SPD-Pressedienst feiert Mehrings Neues Ketzer-Brevier

,SPD-Pressedienst
P/XVII/201
20. November 1962

Walter Mehrings “Neues Ketzer-Brevier”

Man liest sich durch diesen satirischen Balladen- und Chanson-Band ohne aufzuhören, so frech und couragiert, so brillant in der Form wird hier gestritten, gefrotzelt, gespottet, verhöhnt und aufgetrumpft. Aber auch sehr zarte Verse stehen darin, die in jeder lyrischen Andachtsstunde ankommen würden. Walter Mehring ist ein sehr vielseitiges, ein typisches Kabarett-Talent – kein Wunder, dass sich Kurt Tucholsky für diesen politischen Dichter so begeistern konnte.

Der ganze Text auf walter-mehring.info…

 

Max Herrmann-Neiße stellt Kabarettdichter und Kabarettkomponisten vor

Die Textlieferanten der ersten Überbrettlära in Deutschland waren (wie gesagt) lyrische Limonadenfabrikanten wie Ernst von Wolzogen, Bierbaum, platte Bonmotdrechsler und Bonhomiesatiriker wie Pserhofer, Rideamus. Traten im Rahmen dieser Kabaretts wirkliche Dichter auf, so war das eine ganz unorganische Erscheinung, ihrer Art nach hatten diese Poeten (Hille, Liliencron, die Lasker-Schüler) nichts mit den besondren Anforderungen eines Kabaretts zu tun, sie schrieben nicht fürs Kabarett und sie schrieben auch nicht so, daß ihre Werke irgendeine Möglichkeit gehabt hätten, vom Kabarett aus zu wirken. Von wirklichen Künstlern gemachtes Kabarett, das eine Welt für sich darstellte, war eben erst das der »Elf Scharfrichter«, mit den Dichtern Wedekind, Lautensack, Greiner, Ludwig Scharf, Gumppenberg. Dann gab es in den drei, vier Jahren, die dem Weltkrieg vorausgingen, eine Dichtung, die zwar nicht direkt fürs Kabarett gemacht war, aber ihrer Struktur nach einem wirklich künstlerischen und selbständigen Kabarett sehr geeignetes Material geboten hätte – ein Material, das erst jetzt ein paar belangvolle Kabaretts zu benützen anfangen. Die impressionistisch-naturalistische Literaturepoche hatte es in ihrem Ausgang zur grotesken Dichtung gezogen. Nachdem die höchste Reife des formalen Niveaus erreicht war, konnte man akrobatische Wagestücke und verblüffende Fingerfertigkeiten vorführen. Man hatte alles ausgekostet, alle Illusionen verloren, nun wurde man zuletzt artistischer Illusionist. Oder man hielt Berlins Großstadtsensationen in grotesk frisierter Verklärung lyrisch fest, dämonisierte die Vergnügungsmöglichkeiten, die Deutschlands Hauptstadt damals den Kapitalkräftigen bot. Die Reihe der Dichterexzentriks war groß und mannigfaltig, Scheerbart, Meyrink, Mynona waren ebenso darin wie Hardekopf, van Hoddis, Lichtenstein, Ernst Blass, Hugo Kersten und das Autorenterzett der Kriminalsonette (Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr, Livingstone Hahn). In der Öffentlichkeit dominierte gleichzeitig das durchschnittliche Vorkriegskabarett, das hauptsächlich von einer unreellen, kitschigen Nobelpikanterie zehrte, deren Personen der elegante Herr und sein Verhältnis waren, und die Erotisches mit einem schmalzigen, aber durchaus eindeutigen Schmus servierten. Dafür waren die gefragten Autoren beispielmäßig Eddy Beuth, Ralph Benatzky (Die kleine Pagode, Piefke in Paris, Die Marquise von Laualliere), die Lieblingskomponisten Rudolf Nelson, Bogumil Zepler, Bela Laszky, Harry Waldau, Nicklaß-Kempner, Rebner, Ehrlich, eine Reihe, die heut noch tätig und wirksam ist, da ja dieses Amüsiergenre immer bleibt, und sich fortsetzt in Autoren wie Wilczynski und Komponisten wie Stransky. Während des Kriegs lebte das Durchschnittskabarett natürlich von billiger Verunglimpfung der »Feinde«, gewürzt durch galante Tanzeinlagen. Nachher benötigte man eine revolutionäre Walze. »Soziales« dem Schieberpublikum der Neppetablissements mundgerecht aufzutischen, siedelte man es ausschließlich in der Sexualsphäre an. Man verabreicht Sektgästen kein Dynamit, sondern verhilft ihnen, wenn’s hochkommt, zum angenehmen sadistischen Kitzel, oft gar nur zur witzlosen Stammtischschweinerei, die durch den Gassendialekt Ursprünglichkeit vortäuscht.

