig erregt spielte und am Ende nicht mehr so recht wusste, was man noch spielen könnte. Aber zum Glück waren da ja Tische und Stühle. Obwohl alle standen und klatschten, war die Wirkung der Begeisterung nicht so überwältigend wie im völlig überfüllten Café Burger. Und so konnte der Abend doch noch geordnet zu Ende gehen. Ohne große Party, aber voller großer, absurder und verrückter Eindrücke.
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