Eine junge Frau wird Mutter. Das Baby bekommt darf sie nie sehen. Es sei bei der Geburt gestorben, sagt man ihr. Aber Ricarda glaubt das nicht. Seit der Nacht der Geburt im Uniklinikum Dresden glaubt sie fest daran, dass ihr Kind noch lebt. Nach der friedlichen Revolution hofft sie, die Wahrheit zu finden. Doch so einfach ist das nicht.
Der Dresdner Autor Frank Goldammer geht auf eine Spurensuche, die im Uniklinikum Dresden 1973 beginnt und erst in der Gegenwart endet. Gab es in der DDR Zwangsadoptionen und Kinderraub? Wie fühlt sich das für die betroffene Frau an? Wie reagiert die Umwelt? Welche Rolle spielt die Stasi? Und nach dem Fall der Mauer die Stasiunterlagenbehörde? Ein Stoff, der die Kenntnis der historischen Fakten genauso erfordert wie erzählerisches Geschick. Frank Goldammer hat beides. Schon mit seiner Reihe um den Dresdner Kommissar Max Heller, die im Dritten Reich beginnt, über die sowjetische Besatzung bis in die DDR reicht, hat er bewiesen, dass er die große Geschichte regional erzählen kann. Sein aktueller Roman schildert jetzt historische Kontinuitäten, die in der DDR ihren Anfang nehmen und bis in die Gegenwart der Bundesrepublik reichen.
Goldammer geht es auch diesmal nicht darum, Menschen zu verurteilen, sondern zu zeigen, wie die jeweiligen Lebensumstände die Wahrnehmung prägen. Ricarda hält es für möglich, dass ihr Kind geraubt wurde. Deshalb macht sie sich über Jahrzehnte immer wieder neu auf die Suche. Da sie dem Regime nicht vertraut, kann sie die Wahrheit auch nicht finden, weder in vielen Gesprächen, noch später in den Akten. Aber weil sie fragt, wird sie ins Abseits gestellt. Vom Staat und von ihrer eigenen Familie, die darüber zerbricht.
Die Geschichte spielt vor allem in Dresden. Aber Goldammer schildert auch wie sich die DDR-Elite im Berliner Umland einrichtet – konkret in Rüdersdorf. Oder wie in Königs Wusterhausen ein Kinderheim bei der Suche nach vermissten Kindern hilft. Gerade diese Blicke, die über Dresden hinausreichen, machen deutlich, dass der Stoff des Buches für die gesamte DDR relevant ist. Die Szene in Rüdersdorf ist zudem ein ganz dichtes psychologisches Bild aus den Tagen kurz vor und nach dem Mauerfall, in dem Starre, Zusammenbruch und Aufbruch in der Familie eines Parteibonzen zusammenfallen.
Goldammer hat einen Roman geschrieben, der viele Zutaten eines klassischen Krimis hat. Aber er bleibt nicht im Genre hängen. „Zwei fremde Leben“ ist ein packender historischer Roman, der nachvollziehbar macht, wie Diktatur funktioniert – und bis in die Gegenwart nachwirken kann.