Die Frage haben sich in den vergangenen drei Jahren viele Freunde Polens gestellt: „Was ist mit den Polen los?“ Marta Kijowska stellt sie sich auch und versucht sie für sich und uns zu beantworten. Gut 100 Jahre nach der staatlichen Neugründung 1918 macht sich die Autorin, Übersetzerin und Journalistin auf einen aufschlussreichen Weg durch die jüngere Geistes- und Kulturgeschichte des wichtigsten östlichen Nachbarn Deutschlands. Dabei spielt die PiS, die aktuell regierende nationalkonservative bis nationalistische Partei zwar ein wichtige, aber nicht dominierende Rolle in Kijowskas „Porträt einer widersprüchlichen Nation“ – so der Untertitel.
Jetzt sind es genau 15 Jahre, die Polen Teil der Europäischen Union ist. Der Beitritt hat für viele Polen nach wie vor eine enorme Bedeutung. Das betrifft nicht nur den wirtschaftlichen Aufschwung, auf den das Land inzwischen zurückblicken kann. Es geht auch um die Verortung in Europa, im Westen und nicht mehr im Einflussbereich des russischen Imperiums. Wobei den derzeit regierenden in Warschau trotz aller Zugehörigkeit zum Westen die Eigenständigkeit extrem wichtig ist. Marta Kijowska macht sich in ihrem Buch auf die Suche nach dem Selbstverständnis einer Nation, deren aktueller Nationalismus nicht nur ihr geradezu peinlich ist.
Neben den 100 Jahren, die Polen wieder ein eigenständiger Nationalstaat ist, prägen die vorherigen 123 Jahre als geteilte und fremdbestimmte Nation das Land noch immer. Das daraus resultierende Gefühl, Opfer fremder Mächte – vor allem Russlands und Preußens/Deutschlands zu sein, ist für Kijowska der Schlüssel zum Verständnis unseres östlichen Nachbarn. Denn Opfer wurde das Land vor 80 Jahren erneut, als sich das Deutsche Reich und die Sowjetunion auf die erneute Aufteilung Polens einigten – und nach dem Krieg die Westverschiebung den Verlust Ostpolens inklusive Lembergs über ihre Köpfe hinweg beschlossen wurde.
Vor allem mit ihrem enormen Wissen über die polnische Literatur- und Geistesgeschichte glänzt die Autorin. Damit arbeitet sie die Traditionsstränge heraus, die zwischen Katholizismus, Nationalismus, Liberalismus und Weltoffenheit changieren. Kijowska macht keinen Hehl daraus, dass ihr Jarosław Kaczyński und seine PiS eher peinlich sind. Aber sie erklärt, wie schon in der Zeit des großen Erfolgs der Solidarnosz die Konflikte angelegt waren, die das Land heute noch spalten. Sie macht für uns auch nachvollziehbar, warum Polen nicht ernsthaft auf die Idee kommt, die EU verlassen zu wollen, aber darauf pocht, so viel Eigenständigkeit wie irgend möglich zu bewahren. Wenn überhaupt, dann lässt sich an dem Buch eigentlich nur kritisieren, dass Marta Kijowska etwas zu viel in der Geistesgeschichte verharrt. Ein stärkerer Blick auf die Erfahrungen, die durch die Abwanderung von gut zwei Millionen Polen seit dem EU-Beitritt bei den ausgewanderten und den daheim gebliebenen Polen zu beobachten sind, hätte den Band auch noch gut getan.