Lange bevor die Republik geschockt auf die Wahlerfolge der AfD geschaut hat, suchten junge Ostdeutsche nach ihrer Identität. „3. Generation Ost“ nannten sie sich. Sie wollten verstehen, was sie von ihren gleichaltrigen Westdeutschen unterscheidet. Ohne die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie funktioniert das nicht. Umso besser, dass Christian Bangel jetzt einen tragisch-witzigen Roman geschrieben hat, der seine eigene Biografie als Material genau in diesem Sinne nutzt. Und dennoch sehr viel Spaß macht.
Christian Bangel ist 1979 in Frankfurt (Oder) geboren. Die prägenden Jahre seines Erwachsenwerdens sind von einer enormen Freiheit geprägt. Aber auch von den Ängsten der Eltern vor Arbeitslosigkeit, seinen eigenen Ängsten von der Gewalt der Neonazis und der Ungewissheit, was aus der eigenen Heimatstadt wohl werden wird. das einzig Gewisse war die Ungewissheit. Starke Menschen nutzen das, indem sie ihren Freiraum aktiv nutzen. Andere suchen Halt bei neuen Autoritäten.
Bangels Roman spielt 1998 in Frankfurt (Oder). Hier verprügeln Neonazis Linke., Hausbesetzer und Punks. Kreative rufen zu Demonstrationen für besseres Wetter auf, bis sie in den OB-Wahlkampf münden. Freier – der Ich-Erzähler, der so einiges mit dem Autor teilt – ist 20 Jahre alt, schreibt für ein Stadtmagazin und verfasst in der Agentur seines Freundes Fliege Newsletter und andere Gebrauchstexte. Fliege war Hausbesetzer, ist Punk und Gründer der Werbeagentur. Vor allem aber ist er in Gedanken immer mindestens einen Schritt weiter als alle anderen um ihn herum. All das ist der Stoff für den witzigen und trotzigen Roman: „Oder Florida“.
Das Besondere daran ist, dass all das tatsächlich Teil der Frankfurter Wirklichkeit war. Insofern ist „Oder Florida“ vor allem in der ersten Hälfte des Buches ein Schlüsselroman. Bangel arbeitet heute für „Zeit-Online“. Er war Teil der Szene rund um die KuFa, die Kulturfabrik. Er arbeitete in der Agentur „ressourcenmangel“, die ursprünglich aus Frankfurt (Oder) stammt und in den Nuller-Jahren in Berlin sehr erfolgreich wurde. Einer der Gründer ist noch heute mit ihr erfolgreich und steht kurz davor Präsident des Gesamtverbandes Kommunikationsagenturen GWA zu werden. Früher war er Hausbesetzer und hatte einen Irokesen-Schnitt.
Aber der Roman ist kein Geschichtsbuch. Christian Bangel komprimiert das Erlebte, um das Besondere der damaligen Zeit zu extrahieren. Dabei bereitet er sehr viel Vergnügen. All jene, die zwischen 1997 und 2002 in Frankfurt (Oder) lebten werden viel erkennen. Sie werden sich über Verzerrungen freuen. Sie können in einzelnen Personen drei bis vier reale Menschen entziffern. Und sie reiben sich vielleicht die Augen, weil sie die jüngste Geschichte ihrer Stadt noch nie aus dieser Perspektive gesehen haben. Wer weiß schon, dass es wirklich den Plan gab, den SPD-Ortsverein durch Masseneintritt zu unterwandern?
Aber Bangel geht es um mehr, als um die Aufarbeitung der jüngsten Geschichte Frankfurts. Ihm geht es um die Gefühlslage seines Ich-Erzählers Fliege. Mit ihm sollen sich die Leser identifizieren. Flieges Gefühlslage ist ein Spiegel der Situation, die viele Menschen im Frankfurt (Oder) des ersten Jahrzehnts nach dem Fall der Mauer fühlten. Der Ich-Erzähler, sein Agentur-Kumpel-Chef, seine Freundin Nadja und viele andere nutzen die neuen Freiheiten sehr kreativ. Aber die fehlende Ordnung hat eben auch Schattenseiten: Die Plage der prügelnden Neonazis, die Arbeitslosigkeit, die fehlende Perspektive für die Heimatstadt.
„Was waren das für Zeiten gewesen. Wie Fliege und ich zusammen in der Agentur die 0335 entwickelt hatten. Unser eigenes Stadtmagazin, vierfarbig, Auflage zwanzigtausend. Nachts mit dem Taxi nach Hause, und bei Hunger einfach was bestellen. Und dafür gab es jeden Monat auch noch tausend Mark plus Miete vom Bundesamt für den Zivildienst. Das hatte Fliege genial gedeichselt.“
Aber all das endet in dem Moment, in dem Fliege Frankfurt (Oder) hinter sich lässt, um im Westen anzukommen. Arbeiten für ein Ziel. Geld verdienen, um des Erfolgs willen. Sich in einem Zoofachgeschäft in Hamburg erniedrigen lassen, weil das angeblich dazu gehört, um erfolgreich werden zu können. Fliege macht im zweiten Teil des Romans das, was hunderttausende Ostdeutsche gemacht haben: Im Westen arbeiten, in den Osten pendeln und dabei versuchen, sich selbst nicht aufzugeben.
Bei Bangel gibt es die unsichere Freiheit im Osten und die sichere Entfremdung in Westen. Eine sichere Heimat gibt es aber nicht. Genau das ist das eigentliche Thema von „Oder Florida“. Und das macht diesen Roman zu einem sehr exemplarischen für die „3. Generation Ost“. Dabei geht Bangel, der sich genauso wie seine Figur Flieder vor Neonazis fürchtete, so weit, auch ihnen ein sehr menschliches Gesicht zu geben. Denn auch die sind Kinder von Eltern, die ihre Heimat verloren haben.
All das ist tragisch. Es ist aber auch komisch. Denn Bangel kann schreiben. Er verliert seine Erzählstränge nicht. Im Gegenteil, einige lösen sich höchst überraschend so auf, dass der Ich-Erzähler zu ganz neuen Erkenntnissen kommt. Den Leser nimmt er dabei immer als solidarischen und moralischen Unterstützer mit. Und verhilft diesem mit der Lektüre dieses amüsanten Bildungsromans auch zu einem besseren Verständnis all dessen, was die Wiedervereinigung eben auch war. Und was heute noch wirkt, wenn Heimatverlorene „ihr Land zurück haben wollen“. Wobei Bangel natürlich dieses Land nicht wieder will. Aber der Auseinandersetzung mit all dem, was der Osten war und nach wie vor ist, entzieht er sich nicht.
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