Der ganze Text steht im Walter-Mehring-Blog…

Siegfried Jacobsohn freut sich über einen Brief Mehrings aus Paris

Kampen auf Sylt, am 23. Juni 1921

Dorbacke [?] erster Ordnung, heute kommt ein jauchzender Brief von Mehring aus Paris, der nach seiner Rückkehr, wie seine Mutti sagen würde, ein unerschöpfliches Füllhorn von ungeahnten Eindrücken über mich und mein geduldiges Blatt ausschütten wird. Und Du Eselsbrägen sitzt in solchem „Speisesaal“ auf Deinem Bierarm und kneifst Gussyn ebendorthin, weil Du in Paris nur als feiner Willem auftreten kannst. Jau, me schießt! Na, komm Du mir man bei Muttern! Ohne Gruß der Herausgeber.

Der ganze Brief steht im Walter-Mehring-Blog…

Kurt Tucholsky lobt Mehrings frühe Gedichte

DAS NEUE LIED

Wir sind kein liedersingendes Volk, und aus dem schauerlichen Gemisch von gestorbenen Wandervogelliedern und künstlich gemachten Operettenschlagern ragt nichts hervor, was dieses Volkes Seele erfüllte. Wenn dem Deutschen so recht wohl ums Herz ist, dann singt er nicht. Dann spielt er Skat.

Eine ganze Industrie befaßt sich mit der Herstellung von Amüsierungs-Erzeugnissen – aber wie tot ist das alles!

Der ganze Brief steht unter walter-mehring.info:

 

Kurt Tucholsky sieht 1919 in Walter Mehring eine literarische Hoffnung

Die Ansicht der Deutschen, daß es keine <Kunst> sei, ein Couplet zu schreiben, hat diese Liedgattung hierzulande so niedrig sein lassen, wie sie eben ist. Ein Couplet … das ist eine mehr oder minder roh zusammengehauene Sache, ein Sammelsurium faulster Witze, ein grobes Gedicht – zum Schluß mit dem unvermeidlichen Refrain, der möglichst zweideutig und möglichst unsinnig zu sein hat, damit er zieht. Ist das ein Couplet? Es könnte anders sein.

Die Begabung, ein gutes Couplet zu schreiben, ist vereinzelt, und eine Angelegenheit, die nur wenig mit sonstigen Begabungen zu tun hat. Sicher ist, daß ein sonst untadliger Literat, ein Verskünstler, ein Humorist nicht durchaus brauchbare Couplets zu liefern braucht.

Der ganze Tucholsky-Text steht unter walter-mehring.info: 

Peter Panter schreibt Mehring in der Weltbühne einen Brief

“Das war, als Walter Mehring zum fünfundzwanzigstenmal nach Paris kam, und der dortige Herr Polizeipräsident sann grade nach, ob man den Mann zur Ehrenlegion oder zur Fremdenlegion vorschlagen sollte … da schrieben wir uns ›kleine Blaue‹ (sprich: ptieh blöhs). Das sind diese winzigen Rohrpostbriefe, die sich die Pariser deshalb schreiben, weil sie ein Telefon haben, aber sonst vernünftige Leute sind, es also nicht benutzen. Denn das pariser Telefon … (bricht in Schluchzen aus; wird mit Brom gelabt, will kein Brom, bekommt Whisky, atmet auf und fährt fort):

