Türkische Schüler pauken fürs Zentralabi

Prüfungsstress gehört in der Türkei zum Schulalltag. Vor allem die zentralen Prüfungen an Ende der achtklassigen Grundschule, der Mittelstufe und beim Abitur setzen Schüler und Eltern so unter Druck, dass Nachhilfe an Privatschulen normal ist. Experten schätzen, dass Eltern dafür mehr als 30 Milliarden Euro im Jahr ausgeben.

Das Kabatas-Erkek-Lisesi in Istanbul liegt direkt am Bosporus. Der Blick richtet sich auf das asiatische Ufer. Frachter und Yachten passieren die staatliche Eliteschule. Hier werden nur Kinder unterrichtet, die bei der Abschlussprüfung der achten Klasse zu den Punktbesten der ganzen Türkei gehören. Zwar stammen die meisten Schüler aus Istanbul selbst. Doch hier in Besiktas gibt es auch ein Internat, das Kinder bis aus Trabzon aufnimmt.

Die Schüler am Kabatas-Gymnasium sind so gut, dass von 180 Absolventen im vergangenen Jahr 56 sogar einen Medizin-Studienplatz bekamen. Den ergattern in der Türkei nur die Allerbesten. Beim gesamttürkischen Zentralabitur müssen die Schüler fast alle Punkte erreichen, um in den Genuss zu kommen, Arzt werden zu dürfen. Das ist für sie eine große Qual – und eine große Belastung.

Denn de facto besuchen auch die meisten Schüler des Istanbuler Elite-Gymnasiums nicht nur dieses. „Dersane“ heißt das Wort, das türkische Eltern und Schüler fürchten. Dersane nennen sich private Nachhilfeschulen, die auf die zentralen Prüfungen vorbereiten. Im Istanbuler Cagaloglu-Lisesi, einer Eliteschule schräg gegenüber der Blauen Moschee, führt das dazu, dass in den Abschlussklassen fast alle Schüler krankgeschrieben sind. Sie gehen auf die Dersane und schenken sich wie landesweit ganz viele Schüler auch den eigentlichen Unterricht. Denn Eltern und Schüler sind davon überzeugt, dass die Nachhilfe aufs Abitur besser vorbereitet als der eigentliche Unterricht.

Im April sind jedoch viele Schüler des Cagaloglu-Lisesi zusammen mit Hunderten anderer Schulen in den Streik getreten. Auf Demonstrationen machten sie sich Luft, weil herauskam, dass die Schüler einer ganz bestimmten Dersane-Gruppe das Schema zur Beantwortung der zentralen Prüfungen kannten. Sie lösten selbst schwierigste Fragen, indem sie sich das Muster der Multiple-Choice-Antworten merkten. Offensichtlich hatte sich der Nachhilfekonzern die Muster im Bildungsministerium in Ankara organisiert.

Für die Türkei sind die zentralen Prüfungen eigentlich als Mittel im Kampf gegen die Korruption eingeführt worden. Und um auch den Schülern im unterentwickelten Osten des Landes die Chance einzuräumen, auf eine gute Schule oder eine gute Uni zu kommen. Die Vorstellung, dass gleiche Lehrpläne für alle Schüler am Ende mit zentralen und damit gerechten Prüfungen zu einem guten Ende der Schullaufbahn führen, hat sich aber nicht bewahrheitet.

Wer in der Türkei Eltern nach der Schule fragt, erntet traurige Blicke. „Wenn für meinen Sohn um 16 Uhr die Schule zu Ende ist, steigt er in den Bus und fährt eine Dreiviertelstunde, um auf die Dersane zu gehen“, schildert ein Vater in Ankara. Da bleibt er dann bis 20 Uhr. Anschließend sind dann noch die Hausaufgaben angesagt. Der Vater: „Er tut mir leid. Aber es geht ja nicht anders. Ohne Dersane hat er keine Chance auf einen guten Abschluss.“

Dieser zusätzliche Unterricht ist sehr teuer. 500 Euro pro Monat für Nachhilfe sind normal. In den Prüfungsjahren kann das aber auch auf bis zu 3500 Euro ansteigen. Von diesen Zahlen berichten die Schüler des Cagaloglu-Lisesi. Diese Kosten fallen an, wenn es sich um Einzelunterricht handelt und die angeschlossenen Fahrdienste inklusive sind. Eine ganze Industrie lebt davon, dass die staatlichen Schulen nicht das Vertrauen genießen, die Schüler auf die Prüfungen richtig vorbereiten zu können. Cengiz Ertan, Lehrer am Kabatas-Lisesi meint: „Eigentlich ist es ja unsere Aufgabe, die Schüler für die Prüfungen fit zu machen. Doch es wird dem Schulsystem insgesamt nicht zugetraut.“

Diese Einschätzung hat auch mit den großen Unterschieden innerhalb des Landes zu tun. Im Westen, also in Istanbul oder Izmir, ist der Lebensstandard deutlich höher als in Städten wie Erzurum oder Batman im Osten. Mit dem Wohlstand steigt auch der Bildungsgrad. Die türkische Regierung will diese Ungleichheit auch durch das strenge landesweite Prüfungsverfahren ausgleichen. Doch im ärmeren Osten verschärft der teils objektive, vor allem aber subjektive Zwang zum Besuch der Dersane nach Schulschluss die Ungerechtigkeit noch. Denn hier 
fällt es den Eltern angesichts der niedrigeren Einkommen noch schwerer, das Geld dafür aufzubringen.

Das Özel-Bilkent-Lisesi ist eine Antwort auf dieses Problem. Özel Bilkent hat einen großen Teil seines Vermögens in eine Bildungsstiftung gesteckt. Neben einer Universität in Ankara gibt es in Erzurum ein Internat von ihm. Dieses Pilotprojekt soll auf andere Städte im Osten ausgedehnt werden. Im Gespräch sind Van und Batman. Zugangsvoraussetzung ist der zentrale landesweite Test. Hinzu kommt noch eine Aufnahmeprüfung. Wer es schafft, kann sich fast immer auf ein Stipendium freuen. Es sei denn, die Eltern verdienen zu gut.

Jeder Schüler erhält einen Laptop, die Klassen sind überschaubar und die Ausstattung ist auf dem allerneusten Stand. Ziel der Einrichtung ist es, eine Elite im Osten auszubilden, die dort nach dem Studium auch möglichst bleibt. Und die sich dem türkischen Staat verbunden fühlt, obwohl Türken in diesen Städten oft nur die Minderheit sind.

Dafür weicht das Schulkonzept auch von denen der staatlichen Schulen ab. Hier wird nicht nur auswendig gelernt, wie es an normalen Schulen angesichts der drohenden Multiple-Choice-Tests nötig ist. Am Özel-Bilkent hat Projektarbeit einen hohen Stellenwert. Neugier wird belohnt. Kreativität zu fördern ist Ziel der Schule. Staatliche Schulen opfern diesen Bildungsauftrag dem Pauken für die Zentralprüfungen.

MOZ-Beitrag…