Fortsetzung auf walter-mehring.info:

Heimat (12) – Berlin

Bergmannstraße 16; Berlin Kreuzberg
Bergmannstraße 16; Berlin Kreuzberg

Berlin, München oder Hamburg? Welche dieser Städte könnte es einmal sein? Dass es Hammelburg auf Dauer kaum sein kann, war schon bald klar. Für München sprachen die vielen Besuche als Kind beim Großvater. Für Hamburg eigentlich nichts – außer eventueller Jobaussichten. Und für Berlin? Da war vor allem ein Gefühl – und die Herkunft des anderen Großvaters.

Etwa hier in der Bergmannstraße. In der Nummer 16 wurde er geboren. Und seltsam vertraut war mir diese Gegend schon beim ersten Besuch. Immer wieder zieht es mich dorthin, so als gäbe es noch heute einen Bezug zu diesem Gemäuer und den Straßen Kreuzbergs, der tiefer geht. Die Großeltern sind schon 1936 aus Berlin weggezogen. Und sie haben die Stadt nach dem Krieg nicht nehr besucht. Eine enge Bindung sieht anders aus.

Bergmannstraße 16; Berlin Kreuzberg
Bergmannstraße 16; Berlin Kreuzberg – heute mit Weinladen

Vor zehn Jahren hatte ich meinen ersten Arbeitstag in Berlin. Von Anfang fühlte ich mich, als sei ich angekommen. Weder sprachlich noch kulinarisch passe ich eigentlich hier her. Aber gegen das Gefühl, am richtigen Ort zu sein, sind diese Kleinigkeiten nichts. Vielleicht hängt es auch mit all den Autoren der 20er-Jahre zusammen, die mich schon immer beschäftigen. Mit den Mehring, Tucholsky, Herrmann-Neisse, mit dem Umfeld von Weltbühne und Tage-Buch, die ohne Berlin nicht zu denken wären. Vor zehn Jahren konnte ich beginnen, diese Stadt besser kennenzulernen. Damit fertig bin ich noch lange nicht. Aber mit Heimat wird man ja nie fertig. Sie treibt einen immer weiter. Und meldet sich in Momenten, in denen man nicht mit ihnen rechnet.

Mehr Heimat:
(1) Mein Sprungturm
(2) Stänglich vom Schwab
(3) Leberkäsweck
(4) Bilder aus Hammelburg
(5) Schlesisch Blau in Kreuzberg
(6) Danke Biermösl Blosn!
(7) Weinlaub und Weintrauben
(8) Laufwege in Buchenwäldern
(9) Fränkische Wirtschaft
(10) Bamberger Bratwörscht am Maibachufer
(11) Weißer Glühwein
(12) Berlin
(13) Geburtstage bei Freunden aus dem Heimatort
(14) Gemüse aus dem eigenen Garten
(15) Glockenläuten in der Kleinstadt
(16) Italienische Klänge
(17) Erstaunliches Wiedersehen nach 20 Jahren
(18) Federweißen aus Hammelburg
(19) Wo die Polizei einem vertraut
(20) Erinnerungen in Aschaffenburg
(21) Nürnberg gegen Union Berlin
(22) Der DDR-Polizeiruf 110 „Draußen am See“

Fundstück im Antiquariat (3): Kostbarkeit bei Alfred Polgar

Alfred Polgar: Schwarz auf Weiss
Alfred Polgar: Schwarz auf Weiss

„Polgars neuer Auswahlband ›Schwarz auf Weiß‹ (bei unserm gemeinsamen Verleger Ernst Rowohlt erschienen) enthält Kostbarkeiten über Kostbarkeiten. Und ist gut geschrieben.“ Das hat Kurt Tucholsky über meinen heutigen Fund im Antiquariat geschrieben: Alfred Polgars „Schwarz auf Weiß“. Dass ein kleiner Artikel in diesem Buch für mich eine weitere Kostbarkeit sein würde, konnte Tucholsky nicht wissen. Aber mich hat es sehr gefreut, beim Durchblättern der tadellosen Erstausgabe auf diesen Artikel zu stoßen. Zwar hat es der einstige Besitzer des Bandes nicht für nötig erachtet, uns mitzuteilen, in welchem Blatt der Text erschien.

Dafür hat das Blatt im Buch selbst seine Spuren hinterlassen: Akkurat wie der Artikel gefaltet ist, hat es sich auf die Seiten eingeprägt. Das leicht farbige Zeitungspapier hat sich auf das Buchpapier übertragen – und das auf insgesamt sechs Seiten. Das wirkt wie Buchkunst. Und ist deshalb eine ganz besondere Kostbarkeit im Band mit „Kostbarkeiten über Kostbarkeiten“.

Weitere Fundstücke im Antiquariat:
Walter Mehrings Autograph
Ludwig Börnes Verhaftung
Kostbarkeiten bei Alfred Polgar
Ein Theaterzettel von 1931
Die Verlustanzeige von Karl Frucht
Andreas Oppermann erinnert 1860 an Palermo

Erneut gelesen: Walter Mehrings Exilerinnerungen

Walter Mehring: Wir müssen weiter
Walter Mehring: Wir müssen weiter

Das eigentliche Manuskript umfasste 800 Seiten. Doch Walter Mehring hat sein Spätwerk verloren. Irgendwo zwischen Zürich und München ist der Koffer verschwunden. Die „Topographie der Hölle – Reportagen der Unter-Weltstädte“ konnte nicht mehr erscheinen. Lediglich das erweiterte Inhaltsverzeichnis und einige Textfragmente haben überdauert. Aus diesen hat Christoph Buchwald, der Herausgeber der Werkausgabe, noch zu Lebzeiten mit Walter Mehring diesen Band „Wir müssen weiter – Fragmente aus dem Exil“ geformt.

Es besteht aus gut 100 Seiten Prosastücken und 50 Seiten oder 1001 Versen der „12 Briefe aus der Mitternacht“, einem Gedichtzyklus, der zwischen 1938 und 1941 entstanden ist. Die Prosa sind die Fragmente des eigentlich viel größeren Buches. Jede Zeile dieser Erinnerungen verdichtet die Erfahrungen des Exils zu einer Erfahrungs- und Gedankenwelt, bei der jedes wichtige Wort mehr als nur eine Bedeutung trägt. Dieses Komprimieren der Erfahrungen und Erinnerungen ist trotz der knappen Form oftmals aussagekräftiger als Dutzende Seiten anderer Autoren. Es gibt Passagen, in denen Mehring mit viel Glück und Dusel durch Grenzkontrollen kommt, Inhaftierungslagern entkommt und Verhaftungen zuvorkommt. Verrückt daran ist, dass diese Begebenheiten verbürgt sind.

Mehring erinnert da an Grimmelshausens Simplizissimus. Nur sind die Erlebnisse alles andere als lustig. Vor allem wenn man sich einmal vorstellt, wie wir heute mit Flüchtlingen, Asylbewerbern und Staatenlosen umgehen. Mehring lässt mich nicht los. Sowohl das Leben wie auch die Bücher sind unglaublich. Vor gut 25 Jahren habe ich den Band das erste Mal gelesen. Und danach noch einige Male. Ich werde es auch wieder tun. Da bin ich sicher. Das gilt nicht nur für die Prosa, sondern auch die „12 Briefe aus der Mitternacht“, die in der strengen Form zum eindringlichsten und besten zählen, was im Exil über die Situation in kleinen Hotels und den Tod der Freunde – in diesem Fall Ernst Toller, Erich Mühsam, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Joseph Roth, Ödon von Horvath, Ernst Weiß, Theodor Lessing, Walter Hasenclever, Carl Olden – geschrieben wurde.

Mehr über Walter Mehring gibt es im Walter Mehring Blog